Ökonomische und politische Machtverhältnisse im heutigen Russland

Nach der räuberischen Aneignung

Von Willi Gerns

Als Marxisten gehen wir bei der Beurteilung eines Staates von der Frage aus, welche Gesellschaftsordnung, d. h. welche Eigentums- und Machtverhältnisse herrschen in diesem Land, die Interessen welcher Klasse bzw. Klassen liegen dieser Politik zugrunde. Zugleich bemühen wir uns darum, durch eine konkrete Analyse der konkreten historischen Situation die aktuelle Rolle dieses Staates unter den gegebenen weltpolitischen Konstellationen zu erfassen.

Wenn wir diese Grundsätze auf das heutige Russland anwenden, müssen wir feststellen: Russland ist ein kapitalistisches Land, in dem der größte Teil der Produktionsmittel im Zuge der antisozialistischen Konterrevolution in kapitalistisches Privateigentum übergegangen ist. Dominierend sind das geraubte Eigentum der Oligarchen-Clans sowie ein trotz weitergehender Privatisierungen noch immer relativ großer Bereich staatlichen Eigentums bzw. gemischten Produktions- oder Finanzmittel-Eigentums. Soweit es bei Letzterem um strategische Unternehmen geht, hält der Staat in der Regel noch die Kontrollmehrheit.

Diese Eigentumsstruktur wird durch die von der russischen staatlichen Behörde für Statistik, Rossstat, veröffentlichten Daten belegt. Danach waren 2013 von allen in der Wirtschaft Beschäftigten im staatlichen Sektor (einschließlich Stadt- und Kommunaleigentum) 28,4 Prozent der Beschäftigten tätig; im Sektor des Privateigentums 60 Prozent; in Unternehmen mit russischen gemischten Eigentumsformen 5,9 Prozent; in Unternehmen mit ausländischem Eigentum bzw. gemischtem russischem und ausländischem Eigentum 5,2 Prozent sowie in Eigentumsformen gesellschaftlicher und religiöser Organisationen und Vereinigungen 0,5 Prozent.

Die politische Macht wird in Russland durch eine Herrschaftselite ausgeübt, in der die Macht der obersten Staatsbürokratie mit der Wirtschaftsmacht von Oligarchen zusammenwächst. Das bestätigt auch eine Studie, die im August 2012 von den russischen Politologen Jewgeni Mitschenko und Kirill Petrow unter dem Titel „Die ‚Große Regierung’ Wladimir Putins und das ‚Politbüro 2.0‘“ veröffentlicht wurde. Als Ergebnis ihrer Untersuchungen kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die Macht in Russland von einem Konglomerat aus Clans und Gruppen ausgeübt wird, die um die Ressourcen des Landes konkurrieren. Gegenwärtig stelle sich diese Elite das Ziel, die Stabilität ihrer Herrschaft für einen langen Zeitraum zu gewährleisten, was die Umwandlung der Macht in Eigentum mittels einer neuen Etappe der Privatisierung, die Nutzung des Staatshaushalts sowie die Legalisierung des in den Jahren 1990–2000 erworbenen Eigentums voraussetze.

Als Mechanismus zur Lösung der Widersprüche innerhalb dieser Machtelite diene ein informelles Organ, das die Autoren in Anspielung auf das letztlich entscheidende Machtorgan in der Sowjetunion als „Politbüro 2.0“ bezeichnen. Diese Quasi-Institution kollektiver Macht der herrschenden Gruppen habe sich im Laufe der Jahre nach 2000, dem Jahr des Machtantritts Putins, im Ergebnis der Umverteilung der Ressourcen von kleinen oligarchischen Clans, der Zerschlagung der Medienimperien und der Liquidierung des Großteils der regionalen Regime herausgebildet. In der Rolle des Schiedsrichters und Moderators trete Präsident Putin auf. Er übe zudem die direkte Kontrolle über die langfristigen Gasverträge, die Leitung des Erdgassektors und die systemrelevanten Banken aus.

Ohne uns mit der Anspielung auf das Politbüro des ZK der KPdSU zu identifizieren – es handelte sich dabei um die Spitze eines Machtsystems, dem eine vollkommen andere ökonomische Basis zugrunde lag – halten wir die in der Studie beschriebene Vereinigung der politischen Macht des Staates mit der ökonomischen Macht bestimmter, dem Kreml besonders naher Oligarchen-Clans als Kern der Sache, im Wesentlichen durchaus für zutreffend. Von daher kann man bei allen Besonderheiten auch von einer russischen Variante des staatsmonopolistischen Kapitalismus sprechen.

Der Marxismus-Leninismus sieht im staatsmonopolistischen Kapitalismus bekanntlich eine Entwicklungsstufe des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus. Darum soll kurz der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit die von Lenin in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ herausgearbeiteten grundlegenden ökonomischen Merkmale des Imperialismus auf den heutigen russischen Kapitalismus zutreffen.

Dabei geht es bekanntlich vor allem um die Existenz und Herrschaft von Monopolen, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen, um die Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und die Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis des Finanzkapitals; um den eine immer größere Rolle spielenden Kapitalexport; um die Herausbildung und Entwicklung internationaler monopolistischer Kapitalistenverbände. Am Vorhandensein dieser Merkmale im Kapitalismus des postsowjetischen Russland kann es meiner Meinung nach keinen Zweifel geben. Allerdings sind dabei russische Besonderheiten zu beachten.

