Ende Mai fand in Hannover eine Veranstaltung unter dem Titel „Niedersachsen – Zentrum der Militarisierung“ statt. Wir dokumentieren an dieser Stelle redaktionell leicht bearbeitete Auszüge aus dem Vortrag von Lühr Henken, Ko-Vorsitzender des Bundesausschusses Friedensratschlag.
Niedersachsen liegt im Vergleich der 16 Bundesländer wirtschaftlich und demografisch jeweils im oberen Viertel. Nach Bayern verfügt es über die zweitgrößte Fläche aller Bundesländer, mit acht Millionen Einwohnern liegt es demografisch auf Platz 4. Auch das Bruttoinlandsprodukt mit rund 381 Milliarden Euro bringt Niedersachsen 2024 auf Platz 4 bundesweit. Bemerkenswert ist die folgende Analyse des ifo-Instituts: „Im vierten Quartal 2024 hat die Wirtschaftsleistung nur in fünf der sechzehn Bundesländer im Vergleich zum Vorquartal zugenommen.“ Platz 1 belegte Niedersachsen mit einem Plus von 1,4 Prozent. Der Kommentar des ifo-Experten: „Die Industrie im Norden entkoppelt sich von der gesamtdeutschen Entwicklung, wobei der Aufschwung in der Rüstungsindustrie hier eine zentrale Rolle spielt. “
Niedersachsen weist in Norddeutschland einen Spitzenplatz auf: Es hat die höchste Anzahl von Bundeswehr-Dienstposten aller Bundesländer. Das sind über 40.000. Bei der Stationierungsdichte, das heißt bei der Zahl der Dienstposten pro tausend Einwohner, belegt Niedersachsen Platz 3. Das kommt nicht nur bei der Verbreitung von Heeresliegenschaften, sondern auch bei Luftwaffe und Marine zum Ausdruck.
Kampfflugzeuge und Transporter
Die deutsche Luftwaffe verfügt über insgesamt acht Geschwader. Sechs davon werden von Kampfflugzeugen gebildet. Dazu kommen ein Lufttransport- und ein Hubschraubergeschwader. Drei der sechs Kampfflugzeuggeschwader befinden sich in Norddeutschland, eines davon in Wittmund (Niedersachsen). Der Standort Wittmundhafen des taktischen Luftwaffengeschwaders 71 „Richthofen“ wird seit dem Jahr 2022 neu gebaut. Die 28 Eurofighter und auch die Alarmrotte sind derweil nach Laage in Mecklenburg-Vorpommern umgezogen. Die zwei Eurofighter der Alarmrotte steigen bei Luftraumverletzungen von dort binnen 15 Minuten mit scharfer Munition in den Himmel.
Für die Sanierung des Flughafens Wittmund sollen mehr als 725 Millionen Euro verbaut werden. Dazu gehört auch eine 3.000 Meter lange Start-und-Lande-Bahn. Im August sollten die ersten Eurofighter in Wittmund den Anfangsbetrieb aufnehmen. Für die Alarmrotte ist der Start für das 3. Quartal 2026 angesetzt. Wittmund wird nach Abschluss der Arbeiten im Jahr 2032 der modernste Fliegerhorst der Bundeswehr sein.
