Verweigerte Aufarbeitung: Zum 20. Jahrestag des Einsturzes der Eislaufhalle in Bad Reichenhall

Organisierte Verantwortungslosigkeit

Es begann mit einem Knacken im Gebälk, übertönt von lauter Musik und ausgelassener Stimmung. Die meisten Überlebenden gaben später an, nichts Bedrohliches gehört zu haben. Und weitere Vorwarnungen gab es nicht für die rund 50 Menschen, die sich am 2. Januar 2006 in der Eislaufhalle in Bad Reichenhall aufhielten.

Gegen 15.54 Uhr krachen die ersten Trümmer aus Holz und Metall auf die Eisfläche, dann – ohne Pause – bricht die Deckenkonstruktion der Halle wie ein Kartenhaus zusammen. „Im Sekundentakt“, wird ein Gutachter später schreiben, geben die Träger nach. Die Geschwindigkeit der Kettenreaktion macht ein Entkommen unmöglich.

Sofort beginnen Rettungsmaßnahmen, doch die Bedingungen sind schwierig. Es schneit seit Tagen ohne Unterlass. Das Gewicht von Schnee und Trümmern drückt auf die Wände, weitere Teile der Halle sind einsturzgefährdet. Um schweres Gerät an den Unglücksort zu bringen, muss zunächst die Tiefgarage unter dem Gebäude abgestützt werden. Viele Stunden vergehen, in denen die Helfer mit Schaufeln und bloßen Händen gegen die Zeit kämpfen. Am Ende werden die Rettungskräfte 34 teils schwerverletzte Menschen aus der eisigen Trümmerlandschaft befreien. Für drei Frauen und zwölf Kinder kommt jede Hilfe zu spät. Sie starben bereits im Moment des Einsturzes, wie spätere Untersuchungen ergeben.

Skrupellose Schlamperei

Noch während die Bergungsarbeiten laufen, beginnt die Suche nach den Ursachen. Schnell wird klar, dass das Unglück beinahe verhindert worden wäre. Denn der diensthabende Eismeister hatte angesichts der Schneemassen auf dem Dach entschieden, die Halle ab 16 Uhr zu schließen. Gegen 15.30 Uhr informierte er den örtlichen Eishockeyverein, dass das Training am Nachmittag abgesagt werden müsse. Eine reine Vorsichtsmaßnahme sei das gewesen, hieß es anschließend von den Verantwortlichen bei der Stadt. Bei einer vorangegangenen Messung der Schneelast auf dem Dach habe das Gewicht unter den festgelegten Grenzwerten gelegen. Was damals am Telefon genau gesagt wurde, wird noch Jahre danach Gegenstand von Gerichtsverhandlungen sein. „Das Wort ‚Einsturzgefahr‘ ist gefallen“, erinnert sich der Vorsitzende des Reichenhaller Eishockeyclubs später vor dem Landgericht Traunstein.

Schon lange vor der Katastrophe war bekannt gewesen, dass sich die Halle in einem miserablen Zustand befunden hatte. Immer wieder kam es zu Wassereinbrüchen, deren Ursachen trotz zahlreicher Beschwerden nicht fachgerecht beseitigt wurden. „Man hat immer wieder Flickwerk gemacht“, sagte der Betriebsleiter der Halle zwei Jahre nach dem Unglück vor Gericht. Auf Berichte an das städtische Bauamt habe die Behörde nicht reagiert. Auch der Eishockey-Verein hatte sich mehrfach erfolglos beim damaligen Oberbürgermeister Wolfgang Heitmeier (Freie Wähler) beschwert, der gerne als Schirmherr für Vereinsturniere auftrat. Bei seiner Zeugenvernehmung bestritt Heitmeier später, von den Wasserschäden gewusst zu haben.

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Helfer mussten lange ohne schweres Gerät auskommen. (Foto: THW)

Das Wasser spielte bei der Aufklärung des Unglücks eine entscheidende Rolle. Denn die Deckenkonstruktion der Halle war aus Holz und über die Jahre regelrecht durchtränkt worden. Als „patschnass“ würde ein Gutachter das Deckenholz später beschreiben. Hinzu kam, dass beim Bau der Halle ein feuchtigkeitsanfälliger Harnstoffleim verwendet worden war, um die tragenden Elemente zu verbinden. Nur einer von vielen Bau- und Wartungsmängeln.

Die Anlage war in den Jahren 1971 bis 1973 als kombinierte Eislauf- und Schwimmhalle errichtet worden. Ziel war es, Bad Reichenhall im Umfeld der Olympischen Spiele von München (1972) als Sport- und Freizeitzentrum zu etablieren. Obwohl mit mehr als 15,4 Millionen DM ein stattliches Budget zur Verfügung stand, war die Bauausführung mangelhaft. Neben der Verwendung des falschen Leims wurde unter anderem auf erneute statische Berechnungen verzichtet, nachdem die ursprünglichen Pläne für die Dachkonstruktion abgeändert worden waren.

