Russland, China und der US-amerikanische „Ring of Steel“

Kräftebalance im Hightech-Zeitalter

Von Klaus Wagener

Die US-Regierung will aus dem INF-Vertrag aussteigen. Sie ist schon aus dem JCPOA (Joint Comprehensive Plan of Action) oder kurz: Iran-Deal ausgestiegen, aus TPP, dem Pariser Klimaabkommen, hat NAFTA neu berhandelt und hat einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, Iran und vor allem China begonnen. 2001 hatte sich George W. Bush schon aus dem ABM verabschiedet. Das US-Imperium agiert seither zunehmend rücksichtslos, unilateral, im Sinne der eigenen Interessen- und Überlebenssicherung. Die Kriege in der als vitales Interessengebiet deklarierten „Greater Middle East“-Region (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Jemen, Libanon u. a.) sprechen eine klare Sprache.

Ganz neu ist das nicht. Nach dem II. Weltkrieg führten die USA weltweit einen Krieg gegen den Sozialismus. Mit weitaus höheren Opferzahlen, im zweistelligen Millionenbereich. Aber da ging es gegen die kommunistischen Kinderfresser. Und da ist so etwas natürlich okay. Sonderbarerweise haben einige erst jetzt begriffen, nachdem das Morden nach 1989 ungerührt weiterging, dass dies auch etwas mit dem liberalen Westen, dem „christlichen Abendland“ zu tun hat, oder welche Euphemismen man für die kapitalistische Eroberung der Welt auch finden mag.

In den 1960er Jahren wurde klar, dass die Fähigkeiten der US-Kriegsmaschine, den Sozialismus in der SU und China ohne nennenswerte eigene Verluste atomar auszulöschen, nicht mehr gegeben waren. Im Interesse eines (allerdings nur für Europa geltenden) kulturellen und sozialintegrativen „Wandels durch Annäherung“ erschien eine zumindest partielle Begrenzung des Rüstungswettlaufs geboten. Der ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) von 1972 begrenzte die Zahl der gegen ballistische Raketen gerichteten Abfangraketen auf jeweils 100. Damit war der Wettlauf von Raketen, Mehrfachsprengköpfen (MIRV), Attrappen (Decoys) und Abfangraketen etwas der Wind aus den Segeln genommen. Selbst ein Kalter Krieger wie Richard Nixon konnte sich so auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs als Friedensengel präsentieren. Der Vertrag wurde auch von den SU-Nachfolgestaaten übernommen. Bis die Bush-Regierung 2001 – Frieden war zu einer abwertenden Zuschreibung an bestenfalls dümmlich-naive „Gutmenschen“ geworden – Abfangraketen an der Grenze des „Reichs des Bösen“ stationieren wollte. Offiziell gegen Atomraketen des Iran, die es nicht gab.

Der INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty) von Dezember 1987 kann als politische Stabilisierungsmaßnahme für die schon in massive Probleme geratene Gorbatschow-Regierung angesehen werden. Auch der Star-Wars-Krieger Ronald Reagan musste den Erfolg des kapitulationsbereiten Gorbatschow im Auge haben. INF führte sogar zu einer realen Abrüstung von rund 2 700 Kurz- und Mittelstreckenraketen. Strategisch betrachtet war INF vor allem für Europa von Bedeutung. Kurz- und Mittelstreckenraketen verlegen das atomare Schlachtfeld ins Zentrum Europas oder in die VR China. Diese Waffen können zwar die SU/Russland oder China, aber nicht die USA erreichen. (Es sei denn, Russland oder China wäre in der Lage, sie auf Kuba, in Mexiko oder Kanada zu stationieren.) Ein Verzicht auf Kurz- und Mittelstreckenraketen brachte zwar Nachteile für das US-Bedrohungspotential, aber kaum Nachteile für die US-Verteidigungsfähigkeit. Den Untergang der SU vor Augen, hatten die US-Strategen aber durch INF eine große Chance, eine Jahrhundertkatastrophe – die Zerstörung einer historischen Chance (!) der Menschheit, möglicherweise ihrer letzten, eine Welt jenseits von Ausbeutung, Krieg, Massenelend und Umweltzerstörung zu errichten – in einen Sieg von Freedom and Democracy umzufälschen, die Unterwerfung des Globus unter das Diktat der Finanzoligarchie und der US-Kriegsmaschine als Errichtung des globalen Weltdorfes zu feiern.

