Pläne zur Vertreibung und Ausrottung sowie der Schaffung eines „Groß-Israel“ bleiben bestehen

Völkermord dauert an

In einer einzigen Nacht hat Israels Armee Ende Oktober 104 Menschen im Gazastreifen getötet, darunter 46 Kinder. Bombardiert wurde unter anderem das als humanitäre Zone ausgewiesene Gebiet al-Mawasi, wo Kinder bei lebendigem Leib in Flüchtlingszelten verbrannten. Allein in Nuseirat in der Mitte des Gazastreifens befand sich eine 18-köpfige Familie unter den Todesopfern. Die Behauptung der israelischen Regierung, „Terroristen ausgeschaltet“ zu haben: eine reine Farce. Die Hamas bestreitet, mit dem angeblichen Auslöser, der Tötung eines israelischen Soldaten in Rafah, etwas zu tun gehabt zu haben. Seit Inkrafttreten des „Waffenstillstands“ am 11. Oktober hat die israelische Armee weit über 200 Menschen in der Küstenenklave getötet und weitere 600 verwundet. Die Realität straft die gebetsmühlenartigen Beteuerungen der westlichen Verbündeten Israels tagtäglich Lügen: faktisch gibt es noch nicht einmal eine Verschnaufpause vom Krieg.

Plan zur Durchsetzung der Kriegsziele

Dass weder der Krieg noch die mit diesem verfolgten Ziele ad acta gelegt würden, war bereits offensichtlich, als der US-amerikanische Präsident Donald Trump, dessen Land den Völkermord in Gaza als größter Waffenlieferant Israels und mit politischer Schützenhilfe erst ermöglicht hat, Ende September von „einem der größten Tage der Zivilisation“ schwadronierte. An diesem Tag verkündete er die Zustimmung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zu seinem „großartigen“ Deal in Form eines 20-Punkte-Plans, der den Gaza-Krieg angeblich beenden sollte. Wer den Plan aufmerksam las, konnte sofort wissen, dass er dazu diente, zumindest die mittelfristigen (US-amerikanisch-)israelischen Kriegsziele, die in zwei Jahren nicht umgesetzt werden konnten, doch noch zu realisieren – darunter die von rund 70 Prozent der Palästinenser abgelehnte Entwaffnung der Hamas, also deren vollständige Kapitulation, und eine „Entradikalisierung“ des Gazastreifens. Die Hamas darf gemäß dem Plan auch keine politische Rolle mehr spielen. Zugleich wird die völkerrechtswidrige Besatzung aufrechterhalten, eine militärische Pufferzone soll ebenfalls bestehen bleiben und faktisch einen Teil des Gebiets abtrennen. Von der konkreten Schaffung eines palästinensischen Staates ist derweil keine Rede. Für die Spitze des so genannten Friedensrats, der die geplante Übergangsregierung, der auch internationale „Experten“ angehören sollen, überwachen soll, wurden ausgerechnet Trump selbst, der während des Gazakriegs nicht nur die Küstenenklave – nach ihrer Entvölkerung – zu einer „Riviera des Nahen Ostens“ machen, sondern sie im Februar auch unter US-amerikanischen Besitz stellen wollte, und der ehemalige britische Premier Tony Blair auserkoren.

Keine Waffenruhe

Tatsächlich haben die Waffen nicht einen Tag geschwiegen. Zwar hat Israel die Intensität der Angriffe reduziert, dennoch werden jeden Tag Menschen getötet. Der Apartheidstaat hat alle Verpflichtungen des Abkommens verletzt. Bis heute werden 85 Prozent der für die Grundversorgung der ausgemergelten Bevölkerung benötigten Hilfsgüter blockiert. In den 53 Prozent Territorium des Gazastreifens hinter der sogenannten gelben Linie, in denen die israelische Armee vorerst bleibt, werden Militärstützpunkte auf- und ausgebaut und die Besatzung so verfestigt. Nur in diesem Gebiet soll nach israelischem und US-amerikanischem Willen ein Wiederaufbau stattfinden. Ob vorgesehen ist, dass dort tatsächlich Palästinenser einziehen oder die Häuser israelischen Siedlern übergeben werden, ist unklar. Zudem operiert Israel Hunderte Meter über die „gelbe Linie“ hinaus und hält faktisch bis zu 58 Prozent der Küstenenklave besetzt. Auch setzt die israelische Armee unter Bruch der Waffenstillstandsvereinbarung die Zerstörung ziviler Infrastruktur fort. Die israelische Unterstützung für mehrere mit dem sogenannten Islamischen Staat verbundene Milizen, die für Gewalt gegen die Zivilbevölkerung genauso verantwortlich zeichnen wie für Überfälle auf Hilfskonvois, hält an. Und schweres Gerät wie Bulldozer und Lastwagen lässt Tel Aviv nur zweckgebunden für die Bergung israelischer Leichen in den Gazastreifen hinein. Weder dürfen palästinensische Tote damit unter den Trümmern hervorgeholt werden noch darf die Bevölkerung Gazas beginnen, die 61,5 Millionen Tonnen Schutt wegzuräumen, unter denen ihr Lebensraum begraben liegt.