Auch in den Folgejahren glänzte die Stadt Bad Reichenhall durch „Schlamperei, Ignoranz, Skrupellosigkeit“, wie es ein Richter am Landgericht später ausdrücken wird. Gutachter stellten fest, dass während der gesamten Lebensdauer der Halle von mehr als 30 Jahren keine ordnungsgemäße Wartung oder Kontrollen durchgeführt worden waren.

Sündenböcke

Doch weder der Bürgermeister noch andere Entscheidungsträger der Stadt mussten sich vor Gericht verantworten. Der offizielle Grund dafür war ein Gutachten, das die Stadt im Jahr 2003, drei Jahre vor der Katastrophe, in Auftrag gegeben hatte, um die Kosten für eine mögliche Sanierung zu ermitteln. Ein Standsicherheitsgutachten war nicht verlangt worden und der beauftragte Ingenieur hatte einen Festbetrag von gerade einmal 3.000 Euro erhalten. Eine ernsthafte Untersuchung der Statik hätte das Zehnfache gekostet, wie der Bundesgerichtshof später feststellte. Zudem hatte der Gutachter nach eigener Aussage keinen Zugang zu statischen Unterlagen erhalten. Eine geprüfte Statik sei ohnehin nicht auffindbar gewesen.

Der Gutachter stellte in der Halle erhebliche Mängel fest, erwähnte jedoch beiläufig, dass die Tragekonstruktion der Decke „in einem als gut zu bezeichnenden Zustand“ gewesen sei. Eine Fehleinschätzung, verursacht durch eine unzureichende Untersuchung der Decke mittels Teleobjektivs aus der Ferne.

Die Verantwortlichen bei der Stadt verwiesen auf diesen einen Satz, um sich zu entlasten. Sie hätten nicht davon ausgehen können, dass es Handlungsbedarf gebe. Die Staatsanwaltschaft sah das ähnlich und stellte stattdessen den Bauingenieur vor Gericht. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung.

Vor dem Landgericht Traunstein wendete sich das Blatt jedoch mit einer bemerkenswerten Begründung. Zwar sei das Gutachten mangelhaft gewesen, aber nicht ursächlich für den katastrophalen Einsturz der Halle. Schließlich hätten die Fachleute in der Stadtverwaltung gewusst, dass die Studie nichts über die Standfestigkeit des Gebäudes aussagen konnte. Den Ausschlag gab jedoch, dass das Gericht davon ausging, dass die Stadt auch auf einen korrekten Warnhinweis im Gutachten schlicht nicht reagiert hätte. Immerhin war die Stadt über den schlechten Zustand der Halle informiert, hatte aber schon in der Vergangenheit auf notwendige Spezialuntersuchungen und andere Maßnahmen verzichtet. Das Urteil: Freispruch für den Gutachter.

Im Zuge der Revision hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf und verwies das Verfahren an eine andere Kammer des Landgerichts Traunstein zurück. Das Landgericht habe im ersten Urteil „nicht rechtsfehlerfrei dargelegt, dass die Verantwortlichen der Stadt Bad Reichenhall auch trotz solcher Warnhinweise keine Maßnahmen zur Beseitigung der Gefahrenquelle ergriffen hätten“, befanden die Revisionsrichter.

Doch auch der zweite Prozess endete mit einem Freispruch. In der Zwischenzeit waren weitere Versäumnisse der Stadt bekanntgeworden, die „es noch unwahrscheinlicher erscheinen lassen, dass die Beamten anders gehandelt hätten, wenn das Gutachten des Sachverständigen anders ausgefallen wäre“, berichtete „Legal Tribune Online“. Die Ignoranz der Stadtverwaltung bewahrte den Gutachter vor einer Strafe. Das unzureichende Gutachten schützte wiederum die Verantwortlichen der Stadt.

Ebenfalls vor Gericht verantworten musste sich der aufsichtsführende Architekt der Halle, Rolf R. Ihm warf die Staatsanwaltschaft vor, dass er das Gebäude ohne geprüfte Statik errichten ließ und dies unter den Teppich gekehrt habe, als er im Jahr 1975 darauf angesprochen wurde. Auch R. wurde freigesprochen. Nach Ansicht des Gerichts habe Rolf R. nicht die Funktion eines Bauleiters innegehabt, als die Halle gebaut wurde. Somit sei er auch nicht für das Einholen einer Prüfstatik verantwortlich gewesen.

Lediglich der Statiker Walter G. wurde im Jahr 2008 schuldig gesprochen, das Unglück „fahrlässig mitverursacht“ zu haben. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass G. die Statik der Halle falsch berechnet und zudem die zulässige Höhe der Dachträger überschritten hatte. Walter G. hatte Fehler zugegeben. Dass er nun aber als einziger verurteilt wurde, traf auf heftigen Protest seines Verteidigers. Er bezeichnete seinen Mandanten als Bauernopfer, das für die „Vetternwirtschaft und Schlamperei“ der Stadt Bad Reichenhall büßen müsse.