Nach 30 Jahren unangefochtener Herrschaft der „einzigen Weltmacht“ sind diese PR-Märchen Geschichte. Das „Land of the Free“ befindet sich ökonomisch, politisch und kulturell im Niedergang und stützt sich mehr und mehr auf seine repressiven militärischen, finanziellen und propagandistischen Fähigkeiten. Konsequenterweise erfolgte seit 20 Jahren ein gigantischer Ausbau und eine Verstärkung des US-Militärpotentials. In diesem Kontext rückte die Verlagerung künftiger, auch atomarer, Kriegsschauplätze nach Eurasien, an die West- und Südgrenze Russlands und an die Ost- und Südostgrenze der VR Chinas mehr und mehr ins Visier der Washingtoner Falken. Russland, China und Iran wurden durch Stützpunkte, Militäreinrichtungen des Imperiums und die Stationierung modernster Offensiv- und Abwehrwaffen systematisch eingekreist. Da ist der INF-Vertrag für das Pentagon natürlich ein Hindernis.

Der Kampf um Technologie­führerschaft

Die Zeiten, als Russland und China den Repressionskräften des Imperiums mehr oder weniger hilflos ausgeliefert waren, sind allerdings vorbei. Konnte man die SU noch mit einem CoCom-Embargo von moderner Technologie fern halten, so sind diese Möglichkeiten heute begrenzt. Der chinesische Handy-Hersteller Huawei hat den US-Giganten Apple in diesem Jahr auf Platz 3 im Verkaufsranking verwiesen, nach Südkoreas Samsung. Chinas Automarkt ist rund 50 Prozent größer als der der USA oder der Gesamteuropas. China hält rund 45 Prozent der globalen Schiffsproduktion, 50 Prozent der globalen Stahlproduktion, Die größte E-Commerce-Firma heißt nicht Amazon, sondern Alibaba. Der gößte Drohnenhersteller ist Chinas DJI. China führt weltweit bei der erneuerbaren Energiekapazität, bei Highspeed-Zügen, E-Autos usw.

Das Land verfolgt mit dem Projekt „Made in China 2025“ ein ehrgeizige Entwicklungsstrategie, die China in zehn High-Tech-Bereichen, die gegenwärtig noch von ausländischen Konzernen beherrscht werden, an die Weltspitze führen soll. Es geht darum, die gesamte chinesische Industrie international wettbewerbsfähiger zu machen. Es ist ein Konzept, die Technologieführerschaft des „Westens“, speziell der USA, dort, wo es sie noch gibt, direkt herauszufordern.

Ausschaltung der Gegenschlagsfähigkeit

Diese strategische Herausforderung ist von den US-Strategen natürlich wahrgenommen worden. Ihre auf die Beherrschung der „Greater Middle East“-Region ausgerichtete Strategie ist nun in ihrer Schwerpunktsetzung modifiziert und statt auf die Vorfeldregionen auf die eigentlichen Herausforderer Russland und China fokussiert. In den 1990er Jahren stieß die Nato bis an die russische Grenze vor. Die USA stationierten Abfangraketen in Polen und Rumänien. Russland wie China ist von einem dichten Netz, „Ring of Steel“, von hunderten US-Stützpunkten in nahezu jedem Nachbarland umgeben, vollgepackt mit Flugzeugen, Schiffen, Panzern, Raketen, Kanonen und zigtausenden Soldaten. Mit dem Computerwurm „Stuxnet“, der von den US-Diensten designt wurde, um die iranischen Atomanlagen in Natanz und Buschehr lahmzulegen, wurde auch der Cyberkrieg auf eine neue Stufe gebracht. Der russische Zugang zum Mittelmeer wie der zur Ostsee/Atlantik ist von der Nato ebenso kontrolliert wie der chinesische Zugang zu den Straßen von Malakka, Sunda oder Lombok leicht blockiert werden könnte. Letzteres mit erheblichen Konsequenzen nicht nur für die chinesische Ökonomie. Hier dürfte einer der Gründe für das gigantische Seidenstraßenprojekt (Belt and Road Initiative, BRI) und für den Kampf ums Südchinesische Meer liegen.

