Das von der EU beschlossene Sanktionsregime gegen Einzelpersonen wegen angeblicher Desinformation im Zusammenhang mit Aktivitäten Russlands verstößt in mehrfacher Hinsicht gegen geltendes Recht. Zu diesem Schluss kommt ein aktuelles Rechtsgutachten der deutschen Rechtswissenschaftlerin und ehemaligen Richterin am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, Ninon Colneric, und der Völkerrechtlerin Alina Miron von der Universität Angers in Frankreich.
Die im Mai dieses Jahres mit dem 17. Sanktionspaket verhängten Zwangsmaßnahmen etwa gegen den in Berlin lebenden Journalisten Hüseyin Dogru oder Alina Lipp und Thomas Röper, die ihren Lebensmittelpunkt mittlerweile in Russland haben, sind der juristischen Ausarbeitung zufolge rechtlich fehlerhaft, unverhältnismäßig und nicht mit den Grundrechten vereinbar. Darüber hinaus bestehen Zweifel an der Zuständigkeit der EU-Organe und an der Möglichkeit des Rechtsschutzes.
Die Studie wurde am 31. Oktober veröffentlicht und war in dieser Woche Grundlage einer Fachanhörung im Europäischen Parlament in Brüssel. Das Rechtsgutachten trägt den Titel „Legal Opinion: Sanctions against Individuals“ und wurde im Auftrag der BSW-Europa-Abgeordneten Michael von der Schulenburg und Ruth Firmenich erstellt. Auf 65 Seiten werden sowohl die Rechtsgrundlagen der EU-Sanktionsbeschlüsse und -verordnungen untersucht als auch deren Vereinbarkeit mit den Grundrechten und dem Völkerrecht.
Wie die beiden Expertinnen betonen, fehlt dem EU-Sanktionssystem bereits die notwendige rechtliche Grundlage. Zwar können nach Artikel 29 EUV (Vertrag über die Europäische Union) und Artikel 215 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) außenpolitische Sanktionen erlassen werden, doch diese müssten klare Ziele und Schutzmechanismen enthalten. Beides sei hier nicht der Fall.
Vor allem kritisieren Colneric und Miron, dass die „Verordnung über restriktive Maßnahmen angesichts der destabilisierenden Aktivitäten Russlands“ ((EU) 2024/2642) keine hinreichenden rechtlichen Garantien für die betroffenen Personen vorsieht – ein klarer Verstoß gegen Artikel 215 Absatz 3 AEUV. Damit fehle ein zentraler Schutzmechanismus, der sicherstellen soll, dass Sanktionen nicht willkürlich verhängt werden.
Die Studie weist auf eine ganze Reihe von Grundrechtsverletzungen hin, die das aktuelle Sanktionsregime nach sich zieht. Betroffen sind etwa die Meinungs- und Informationsfreiheit nach Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta. Der in den Sanktionen angeführte Begriff „Desinformation“ sei vage und unbestimmt. Die Sanktionen beschränkten sich nicht auf klar belegbare Falschinformationen, die nachweislich destabilisierende Aktivitäten Russlands unterstützen würden. Damit drohe eine Verletzung der Meinungsfreiheit und ein gefährlicher Präzedenzfall für politische Zensur. Die mit den Sanktionen verbundenen Reiseverbote für Dogru, Lipp und Röper, die allesamt die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und damit auch EU-Bürger sind, sind zu weitreichend und nicht verhältnismäßig bezüglich einer Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung oder Sicherheit.
Kritisiert wird die Listung betroffener Personen ohne deren vorherige Anhörung. Das Fehlen rechtlichen Gehörs mache auch weitere Eingriffe – etwa in Eigentum und Privatleben – rechtswidrig. Das Einfrieren von Vermögenswerten und die Veröffentlichung persönlicher Daten verletzen das Eigentumsrecht und Achtung des Privatlebens. Die Sanktionen kommen einem faktischen Berufsverbot gleich. Den Betroffenen wird es praktisch unmöglich gemacht, einer Arbeit nachzugehen oder ein Unternehmen zu führen, was gegen die Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit verstößt.
Über das EU-Recht hinaus sieht das Gutachten auch Verstöße gegen internationale Verpflichtungen. Die Autorinnen beziehen sich auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt), insbesondere auf Artikel 19 zum Schutz der Meinungsfreiheit. Auch aus Sicht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fehle es an Transparenz, Rechtsklarheit und gerichtlicher Kontrolle.
Colneric und Miron kommen zu einem eindeutigen Schluss: „Das gegenwärtige Sanktionsregime gegen Einzelpersonen wegen angeblicher Desinformation ist mit dem Unionsrecht, der Grundrechtecharta und dem Völkerrecht nicht vereinbar.“ Das System verletze grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien – von der Rechtsklarheit über das rechtliche Gehör bis hin zur Verhältnismäßigkeit. Die Autorinnen warnen, dass die EU ihre eigene Glaubwürdigkeit in Fragen von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten untergräbt, wenn sie solche Maßnahmen ohne ausreichende rechtliche Grundlage weiterführt. Doch hier haben Ursula von der Leyen und die EU international wohl nur noch wenig zu verlieren.



![UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis] UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]](https://www.unsere-zeit.de/wp-content/uploads/2021/04/Banner_800x90_Probeabo_Rahmen.jpg)