Fortgesetzte Ignoranz

Nach dem Unglück wurde der Gebäudekomplex abgerissen und es begann ein Streit über die zukünftige Nutzung des Geländes. Da mit der Eishalle auch das Schwimmbad abgerissen worden war, plante die Stadt nun gemeinsam mit dem Freistaat Bayern ein Familienbad als Anbau an eine bereits bestehende Therme. Sehr zum Missfallen vieler Bad-Reichenhaller, die sich für den Neubau eines Sportbades auf dem Gelände des ehemaligen Eishallen- und Schwimmbad-Komplexes aussprachen.

Im Februar 2008 kam es bei einem Bürgerentscheid zur Kraftprobe. Rund 53 Prozent der Befragten sprachen sich für ein Sportbad am alten Standort aus. Eine heftige Schlappe, die Bürgermeister und Ratsmehrheit jedoch nicht auf sich sitzen ließen. Im Oktober 2008 beschloss der Stadtrat, entgegen dem Bürgerentscheid zu handeln und das Familienbad an der Therme zu realisieren. Begründet wurde dieses Abweichen vor allem formal: Die Stadt hätte im Falle eines Neubaus am alten Standort alleine für die Planungskosten des dann nicht gebauten Familienbades an der Therme aufkommen müssen. Dieser Eingriff in den städtischen Haushalt stehe dem Bürgerentscheid nicht zu.

Entsprechend fielen die Reaktionen in der Bevölkerung aus. Rund 3.000 Bad-Reichenhaller unterzeichneten einen Protestbrief. Der Liedermacher Hans Söllner protestierte mit einer Besetzung des Geländes. Aber es half nichts. Die Stadt hatte bereits andere Pläne für das Gelände. Vor allem aus fiskalischen Gründen sollte dort der Campus einer privaten Hochschule errichtet werden, was auf den Protest von Angehörigen der Opferfamilien stieß. Doch das Projekt platzte und das Gelände blieb unbebaut.

Fast geplatzt wären auch die Pläne für eine Gedenkstätte am Ort des Unglücks. Die Stadt schaffte es nicht, sich mit allen Angehörigen auf einen Standort zu einigen und sprach sich schließlich mit einem kleinen Kreis ab, um das Mahnmal zu planen – gegen den teils erbitterten Protest der anderen Angehörigen. Dennoch wurde der Künstler Karl-Martin Hartmann beauftragt, der einen Erinnerungsort mit 15 von unten beleuchteten Glasstelen schuf.

Im November 2010 wurde die Gedenkstätte eingeweiht. Die Feierlichkeit geriet zum Eklat, als der Witwer Robert Schromm mit dem verabredeten Zeremoniell brach: „Im Sumpf von Geheimniskrämerei und Vetternwirtschaft gediehen 15 bunte Glasstelen.“ Die Stadt, „die jahrzehntelang an der Sicherheit todbringend gespart hat“, versenke nun „300.000 Euro Steuergeld auf totem Brachland“.

Wenige Jahre nach der Einweihung wurden Mängel am Mahnmal gemeldet. Einige Lampen waren beschädigt, eine Glasstele zersprungen. Die Stadt Bad Reichenhall blieb sich treu. Anstatt die Anlage zu reparieren, zog sie gegen den Künstler und die beteiligten Baufirmen vor Gericht und warf ihnen Konstruktionsmängel vor. Erst zwei Jahre nach den ersten Beschwerden stimmten die Stadträte einem Vergleich zu und gaben 50.000 Euro für die Beseitigung der Schäden frei.

Nichts gelernt?

In den 20 Jahren, die seit dem Unglück von Bad Reichenhall vergangen sind, wurde viel unternommen, um die Einzigartigkeit des Ereignisses zu unterstreichen. Allerdings wurde nur wenig getan, um weitere Unglücke zu verhindern. Zwar ließen einige Städte die Standfestigkeit ihrer Eislaufhallen untersuchen – die große Masse der maroden kommunalen Gebäude modert jedoch weiter vor sich hin.

Allein der Sanierungsstau an den Schulen beläuft sich auf fast 70 Milliarden Euro und steigt jährlich an. Und man darf von Glück sprechen, dass die Decke eines Grundschul-Klassenzimmers im nordrhein-westfälischen Baesweiler vergangene Woche über Nacht einstürzte und nicht während des Unterrichts.

So bleibt auch zum zwanzigsten Jahrestag des Einsturzes der Eislaufhalle von Bad Reichenhall die bittere Erkenntnis, dass das nächste Unglück stattfinden wird – offen ist noch, wann, wo und wer dann die Verantwortung übernimmt. Denn dass es nicht diejenigen sein werden, die für Jahrzehnte des Verfalls und des Herunterwirtschaftens öffentlicher Infrastruktur gesorgt haben, ist nicht erst seit der organisierten Verantwortungslosigkeit von Bad Reichenhall eine ausgemachte Sache.

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"Organisierte Verantwortungslosigkeit", UZ vom 26. Dezember 2025



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