Über die Haltelinie hinaus

Von Ulf Immelt

Ein kleiner Riss in der neoliberalen Hegemonie in der Arbeitsmarktpolitik: Ab 1. Januar 2015 gilt der gesetzliche Mindestlohn, den das Parlament im Jahr zuvor beschlossen hatte. Die Kapitalverbände hatten den Mindestlohn bekämpft, die Gewerkschaften in einer Kampagne länger als zehn Jahre dafür gekämpft. Inzwischen ist der Mindestlohn von 8,50 auf 9,19 angehoben worden, er gilt seit vier Jahren – Zeit für eine Bilanz.

Nach einer aktuellen Auswertung von Zahlen des Statistischen Bundesamts und der Agentur für Arbeit bilanzierte der DGB einen Lohnanstieg von 9,4 Prozent seit der Einführung des Mindestlohns für die betroffenen Beschäftigtengruppen. Auch die von der Kapitalseite und deren Wirtschaftsforschern prognostizierte Vernichtung von Arbeitsplätzen hat sich nicht bewahrheitet. Stattdessen stieg die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bis September 2018 um 9,6 Prozent an. Ein weiterer positiver Effekt war die Umwandlung einer vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geschätzten sechsstelligen Zahl von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

Zur Erinnerung: Noch 2014 betrug der Stundenlohn für 2,1 Millionen Lohnabhängige weniger als sechs Euro. 1,15 Millionen Kolleginnen und Kollegen mussten ihre Arbeitskraft für weniger als fünf Euro pro Stunde verkaufen. Das Credo „Hauptsache Arbeit, egal ob man von dieser leben kann“ wurde von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ und anderen Propagandisten des Neoliberalismus als alternativlos dargestellt. Vor diesem Hintergrund war die Einführung des Mindestlohns ein erster Erfolg, diese neoliberale Hegemonie zu durchbrechen. Mit dem Gesetz wurde eine untere Haltelinie gegen den Unterbietungswettbewerb bei der Entlohnung gezogen, von der rund vier Millionen Menschen seit 2015 profitiert haben.Damit war der gesetzliche Mindestlohn ein Schritt in die richtige Richtung. Aber angesichts des immer noch gigantischen Niedriglohnsektors und anderer Formen prekärer Beschäftigung sind weitere Schritte notwendig. Hierzu gehört die Anhebung des Mindestlohns mit dem Ziel, dass dieser endlich existenzsichernd wird und vor Altersarmut schützt. Ausnahmen, wie die für Langzeitarbeitslose oder Jugendliche, müssen abgeschafft werden und wirkungsvolle Kontrollen zur Einhaltung ausgebaut werden. Das Kapital nutzt die Lücken im Gesetz, um den Mindestlohn zu umgehen – etwa durch nicht korrekt erfasste Arbeitszeiten oder nicht bezahlte Überstunden.

Aber auch ein höherer und wirklich für alle geltender Mindestlohn kann nicht alle Verschlechterungen ausgleichen, die das Kapital und seine Regierung seit der Agenda 2010 durchsetzen konnten: Liberalisierung der Leiharbeit, verdeckte Leiharbeit in Form von Werkverträgen, Minijobs sowie sachgrundloser Befristung, unbezahlten Überstunden und unfreiwilliger Teilzeit. Ein weiteres beliebtes Instrument zur „Lohnkostensenkung“ ist die Tarifflucht. Inzwischen sind nur noch 20 Prozent der Betriebe im Ostent tarifgebunden, und auch in Westdeutschland ist die Tarifbindung inzwischen eher die Ausnahme als die Regel.

Der feine Unterschied zwischen Tariflohn und Mindestlohn wird in besonderer Weise bei der Vergabe öffentlicher Aufträge deutlich. Nämlich dann, wenn Unternehmer stolz und mit vermeintlich sozialer Ader verkünden, dass sie ja Mindestlohn zahlen. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass sie ihren Beschäftigten keinen Cent mehr zahlen als das, was das Gesetz als untere Lohngrenze vorschreibt.

Der Mindestlohn ist eine untere Haltelinie im Wettbewerb, zu dem die Unternehmer die Beschäftigten zwingen, er steht für einen Riss in der neoliberalen Hegemonie in der Arbeitsmarktpolitik. Wer darüber hinaus das zurückholen will, was die Angriffe des Kapitals den Beschäftigten in den letzten Jahrzehnten genommen haben, sollte nicht auf Parlamentsbeschlüsse hoffen.

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"Über die Haltelinie hinaus", UZ vom 18. Januar 2019



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