Carsten Linnemann ist Generalsekretär der CDU. Von ihm stammt der schöne Satz „Niemand kann erwarten, dass Menschen für ihn bezahlen, die jeden Tag arbeiten gehen.“ Linnemanns Lebenslauf zeigt für ihn laut Wikipedia vier Jahre abhängiges Arbeiten, bevor er Parlamentarier wurde, deren Einkünfte Menschen aufbringen, die jeden Tag arbeiten gehen.
Interessant wäre, wie Raphaël Glucksmann Linnemanns Einlassung versteht. Der Franzose ist „Sonderbeauftragter für die sozialdemokratische Erneuerung“ in der S&D-Fraktion (Fortschrittliches Bündnis von Sozialisten und Demokraten) im EU-Parlament, dem er für die von ihm gegründete und auf ihn zugeschnittene Partei „Place publique“ angehört, einer Abspaltung der französischen „Parti socialiste“. Teil der S&D-Fraktion ist auch die SPD, deren Stiftung das IPG-Journal herausgibt. Darin beweist Glucksmann am 20. November, dass die Erneuerung noch auf sich warten lassen wird.
Er sieht die Krise sozialdemokratischer Politik als europäische und eine der Demokratie an sich und fragt (vor allem sich selbst), was angesichts der Wahlniederlagen falsch gemacht wurde, was Sozialdemokraten denn eigentlich verändern wollen und wie sie das angehen könnten. Dass deren aktuelle Krise auch etwas mit dem Fall des osteuropäischen Sozialismus und der folgenden Abwicklung sozialstaatlicher Errungenschaften in den westeuropäischen Ländern zu tun hat, in denen Sozialdemokraten sich über Jahrzehnte als Verwalter des (wegen des benachbarten Sozialismus) notgedrungen auch an Arbeitende zu verteilenden gesellschaftlichen Reichtums hervortun konnten, kommt ihm nicht in den Sinn. Um zu verhindern, dass Arbeiter heute statt links Le Pen wählen, möchte er gegen „Machtkonzentrationen bei Elon Musk und der KP Chinas“ kämpfen; Sozialdemokraten sind für ihn der echte Schutzwall der Demokratie, weshalb er für „starke Verteidigung gegen Putins Aggression“ wirbt.
Die grundsätzliche Krise der europäischen Sozialdemokratie begann allerdings nicht erst 1990, sondern zu Zeiten, als sie Sätze wie jenen Linnemanns nicht mehr als Kampfansage gegen ein paar Grund- und Produktionsmittelbesitzer verstand, die sich die Arbeitskraft der Vielen aneignen, die jeden Tag arbeiten. Sondern – wie zum Beispiel in Deutschland – als Auftrag zur Bekämpfung ihrer früheren Klientel. Also indirekt ihrer Parteien.


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