Der zionistische Traum von Groß-Israel

Eine Verschnaufpause bekommen nicht die Menschen in Gaza, wohl aber die israelische Armee: Mit dem „Zivil-Militärischen Koordinationszentrum“ (CMCC), das das Waffenstillstandsabkommen überwachen soll, und der Internationalen Sicherheitstruppe (ISF), die nur mit israelischer Genehmigung agieren darf und laut dem US-amerikanischen Vizepräsidenten J  D Vance die Hamas entwaffnen soll, entstehen zwei Gremien, die letztlich den „Job“ Israels machen. Das CMCC ist seiner Pflicht, israelische Verstöße gegen das Waffenstillstandsabkommen zu ahnden oder auch nur zu kritisieren, bislang nicht einmal annähernd nachgekommen. Während der Anschein erweckt wird, Israel habe den Krieg beendet, und daran gearbeitet wird, die Vernichtungskampagne der letzten zwei Jahre stillschweigend unter den Teppich zu kehren, können sich die israelischen Truppen stärken, ihre Ausrüstung auf Vordermann bringen und sich neu gruppieren.

Der Krieg ist genauso wenig vorbei wie die Pläne zur Vertreibung und Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung ad acta gelegt worden sind. Bestehen bleibt als Ziel neben der Annexion des gesamten historischen Palästina auch die großer Teile Syriens, des Libanon, Jordaniens, Ägyptens, des Iraks und Saudi-Arabiens, um den lebendigen Traum eines Groß-Israel zu realisieren. Das kolonialistisch-imperialistische Projekt des Zionismus hatte seit Anbeginn die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung – sowohl in Palästina als auch weit darüber hinaus – zum Ziel, wie schon im Jahr 1920 die US-amerikanische King-Crane-Kommission feststellte. Zahlreiche zionistische Führungspersönlichkeiten wie auch der Staatsgründer David Ben Gurion haben dies in eindeutigen Äußerungen kundgetan – vielfach bereits vor Verabschiedung des UN-Teilungsplans. Nach Jahrzehnten der Entwürdigung, Entrechtung, Vertreibung, Folter, willkürlichen Inhaftierung und Bekriegung der palästinensischen Bevölkerung hat Israel in den letzten zwei Jahren auch denjenigen, die noch Zweifel hegten, seinen Vernichtungswillen überdeutlich gemacht:

Die Bilanz nach zwei Jahren Genozid ist unerträglich. An die 69.000 Menschen wurden nach offiziellen Zahlen getötet, wobei fast ein Drittel der Opfer unter 18 Jahre alt war. Außerdem wurden etwa 540 humanitäre Helfer und über 1.700 Mitarbeiter des Gesundheitswesens getötet, über 960 Mitarbeiter des Bildungswesens sowie 254 Journalisten. Wie die unabhängige globale Gewaltbeobachtungsstelle ACLED (Armed conflict Location & Event Data) feststellt, waren 15 von 16 der seit März, nach dem Scheitern der Waffenruhe, Getöteten Zivilisten. Etwa 170.000 Menschen wurden zudem verletzt, viele davon schwer, oftmals mit Verstümmelungen. Insgesamt sind nach offiziellen Angaben mehr als 10 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens getötet oder verletzt worden. Abweichend von den offiziellen Todeszahlen gehen Experten – zum Beispiel in einer bereits im Sommer 2024 im medizinischen Fachjournal „The Lancet“ veröffentlichten Untersuchung – von bis zu 186.000 Todesopfern aus.

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Beisetzung nicht identifizierter Palästinenser in Deir al-Balah (Foto: PRCS)

Infrastruktur und Landwirtschaft zerstört

Im Gazastreifen sind über 90 Prozent der Gebäude zum Ziel von Angriffen geworden. Fast 340.000 wurden zerstört oder beschädigt. Auch 62 Prozent der Straßen wurden zerstört. Etwa 213 Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen und 1.029 Schulen wurden attackiert. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind nur noch 14 der 26 Krankenhäuser in der Küstenenklave teilweise funktionsfähig. Die Krankenhäuser im südlichen Gazastreifen sind völlig überlastet. 660.000 Kinder können nicht zur Schule gehen, weil laut UN-OCHA 97 Prozent der Schulgebäude teilweise oder vollständig beschädigt sind. Zudem wurden dreiundsechzig Universitätsgebäude zerstört. Insgesamt hat Israels Militär mehr als 200.000 Tonnen Sprengstoff über dem Gazastreifen abgeworfen und dabei Schäden in Höhe von über 70 Milliarden US-Dollar verursacht. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 4,9 Millionen der 61,5 Millionen Tonnen Schutt, unter der die Küstenenklave begraben liegt, mit Asbest verseucht.

Wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schon im April berichtete, waren bereits zu diesem Zeitpunkt 83 Prozent der landwirtschaftlichen Brunnen und 71 Prozent der Gewächshäuser beschädigt worden. Die Wasserversorgungssysteme sind zusammengebrochen, so dass 96 Prozent der Haushalte im Juli von Wasserknappheit betroffen waren. Vor 2023 machte die Landwirtschaft einen Anteil von rund 10 Prozent der Wirtschaftsleistung Gazas aus. Etwa ein Viertel der Bevölkerung verdiente seinen Lebensunterhalt in der Landwirtschaft und der Fischerei. Heute sind nur noch 9 Prozent des Ackerlands überhaupt erreichbar, nur 1,5 Prozent davon sind noch für die Kultivierung geeignet. Ähnlich wie den Bauern Gazas ergeht es den Fischern: während sie vor dem Oktober 2023 jährlich rund 5.417 Tonnen aus dem Mittelmeer fischen oder in Fischfarmen anzüchten konnten, hat die israelische Armee den Zugang zum Meer verboten. Auch solche „Maßnahmen“ sind – neben der Blockade von Hilfsgütern – Teil der israelischen Strategie, Hunger als Kriegswaffe einzusetzen.

Jahrzehntelang vorbereitetes Aushungern

Auch wenn es der israelische Ministerpräsident Netanjahu als „glatte Lüge“ bezeichnet hat: laut dem integrierten System zur Phasenklassifizierung der Ernährungssicherheit leiden mindestens 514.000 Menschen und damit fast ein Viertel der Bevölkerung des Gazastreifens in Folge der Aushungerungskampagne Israels unter einer Hungersnot. Die Gesundheitsbehörden im Gazastreifen geben an, dass bis Anfang Oktober mindestens 177 Menschen, darunter 36 Kinder, an Hunger und Unterernährung gestorben sind. Nach Angaben des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen leiden über 60 Prozent der schwangeren Frauen und Mütter an Unterernährung. Mindestens 2.340 Menschen wurden getötet, als sie sich auf der Suche nach Nahrrungsmitteln oder anderen Hilfsgütern befanden, etwa die Hälfte davon in der Nähe militarisierter Versorgungslager des längst als Mittäter beim israelischen Völkermord entlarvten Gaza Humanitarian Fonds.

Der Einsatz von Hunger als Waffe durch Israel im Gaza-Krieg war auch deshalb in diesem Ausmaß möglich, weil man ihn seit Jahrzehnten vorbereitet hat. Systematisch wurde der Aufbau einer Selbstversorgung unmöglich gemacht. Dov Weisglass, der Berater des damaligen israelischen Premiers Ehud Olmert, brachte das israelische Agieren 2006 auf den Punkt: „Die Idee ist, die Palästinenser auf Diät zu setzen, aber sie nicht verhungern zu lassen.“ Genau­estens wurde berechnet, wie viele Kalorien ein Mensch zum Überleben braucht. Die Regierung in Tel Aviv wusste bestens Bescheid, wann eine Hungersnot einsetzt, und hat sich – wie die Aussagen zahlreicher hochrangiger Politiker und Militärs schon aus dem Oktober 2023 belegen – bewusst dafür entschieden. Dass Israel als Besatzungsmacht für die Versorgung der Bevölkerung Gazas verantwortlich ist und dafür auch mit dem „unabdingbaren“ UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge UNRWA zusammenarbeiten muss, hat der Internationale Gerichtshof (IGH) jüngst zweifelsfrei festgestellt.

Experten der Vereinten Nationen haben in mehreren unabhängigen Untersuchungen bestätigt, dass Israel im Gazastreifen einen Genozid begeht. Alles deutet darauf hin, dass dieser keinesfalls beendet ist, sondern – zumindest vorerst – mit anderen Mitteln fortgeführt wird. Unser aller Augen müssen weiter auf Gaza gerichtet sein. Die Proteste für Freiheit, Selbstbestimmung und Würde der Palästinenserinnen und Palästinenser dürfen nicht abebben. Es wird Zeit, dass die Mittäter, darunter auch Deutschland, endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Gerade erst ist bekannt geworden, dass die Bundesregierung im Prozess wegen Beihilfe zum Völkermord vor dem Internationalen Gerichtshof unvollständige Angaben gemacht – oder mit deutlicheren Worten: wahrscheinlich gelogen – hat.

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"Völkermord dauert an", UZ vom 7. November 2025



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