„Lieben was es nicht gibt“ widmet sich dem Œuvre Ronald M. Schernikaus

Kein Naturalismus, sondern Vor-Schein

Von Ken Merten

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Helmut Peitsch und Helen Thein (Hg.)

Lieben was es nicht gibt

Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau

hrsg. von Helmut Peitsch und Helen Thein

Verbrecher Verlag 2017, 368 Seiten, 24 Euro

Drei bis fünf Jahre Berufserfahrung werden verlangt, wenn man für das Life-Magazin „Vice“ schreiben will, das sich von der subkulturellen Zeitschrift zum milliardenschweren Mainstream-Portal gemausert hat. Dann darf man mit wenig Rechercheaufwand und viel Hipster-Schmiss Kolportagen für den Onlinekonsum fabrizieren. Das hat wenig mit Journalismus zu tun und versucht, Klicks durch gestelzten Zeitgeist unter Gruppen mit gleichen Interessen zu generieren.

„Der Text will schon in der Zeitung weder Reportage noch Interview, er will Prosa sein.“ Das sagt Stefan Ripplinger nicht über „Vice“, sondern über Ronald M. Schernikaus Arbeit als Feuilletonist.

Kürzlich erschien im Verbrecher Verlag der Band zur Konferenz „Lieben, was es nicht gibt“, die im März 2015 in Berlin stattfand. Ripplinger stellt darin in seinem Beitrag „Wahrheit trägt nicht“ fest, dass sich Schernikaus Literatur, zu der er neben dessen Essays (u. a. „die tage in l.“, Konkret Literaturverlag, 1989) auch seine Artikel zählte, „nicht als Widerspiegelung, sondern als Formung, nicht als Nachsprechen, sondern als Sprechakt, nicht als Wahrheit, sondern als Lüge, nicht als Naturalismus, sondern als Vor-Schein zu erkennen gibt“.

Schernikau (1960–1991) war sich bewusst, was er da tat. Auch wenn er – Dietmar Dath macht es am Satz „da ist paul da“ aus „und als der prinz mit dem kutscher tanzte, waren sie so schön, dass der ganze hof in ohnmacht fiel“ mit dem Untertitel „ein utopischer film“ fest – etwas schrieb, das wie „Kinderdeutsch“, wie ein Vice-Vorläufer anmutet. Bei näherem Betrachten ist die oft am Gesprochenen orientierte Schreibe aber „Kunstdeutsch“, dessen „Unterbietungs- und Abrüstungsgeste“ Dath in seinem ausholenden Poetik-Beitrag feiert.

Der Band zur Konferenz soll nicht nur protokollieren. Er soll die Werkausgabe ergänzen, die sich „Verbrecher“ auf die Fahnen geschrieben hat. Schon 2015 stellte man die Neuauflage von Schernikaus Hauptwerk „legende“, in Aussicht. Die ist derzeit nur antiquarisch und zu Höchstpreisen erhältlich. Für 2017 soll nun endlich der erste von drei Teilen in Druck gehen.

Dass Interesse besteht, zeigte die Konferenz selbst: Bis ins Treppenhaus des Literaturforums des Brecht-Hauses saßen die Literaturfreaks jeden Alters. Man schien von so großer Resonanz zu Beginn fast überfordert. Selbst die Toilette versagte an jenem Vormittag ihren Dienst.

Nicht nur Literatur, nicht nur Popkultur ranken sich um jenen Autor, der sich kurz vor ihrer Einverleibung in die DDR einbürgern ließ und so jung an Aids starb.

„Lust und Schönheit identifiziert Schernikau mit Kommunismus“, schreibt Georg Fülberth. Im Rückschluss liest sich der Band- und Konferenztitel: Als Liebe Schernikaus zur DDR einerseits. Als Liebe der LeserInnen zu jenem Autor, den man bereits als „letzten Kommunisten“ in die Einsamkeit verdammte, andererseits.

Liebe ist für Schernikau stets eine sozialistische, frei von lähmendem Mitleid. Anhand des „utopischen Films“, der 2012 im Verbrecher Verlag unter dem Kurztitel „so schön“ erschien, geht Sven Glawion konkret auf Schernikaus Verständnis von Beziehung, Liebe und Sex ein. Er findet: „Nur im Schreiben ließ sich sein Schwul-Sein und Kommunist-Sein verbinden“, und tut Schernikau damit nicht wenig Unrecht. Als marxistischem Künstler dürften ihm gesellschaftliche Widersprüche kein fatales Dilemma, keine Quadratur des Kreises gewesen sein, weshalb er das schöne Leben auf die Kunst auslagern musste. Dass er durchaus die Hegelsche Unterscheidung vom Wesen der Dinge und dem kannte, was sie als Erscheinung zuweilen über- und verdecken können, bewies Schernikau nicht nur in seinem Essay über Andy Warhol „Was macht ein revolutionärer Künstler ohne Revolution?“.

Insgesamt finden sich bei den anderthalb Dutzend zeitgenössischen Beitragenden wohl mindestens anderthalb Dutzend unterschiedliche Bezüge zur DDR und der Arbeiterbewegung an sich. Hätte man Gisela Elsner (Schernikaus literarische Ziehmutter), Irmtraud Morgner (sein Vorbild) und Peter Hacks (den Brieffreund und Umzugsratgeber) gefragt, sie hätten sicher auch drei divergierende Bilder vom Realsozialismus zu Zeiten Schernikaus gezeichnet.

Auf diese ZeitgenossInnen richten drei Beiträge ihren Fokus, von denen besonders die Arbeit von Martin Brandt heraussticht, die unter dem Titel „Zweierlei Realismus“ vergangenen Oktober bereits in „junge Welt“ vorab zu lesen war. Brandt beleuchtet darin den Briefwechsel Hacks-Schernikau und verteidigt Letzteren gegen die Polemiken des Ersteren. Er weist den Vorwurf des Naturalismus bezüglich der „tage in l.“ ebenso zurück, wie er dessen Stichelei (Hacks: „Sie verteidigen dauernd Unentschuldbares“) mit Verweis auf Schernikaus Rede vor dem DDR-Schriftstellerkongress 1990 zugunsten Schernikaus auflöst: „… mit Hacks‘ Einschätzung der Honecker-Politik“, so Brandt, stimmt der „durchaus überein“.

„Lieben, was es nicht gibt“ enthält viel Erwähnenswertes, auch der zeithistorische Abriss von Schernikau am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“, auch die Dokumente am Ende des Buchs, darunter die Abschrift des Interviews für den Berliner RIAS aus dem September 1991 mit Erika Runge, wenige Wochen vor Schernikaus Ableben.

In „Irene Binz. Befragung“, Schernikaus Literarisierung eines Gesprächs mit seiner Mutter Ellen, heißt es: „Am liebsten in ein Land, wo da keine Politik gemacht wird.“ Das Land haben wir jetzt, in allen Stationen Schernikaus, in Magdeburg, in Lehrte bei Hannover, in Westberlin, in Leipzig, in Ostberlin. Eine gesamtdeutsche entpolitisierte Zone, wo man viel „Vice“ konsumiert und in der sich wenig um Ronald M. Schernikau geschert wird. Ob wir uns mit alldem abfinden müssen und mit dem Kommunismus lieben, was es nie geben wird, wird sich zeigen. Gegenüber Runge sagt Ronald M. Schernikau: „Das Leben widerlegt auch die schönsten Theorien.“

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Kein Naturalismus, sondern Vor-Schein", UZ vom 27. Januar 2017



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