Während die Herrschaft der Monopole in den klassischen imperialistischen Ländern das Ergebnis eines langen historischen Prozesses der Konzentration und Zentralisation des Kapitals war, ist sie im heutigen Russland das Resultat eines relativ kurzen kriminellen Prozesses räuberischer Aneignung der Filetstücke des Volkseigentums während der antisozialistischen Konterrevolution. Im Weiteren sind dann auch in Russland die Oligarchen-Kapitale durch Konzentration und Zen­tralisation zu noch größeren Gebilden gewachsen.

Auch in Russland sind Bank- und Industriekapital miteinander verschmolzen, wie ein Blick auf die Oligarchen-Konglomerate untrüglich deutlich macht, eine Finanzoligarchie ist entstanden. Und die Entwicklungstendenzen der russischen Direktinvestitionen im Ausland zeigen, dass auch der Kapitalexport eine immer größere Rolle spielt. So belegte Russland 2013 mit 95 Milliarden Dollar Direktinvestitionen ins Ausland (FDI) nach den USA, China (inklusive Hongkong) und Japan den vierten Platz in der Welt, noch vor der Schweiz (60 Mrd. FDI) und Deutschland 58 Mrd. FDI. Die aus dem Ausland nach Russland geflossenen Direktinvestitionen machten 2013 75 Mrd. Dollar aus. (Quelle: DPA, UNSTAD) Schnell wachsen zudem die Verflechtungen mit dem internationalen Monopolkapital, und dies sowohl auf russischem Boden wie im Ausland.

Fazit: Das Russland Putins ist ein kapitalistisches Land, in dem die ökonomischen Grundlagen des Monopolkapitalismus/Imperialismus mit gewissen Besonderheiten durchaus weitgehend gegeben sind.

Die wichtigste Besonderheit des russischen Kapitalismus liegt dabei darin, dass dieser durch seine Integration in das von den USA, der EU unter Führung des deutschen Imperialismus und Japan beherrschte System der kapitalistischen Weltwirtschaft in diesem System nur eine zweitrangige Rolle spielt. Seine Hauptfunktion besteht darin, Rohstofflieferant für ökonomisch entwickeltere imperialistische Länder und Markt für deren technisch fortgeschrittenere oder konkurrenzfähigere Produkte zu sein.

Dies widerspiegelt sich z. B. auch deutlich in der Struktur der deutsch-russischen Handelsbeziehungen. So sind die wichtigsten Erzeugnisse, die Deutschland nach Russland exportiert, Maschinen, Kraftfahrzeuge und Kraftwagenteile, chemische Erzeugnisse, Datenverarbeitungsgeräte, elektrische und optische Erzeugnisse. Die wichtigsten Erzeugnisse, die Deutschland von Russland importiert, sind: Erdöl und Erdgas, Kokerei- und Mineralölerzeugnisse sowie Metalle und Kohle. (Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden) „Entscheidend für das Wirtschaftswachstum in Russland bleibt der Energie- und Rohstoffsektor. Rohstoffe stehen für ca. 80 Prozent des russischen Exports und finanzieren zu rund 50 Prozent den Staatshaushalt.“ (Ostausschuss der deutschen Wirtschaft – März 2014)

Der Platz des heutigen Russlands im System der kapitalistischen Weltwirtschaft findet seinen Ausdruck auch in der Verwundbarkeit des Landes durch die von den USA und der EU verhängten Sanktionen. Das zeigt sich in der Abhängigkeit vom Import bestimmter moderner Technologien sowie in den Möglichkeiten der imperialistischen Hauptmächte, die russische Währung durch Kapitalflucht und andere Manipulationen unter Druck zu setzen. Oligarchen und andere superreiche Russen sind den Gegnern Russlands dabei behilflich. Dies ist möglich, wie Kaschin betont, weil praktisch alle Beschränkungen für die Überführung von Valuta und Direktinvestitionen in die ausländische Wirtschaft bzw. in die Offshore-Ökonomie aufgehoben wurden.

All das zeigt die ökonomische Schwäche des postsowjetischen Russlands. Sein Einfluss in der Welt beruht heute auf seinem Status als Atommacht und Vetomacht in der UNO, auf seinen Naturreichtümern, insbesondere den Vorräten an Energieträgern, und darauf, dass sein Eintreten für eine multilaterale Weltordnung in China, den übrigen BRICS-Staaten, in der Schanghai-Kooperationsorganisation sowie in weiteren regionalen Organisationen und Staaten eine zunehmende Unterstützung erfährt.

Nach alledem lässt sich aus meiner Sicht die Frage ob Russland ein imperialistisches Land ist, trotz des Vorhandenseins wesentlicher ökonomischer Merkmale dieses Entwicklungsstadiums des Kapitalismus nicht, mit einem uneingeschränkten „Ja“ beantworten.

Schließlich gehört zu den Folgeerscheinungen der ökonomischen Merkmale des Imperialismus, insbesondere seines Hauptmerkmals, Monopolkapitalismus zu sein, eine mit Hilfe von imperialistischen Kriegen auf die Neuaufteilung der Einflusssphären in der Welt gerichtete aggressive Außenpolitik imperialistischer Staaten. In dieser Hinsicht bestehen allerdings wesentliche Unterschiede zwischen dem Putinschen Russland und den klassischen imperialistischen Hauptmächten, heute vor allem den USA und seines NATO-Gefolges. Wobei der deutsche Imperialismus wieder eine immer gefährlichere Rolle spielt.

Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte und leicht bearbeitete Fassung

des in Heft 1/2015 der Marxistischen Blätter veröffentlichten Aufsatzes des Autors

unter der Überschrift „Das Putinsche Russland – Machtverhältnisse und Politik“.

Der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe der UZ.

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"Nach der räuberischen Aneignung", UZ vom 20. Oktober 2017



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