Darüber hinaus hatte schon Obama eine „Modernisierung“ der gesamten nuklearen strategischen Triade (Interkontinentalraketen, U-Boot-gestützte Raketen, Langstrecken-Marschflugkörper) gestartet. Es geht um Miniaturisierung, Steigerung der Geschwindigkeit, der Zielpräzision, der Tarnkappen-Fähigkeiten und ähnliches. Das alte, schon in den 1980er Jahren verfolgte Ziel ist die Fähigkeit, den Gegner atomar bedrohen zu können, ohne selbst zum Ziel eines Gegenschlags zu werden. Gewissermaßen die Außerkraftsetzung der stabilisierenden Regel des Kalten Krieges „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter“. Der Generalstabschef der US-Army, Mark Milley, hält künftige Kriege gegen Russland und China für „fast unausweichlich“. Und er steht damit in der US-Kriegsmaschine nicht allein. Die neue US-Atomstrategie, „Nuclear Posture Review“ des Pentagon unterstellt Russland und China expansionistische Ziele. Die Länder gelten nun auch offiziell als „revisionistische“ Mächte, (revisionistisch = den Weltmachtstatus der USA in Frage stellend) und daher als zu bekämpfende Gegner. Gegner, mit denen man aus einer Position der Stärke „verhandeln“ will, genauer, denen man die Bedingungen diktieren möchte.

Vor allem an Waffen mit sogenannter Supersonic- (etwa Mach 1 – Mach 5) oder Hypersonic-Geschwindigkeit (etwa Mach 5 und schneller) wird intensiv geforscht. Beispielsweise an der NASA X-43A, die Mach 7 erreichen soll. Waffen mit hoher Geschwindigkeit setzen die Reaktionszeit deutlich herunter und sind daher schwerer oder gar nicht abzufangen. Das Ziel ist die Fähigkeit, einen so überraschend schnellen und präzisen (Nuklear-)Angriff lancieren zu können, dass dem Gegner (Russland und China) keine Chance zur Abwehr bleibt. In Kombination mit dem Vorrücken der Nato nach Osten, der Einkreisung Russlands und Chinas mit dem „Ring of Steel“, den atomaren Mittelstreckenraketen, den Bombern des Strategic Air Command, den Flugzeugträger-Kampfgruppen und den strategischen Atom-U-Booten als Offensivwaffen sowie den land- bzw seegestützten Raketenabwehrwaffen wie Patriot, THAAD und Aegis wird für Russland und China eine ebenso komplexe wie gefährliche atomare Drohkulisse aufgebaut, die binnen Sekunden tödliche Wirklichkeit werden kann. Die hieraus resultierenden Gefahren wurden 1983 deutlich, als beim Natomanövers „Able Archer“, das unter dem hysterischen Kriegsgeschrei der Reaganschen Star-Wars-Krieger stattfand, die Sowjets einen realen Angriff erwarteten. Die Mittelstreckenrakete Pershing II hatte die Reaktionszeit auf fünf bis acht Minuten verkürzt. Nur dank der besonnenen Reaktion des diensthabenden Offiziers, Oberstleutnant Stanislaw Petrow, löste das sowjetische Analysezentrum nicht den massiven atomaren Gegenschlag aus. Nur deshalb gibt es noch so etwas wie menschliche Zivilisation. Bei Hypersonic bleiben nicht einmal 5 Minuten. Petrow muss durch einen Computer ersetzt werden. Und der hätte 1983 den Gegenschlag befohlen.

Die russische und die chinesische Antwort

Diese Drohkulisse zwingt Russen wie Chinesen zu entsprechenden Reaktionen. Zwar vefügen beide Länder nur über einen Bruchteil der Mittel der US-Kriegsmaschine, aber im High-Tech-Zeitalter kommt es mehr und mehr auf Technologie-Führerschaft an. Was ist der neue, 14 Mrd. Dollar teure Flugzeugträger „Gerald R. Ford“ tatsächlich noch wert, wenn vielleicht eine chinesische Anti-Schiffs-Rakete wie die DF-26 reicht, um ihn zu versenken? Donald Trump hatte getönt, wenn das Schiff am Horizont erscheine, „dann werden unsere Feinde vor Angst zittern“. Was, wenn sie es einfach abschießen? Die US-Flugzeugträgerflotte könnte dem Schicksal der großen Schlachtschiffe folgen.

