„Als ich in der Schule war, hat sich kein Mensch getraut, was ihr hier gerade macht.“ Der Mittvierziger klingt anerkennend. Dankbar und froh sei er, „euch hier zu sehen“. Mit „euch“ meint der Vater die etwa 500 Schülerinnen und Schüler, die sich an diesem 5. Dezember vor dem Burggymnasium in Essen versammelt haben. Später werden es noch mehr. Die Stimmung ist jetzt schon kämpferisch und hoffnungsfroh. Es ist kurz vor halb elf, die Demonstration noch nicht losgezogen.
Wenige Stunden zuvor war noch nicht abzusehen, welcher Erfolg der Schulstreik gegen die Wehrpflicht auch in Essen werden würde. Vier Jugendliche verteilen vor Schulbeginn Flugblätter vor der Frida-Levy-Gesamtschule und werben dafür, später an der großen Demonstration teilzunehmen. Groß scheint das Interesse nicht. Ein Schüler der Gesamtschule kündigt an, er nehme an der Demo später teil. Ein anderer macht vor der Eingangstür kehrt und holt noch einen Flyer für eine Freundin.
Das soll nun ein Schulstreik werden? Die Zweifel schmelzen, als immer mehr Schülergruppen vor dem Burggymnasium eintreffen. Es sind gut 500, als Karen von der SDAJ Essen die Demonstration eröffnet. Sie alle, das zeigt sich im Laufe des Tages, wissen genau, weshalb sie der Schule heute fern bleiben. „Wir sollen zu jung sein, um mitzubestimmen – aber dürfen zum Dienst an der Waffe gezwungen werden?“ Das fragt Julius, Mitglied der Jusos Essen. Bürgerliche Kritik an der Wahl des Mittels kontert er: „Das hier ist politisches Lernen zum Anfassen.“
Nicht wenige der Teilnehmer beteiligen sich zum ersten Mal an einer Demonstration. Ein Novize greift beherzt zu den Streiktüten, die die lokale SDAJ vorbereitet hat. Die sind oben offen. Nach dem ersten Griff in den Bollerwagen muss er einiges vom Boden auflesen. Beim zweiten Gang hält er die Papiertüten richtig. Beim dritten wirkt er schon ganz geübt. Und zufrieden, weil er seinen Beitrag leistet.
Unsere Klassenzimmer schimmeln, sagt eine Schülerin, Schulgebäude sind marode, die Sanitäranlagen desolat. Es sei peinlich, wie wenig die Politik für Schüler tue. Dafür solle sie der BRD etwas „zurückgeben“? Diesen letzten Satz hat auch Karen schon oft gehört. „Wofür? Für das desolate Bildungssystem, teure Freizeit, für zu wenig Ausbildungsplätze?“
Wer sich hier versammelt hat, hat bestimmt nicht das Gefühl, „seinem“ Land etwas „zurückgeben“ zu müssen. „Junge Menschen werden benachteiligt“, stellt Miguel von der Landesschüler*innenvertretung NRW fest. „Wir wollen keinen neuen Krieg! Wir wollen keinen Zwangsdienst!“ Wer glaube, man könne mit Waffen Frieden schaffen, der habe das 20. Jahrhundert nicht verstanden. Schülersprecherin Paula aus Essen nennt die Wiedereinführung der Wehrpflicht „dreist“. Besonders ekelhaft sei, dass sich die Bundeswehr gezielt an Migranten wende. Die Jugend sei kein Kanonenfutter für die Kriege der Herrschenden, unterstreicht sie.
Ein Waldorfschüler aus der 9. Klasse gibt ihr Recht. „Ich habe keinen Bock auf Sterben“, sagt er im Gespräch mit UZ. „Ich will was aus meinem Leben machen, statt als Kanonenfutter zu enden.“ Manche streiken aus Solidarität. Eine Schülerin, die die 13. Klasse einer Gesamtschule besucht, erzählt, sie wolle nicht, dass ihre Geschwister eingezogen würden. „Das jetzt ist nur der Anfang“, ergänzt ein Mitschüler. Die Bundesregierung betreibe Kriegstreiberei. „Wenn wir hier Fußsoldaten brauchen, sind wir eh tot“, stellt er trocken fest. „Deshalb kämpfen wir weiter.“
Der Altersdurchschnitt der Demo ist augenscheinlich niedrig. Manche Schülerinnen und Schüler haben ihre Eltern mitgebracht. Manche langjährig in der Friedensbewegung aktive Senioren sind von sich aus gekommen, um die Jugend in ihrem Kampf gegen die Wehrpflicht zu unterstützen. „Kinder sollen selbst über ihr Leben bestimmen, statt in militärische Zusammenhänge gezwängt zu werden“, fordert Siw Mammitzsch. Die Vorsitzende der DKP Essen hat zwei Kinder, die vom neuen Wehrdienst betroffen sind. Sie widerlegt die Lüge von einer Bedrohung durch Russland, mit der die „Zeitenwende“ propagandistisch durchgedrückt wird. Sie spricht auch ein Thema an, das viele der jungen Rednerinnen und Redner noch nicht so deutlich auf dem Schirm haben: „Wir sind solidarisch mit denen, die heute nicht streiken aus Angst vor Repression.“
Um Viertel vor elf zieht die Demonstration los. „Die Reichen wollen Krieg, die Jugend eine Zukunft“, skandieren die Teilnehmer. Ein Polizist sagt zu seinem Kollegen: „Die sollen erst mal arbeiten gehen, bevor sie von Streik reden.“ Keiner der zahlreichen Polizisten, die die Demo „begleiten“, wirkt beschäftigt. Ihre Aufgabe dürfte die Einschüchterung derer sein, die hier selbst praktischen Politikunterricht organisieren.
Erfolg hat die Polizei nicht. Der Zug der Schülerinnen und Schüler wächst auf dem Weg durch die Innenstadt. Über 1.000 sind es, als die Demo am Helmholtz-Gymnasium vorbeizieht. Dort ist gerade Pause. Hunderte Schülerinnen und Schüler strömen an den Zaun, als ihre Altersgenossen vorbeilaufen. Einige von ihnen berichten, die Schulleitung habe sie daran gehindert, am Streik teilzunehmen. Verständnis für die Anliegen der Schulstreikenden äußern auch viele ältere Passanten.
Als die Demonstration den Europaplatz erreicht, hat sich die Nachricht herumgesprochen, dass der Bundestag den neuen Wehrdienst verabschiedet hat. Entmutigt wirkt niemand. Die Freiwilligkeit sei ohnehin nur vorgeschoben, sagt eine DIDF-Vertreterin. „Die Politiker wissen, dass sie uns freiwillig nicht bekommen.“ Sie rechnet mit einem Losverfahren. Und stellt die richtige Frage: „Wie sicher leben wir in einem Land, das über 200 Milliarden Euro ausgibt, um Kriegstüchtigkeit herzustellen?“
Der Vater einer Teilnehmerin wirbt dafür, den neuen Wehrdienst nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Er weiß, wovon er spricht. Er habe selbst Wehrdienst geleistet, sagt der Vater, und zeigt die Urkunde, die er dafür bekommen hat. „Das bekommt ihr in die Hand, nachdem sie eure psychische Gesundheit, euer Leben zerstört haben“, warnt er. „Seid euch bewusst, dass sie euch mehr abverlangen, als ihr je leisten könnt.“ Wer heute an die Waffe gerufen werde, verteidige die Profite der Waffenindustrie. „Sagt nein zur Wehrpflicht! Verweigert!“







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