Die gewünschte Verurteilung Russlands durch die G20 fand nicht statt

Schlappe des „Wertewestens“ in Neu-Delhi

Der US-geführte „Wertewesten“ ist unzufrieden. Liest man die 29-seitige Abschlusserklärung des zweitägigen G20-Meetings in Neu-Delhi, so lässt sich dort kaum eine Verurteilung der militärischen Spezialoperation entdecken, mit der sich Russland seit Februar 2022 gegen die Bedrohung seiner Sicherheit durch USA und NATO und die physische Vernichtung russischer Menschen in den Volksrepubliken des Donbass wehrt. Das Kommuniqué stellt fest, dass die G20 ein Forum für internationale ökonomische Kooperation und keines zur Lösung geopolitischer Probleme sei. Es verweist stattdessen auf die Beschlusslage der UN und die Prinzipien der UN-Charta. Minsk II, so ließe sich argumentieren, ist durch UN-Sicherheitsbeschluss Teil des UN-Gesetzeswerks geworden. Hätten der „Wertewesten“ und seine Kiewer Putschisten seine Umsetzung nicht bewusst hintertrieben, was sie im Nachhinein stolz verkündeten, hätte sich der Konflikt – etwas guten Willen vorausgesetzt – sicher lösen lassen. USA und NATO haben den Krieg gewollt – sie haben ihn bekommen. Ähnlich abgewogene Statements finden sich im Kommuniqué auch zum „Getreidedeal“. Auch hier wird die Notwendigkeit der ungehinderten Getreide- und Düngemittelexporte aus Russland und der Ukraine betont. Eine Verurteilung Russlands ist auch hier nicht zu erkennen. Bekanntlich verhindern ja auch die Sanktionen des „Wertewestens“ den ungehinderten Getreidehandel.

Es war die heraufziehende große Krise des neoliberalen Kapitalismus, welche die von den USA geführten westlichen Länder 1999 von der Notwendigkeit überzeugte, zusätzlich zu den im G7-Format vertretenen Hauptstaaten des Washingtoner Orbits einige der boomenden „Schwellenländer“ West- und Ostasiens sowie Lateinamerikas mit an den Verhandlungstisch zu bringen. China erzielte zum damaligen Zeitpunkt zweistellige Wachstumsraten und war bereit, mit erheblichen Konjunkturspritzen für eine krisendämpfende Goldgräberstimmung zu sorgen. Tatsächlich erreichte die Krise im Jahr 2000 die westlichen Hauptstaaten und kehrte in den Jahren 2007 und 2019 mit jeweils deutlich größerer Wucht zurück. Da boten sich die später zu Jahrhundertschurken stilisierten chinesischen Kommunisten geradezu an, den leckgeschlagenen westlichen Wirtschaftskahn wieder in Fahrt zu bringen. Aber keine Frage, Washington war mithilfe seiner Vasallen auch in der G20 klar in der Mehrheit. Es ist es auch weiterhin, selbst wenn nun mit der Afrikanischen Union ein weiteres Mitglied dazugekommen ist. Hinzu kam, dass die „Schwellenländer“ Anfang des Jahrhunderts im Gegensatz zum „Wertewesten“ keinen einheitlichen Block bildeten und in der Regel in der babylonischen Gefangenschaft von IWF, Weltbank, Schulden und US-Dollar-Sanktionen steckten.

Die sich aus dem Krisenbekämpfungsansatz ergebende Interessenparallelität wird seit den 2010er Jahren von dem Versuch Washingtons und seiner Vasallen überschattet, die Unipolarität des „Wertewestens“ – genauer: den Supermachtstatus des US-Imperiums – auf Biegen und Brechen aufrechtzuerhalten. Die erklärten Gegner heißen seither Russland und China. Sie sollen mit hybriden Kriegen (militärisch, technologisch, ökonomisch, monetär, diplomatisch) an ihrer Entwicklung gehindert, strategisch geschwächt, „ruiniert“ (Baerbock) und in letzter Konsequenz entlang ihrer religiösen und ethnischen Gemeinschaften in Konflikte getrieben und aufgespalten werden. Virulent ist der seit der Bukarester NATO-Konferenz 2008 systematisch vorangetriebene Ukraine-Konflikt, in den der Westen dreistellige Milliardensummen investiert hat. Maßgebliche US-Strategiekreise mahnen eine ebenso militante Haltung in Bezug auf China an. Schon wird über den geeigneten Zeitpunkt für den Kriegsbeginn diskutiert, ab dem Taiwan, in der Rolle der Ukraine, das Kanonenfutter gegen die Volksrepublik abgeben soll.

Angesichts dessen kann von einem gleichgerichteten Interesse natürlich keine Rede mehr sein. Das G20-Treffen in Neu-Delhi stand daher unter keinem sonderlich guten Stern. Das gastgebende Bharat, wie Indien nach dem Willen der Modi-Regierung nun genannt werden soll, hatte deswegen ökonomische, ökologische, technologische und frauenrechtliche Themen für das Treffen im Bharat Mandapam IECC-Complex festgelegt. Da die indischen Gastgeber sehr an einem Erfolg des von ihnen gestalteten Treffens interessiert waren, hatten sie mit dieser für den Globalen Süden eminent wichtigen Agenda versucht, die „Ukrainisierung“ (so der russische Außenminister Sergej Lawrow) des G20-Treffens zu vermeiden. Allerdings, was haben die Staaten des US-geführten „Wertewestens“ denn für die Entwicklung des Globalen Südens tatsächlich anzubieten – außer Krieg, Sanktionen, Verleumdungspropaganda und Identitätspolitik?

Das China der Belt-and-Road-Initiative hat gezeigt, dass es die industriellen und infrastrukturellen Fähigkeiten der USA weit hinter sich gelassen hat, und das Russland der militärischen Spezialoperation hat den Krieg gegen die mit allen verfügbaren Mitteln unterhalb der Atombombe hochgerüstete US-Marionette Ukraine gewonnen. Der Globale Süden steht beim BRICS-Bündnis Schlange. Die geopolitische Tektonik hat sich in den letzten 30 Jahren drastisch verschoben. Dass der „Wertewesten“ beim Kommuniqué in diesen für ihn so sauren Apfel gebissen hat, ist nur seiner Angst geschuldet, dass ohne das Zustandekommen dieses Textes das G20-Format gescheitert wäre. Und dass ohne die G20 die Orientierung des Globalen Südens auf den BRICS-Verbund praktisch alternativlos geworden wäre.

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"Schlappe des „Wertewestens“ in Neu-Delhi", UZ vom 15. September 2023



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