Die chinesische Raketentechnik hat mit der DF-41 Spitzentechnologie hervorgebracht. Die Interkontinentalrakete hat eine Reichweite von 12 000 bis 15 000 km, kann bis zu zwölf einzeln gesteuerte Atomsprengköpfe (MIRV-Technologie) tragen und erreicht bei einer Zielgenauigkeit von 100 bis 500 Meter eine Geschwindigkeit von Mach 25. Aber auch Kampfflugzeuge wie die Chengdu J-20, ein Kampfflugzeug der 5. Generation, oder der noch in Entwicklung befindliche Stealth-Bomber H-20 dürften im Pentagon nicht gerade Freudenstürme hervorrufen.

Wirkliche „Spielveränderer“ präsentierte Wladimir Putin in einer bemerkenswerten Rede an die Nation am 1. März. Schon 2015 hatten die Russen mit einem Cruise-Missile-Schlag vom Kaspischen Meer gegen dschihadistische Stellungen in Syrien ihre Langsteckenfähigkeiten unter Beweis gestellt. Langstecken-Cruise-Missile, abgefeuert vom Tu-160-Langstreckenbomber, und die Leistungen des S-400-Raketenabwehrsystems, um nur einiges zu nennen, hatten gezeigt, dass die Russen in den High-Tech-Disziplinen der US-Kriegsmaschine mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen sind. Neben den supermodernen U-Booten der Borei-Klasse, den neuen Interkontinentalraketen RS-24 Jars mit MIRV-Technologie, wies Putin auf die neuesten Flugzeuge, Marschflugkörper und die Drohnenentwicklung hin.

Putin erinnerte noch einmal an die Verluste nach dem Untergang der Sowjetunion. Russland habe „23,8 Prozent seines nationalen Territoriums, 48,5 Prozent seiner Bevölkerung, 41 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes, 39,4 Prozent, also fast die Hälfte, seines Industriepotenzials, sowie 44,6 Prozent seiner militärischen Kapazitäten“ verloren. Nun aber könne er neuartige Waffensysteme präsentieren, die eher an Science Fiction erinnern. So hat Russland nun eine neue, 200-Tonnen schwere Interkontinentalrakete, RS-26 Sarmat, mit mehr als 20 Gefechtsköpfen (MIRV), steuerbarer Flugbahn und hoher Reichweite entwickelt, die von den bisherigen Abwehrsystemen nicht aufzuhalten ist, einen luftgestützten Marschflugkörper, Burevestnik, mit miniaturisiertem Atomantrieb und ebensolcher Reichweite, der in der Lage ist, Abwehrsysteme zu umfliegen, und dazu die atomar bewaffnete Hypersonic-Rakete Kinzhal, die selbst bei Mach 10 noch manövrierfähig bleibt. Noch schneller, Mach 20, soll eine neue strategische Interkontinentalwaffe fliegen, die auf den Namen Avangard getauft wurde. Auch sie manövrierfähig und praktisch nicht abzufangen. Dazu die atomar angetriebene, ultraschnelle Unterwasserdrohne Poseidon und die Laserkanone Peresvet.

„Sie haben uns nicht zugehört, vielleicht hören sie uns jetzt“, meinte der russische Präsident in Anspielung auf Washington. Die russische Armee unternimmt alle Anstrengungen, eine Wiederholung von 1941 zu vermeiden. Eine Wiederherstellung der Kräftebalance erfordert die Wiederherstellung der Fähigkeit, das Imperium ebenfalls bedrohen zu können. Als die SU in den 1950er Jahren noch nicht die Gefechtsköpfe und Trägermittel hatte, die USA substantiell bedrohen zu können, hatten die US-Atomkriegsplaner weitreichende Pläne zur Zerstörung des SU und Chinas entwickelt, die bis zu 750 Mio. Menschen das Leben gekostet hätten. Unberücksichtigt dabei, dass der daraufhin einsetzende nukleare Winter die Überlebenschancen der gesamten Menschheit drastisch verringert hätte. Daraus wurde nichts, weil das eigene Risiko zu hoch war. Das Pentagon ist allenfalls durch die Gefahr des eigenen Untergangs abzuschrecken. Erst recht in der Phase des Niedergangs. Die US-Kriegsmaschine kämpft verbissen um die globale Vorherrschaft. So sehr, dass sich angesichts des US-amerikanischen Powerplays in Asien heute Staaten zusammenfinden, beispielweise in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die sich früher als erbitterte Feinde betrachteten. Hinterrücks produziert die US-Kriegsmaschine ihren größten Alptraum: die eurasische Zusammenarbeit. Werden sie nun hinhören? Bislang sieht es nicht danach aus.

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"Kräftebalance im Hightech-Zeitalter", UZ vom 2. November 2018



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