Der Fall von Pokrowsk – weitere Orte werden folgen

Selenski sorgt sich um das Narrativ

Kolumne

„Russland steht vor seiner ersten großen Eroberung seit mehr als zwei Jahren“ titelte das „Wallstreet Journal“ am 6. November. Die Einnahme von Pokrowsk sei der bedeutendste Erfolg der russischen Armee seit der Einnahme Bachmuts 2023. Ist das so? Parallel zum Fall Bachmuts scheiterte im Sommer 2023 die groß angekündigte ukrainische Gegenoffensive zur Rückeroberung der Krim. Das Narrativ der NATO-Medien wandelte sich. Statt von „Sieg und Rückeroberung der Grenzen von 1991“ war ab jetzt die Rede von einer „Pattsituation“ auf dem Schlachtfeld. Real rückte seit der Einnahme Awdijiwkas im Februar 2024 die Front, manchmal schnell, manchmal langsam, stetig westwärts. Dabei nahm die russische Armee viele der seit 2014 von den ukrainischen Streitkräften (AFU) zu Festungen ausgebauten Orte im Donbass ein. Sie vertrieb die AFU aus Kursk.

Beate Landefeld
Beate Landefeld

In den NATO-Medien blieb es beim „Patt“. Zum Teil aus Unkenntnis des Charakters eines Stellungskriegs. Aber auch, um Waffenlieferungen, mit denen die Ukraine angeblich eine „bessere Verhandlungsposition“ erkämpfen müsse, sinnhaft erscheinen zu lassen. Dass die Position der Ukraine sich real verschlechterte, je länger der Krieg dauert, verdeckt das Wort „Patt“. Am Ende steht die Niederlage, der man nicht ins Auge sehen will. Die Lageanalyse der Trump-Regierung schwankt. Je nach Opportunität bedient sich Trump der Lageeinschätzung seines (eher realistischen) Gesandten Steve Witkoff und dann wieder der seines Sonderbeauftragten Keith Kellogg, eines Transatlantikers alter Schule, der sich mit Kiew und Brüssel abstimmt.

Zum Treffen in Alaska kam es, weil Putin Offenheit für einen Vorschlag Witkoffs bei dessen Besuch in Moskau gezeigt hatte: Im Gegenzug für den Abzug der AFU aus dem noch besetzten Teil des Donbass, den Russland sowieso bald erobern werde, sollte Putin einem Waffenstillstand in Cherson und Saporischschja zustimmen. Nach der Skandalisierung eines „Gebietstauschs“ durch Selenski, die „EUropäer“, die US-Neocons und ihre Medien ließ Trump die Idee fallen. Er schrieb auf Truth Social: „Nachdem ich die militärische und wirtschaftliche Situation zwischen der Ukraine und Russland kennengelernt und vollständig verstanden habe und nachdem ich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten gesehen habe, die sie Russland bereitet, denke ich, dass die Ukraine mit Unterstützung der EU in der Lage ist, zu kämpfen und die gesamte Ukraine in ihrer ursprünglichen Form zurückzugewinnen.“ (23. September)

Selenski, der bei Besuchen im Weißen Haus immer seine eigene Landkarte mitbringt, frohlockte, Trump glaube jetzt seiner Lageeinschätzung und nicht mehr der von Putin. Hat es sich gelohnt? Die Waffenvorräte der NATO-Länder schmelzen weiter. Die Produktion hinkt dem Bedarf hinterher. Die ukrainische Armee schrumpft trotz brutaler Zwangsrekrutierung. Zugleich geht der Ukraine das Geld aus. Ihre Sponsoren sind selbst hoch verschuldet. Die EU kann sich nicht auf den Einsatz gestohlener russischer Vermögenswerte einigen, weil unklar ist, wer im Zweifelsfall haftet. Zugleich machen Gläubiger und der IWF davon die Konditionen für Kredite abhängig.

Und nun Pokrowsk. Einige der am besten ausgebildeten Brigaden der Ukraine befänden sich noch dort und seien von der Einkreisung bedroht, schreiben Dr. Christian Mölling und Dr. András Rácz auf „ZDF heute“ (7. November). Die Autoren kritisieren, die oberste ukrainische Militärführung mache den selben Fehler wie in früheren Fällen, „nämlich den Rückzug aus unhaltbaren Stellungen erst dann anzuordnen, wenn es bereits zu spät ist“. Für Selenski ist das kein Fehler. Niederlagen pflegt er immer lange zu verbergen. Das Narrativ zu retten, die Ukraine sei am siegen, ist ihm wichtiger als Soldatenleben. Neben Pokrowsk sind zurzeit die Nachbarstadt Mirnograd und die Stadt Kupjansk (Oblast Charkiw) eingekesselt. Weitere Städte stehen kurz davor.

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"Selenski sorgt sich um das Narrativ", UZ vom 14. November 2025



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