Das einzige Lufttransportgeschwader der Luftwaffe überhaupt ist in Wunstorf bei Hannover. Es umfasst 1.820 Dienstposten. Für den strategischen Luftwaffentransport stehen dort Airbus A400M bereit. Der A400M ist eigens so konstruiert worden, dass er entweder zwei Kampfhubschrauber „Tiger“, einen Transporthubschrauber NH-90, einen Schützenpanzer Puma, ein gepanzertes Transport-Kraftfahrzeug (GTK) „Boxer“ oder 116 Soldaten mit Ausrüstung weltweit transportieren kann. Fallschirmspringer und Lasten können während des Fluges abgesetzt werden. Mit 30 Tonnen Zuladung fliegen die Airbusse 4.500 km am Stück. Bisher sind 47 A400M ausgeliefert worden, bis 2026 sollen es 53 Maschinen werden. Als Start- und Landebahn genügen ihnen ein Kilometer Sand- oder Lehmpiste. Sie gelten als „Kampfzonentransporter“. Das ausgeklügelte Transportkonzept ermöglicht erstmals die schnelle weltweite Verlegung von Truppen samt Kriegsmaterial. (…)
Der größte Marinestandort
Die Flotte der deutschen Marine ist organisatorisch zweigeteilt: Vom Marinekommando in Rostock aus werden die Einsatzflottille 1 in Kiel und die Einsatzflottille 2 in Wilhelmshaven geführt. Der Einsatzflottille 2 in Wilhelmshaven gehören die großen Überwasserkampfschiffe des 2. und 4. Fregattengeschwaders sowie das Trossgeschwader an. Das Trossgeschwader besteht aus den drei größten Schiffen der Marine, den drei Einsatzgruppenversorgern, zwei Betriebsstofftransportern sowie drei Schleppern. Wilhelmshaven ist mit seinen 8.500 Dienstposten sowohl der größte Marinestandort als auch der größte Bundeswehrstandort Deutschlands.
Für elf Fregatten ist Wilhelmshaven der Heimathafen. Sie sind in drei Klassen unterteilt, die jeweils spezialisiert sind auf Luftbekämpfung, U-Boot-Jagd und Überwasserseekrieg. Die Zielplanung der Marine sieht vor, die Zahl der Fregatten bis 2035 auf 15 bis 16 zu erhöhen und zusätzlich drei Kriegsschiffe für weitreichende Raketen (Large Remote Missile Vessels) in Dienst zu stellen. Nicht nur verdoppelt sich dadurch beinahe die Zahl der Einheiten in den nächsten zehn Jahren, sondern auch die Größe der Kriegsschiffe wird so in der Summe verdreifacht. Dadurch werden deren militärische Fähigkeiten drastisch gesteigert. (…)
Zusätzlich erhalten sie die Fähigkeit des „Maritime Strike“. Hinter diesem Amerikanismus verbirgt sich „der Schlag ins Landesinnere“. Aktuell prüft die Marine dafür die Möglichkeit der Beschaffung von Tomahawk-Marschflugkörpern für die Einrüstung auf Fregatten. US-amerikanische Tomahawk haben eine Reichweite von etwa 1.600 km bei einer Zielabweichung von fünf Metern. Beispielsweise vom Rostocker Hafen aus ließe sich damit Moskau direkt beschießen. Sämtliche deutsche Überwasserkampfschiffe, die in Wilhelmshaven bis 2035 stationiert werden, sollen mit weitreichenden Marschflugkörpern ausgestattet werden. Die Kosten werden explodieren: die sechs neuen Fregatten der Klasse F 126 – auch Niedersachsen-Klasse genannt – werden etwa 10 Milliarden kosten, die sechs der Klasse 127 schlagen schon mit 15 Milliarden Euro zu Buche.
Die deutsche Marine ist schon jetzt die größte aller NATO-Anrainer der Ostsee. Die NATO-Überlegenheit dort gegenüber der russischen Marine ist groß. Bei hochseegängigen Kriegsschiffen liegt das Verhältnis bei 18 zu 8 und bei U-Booten 11 zu 1. Deutschlands Aufrüstung zur See verdreifacht die Zahl der Überwasserkampfschiffe und die Zahl der U-Boote wird auf mindestens das Zweieinhalbfache anwachsen.
Für die Marine von großer Bedeutung ist der Standort Nordholz bei Cuxhaven für die Flugzeuge des Marinefliegerkommandos. Von militärischer Bedeutung ist darin das Marinefliegergeschwader 3 „Graf Zeppelin“, dem ab diesem Jahr acht Düsenjets Boeing P-8 A Poseidon für die Seefernaufklärung unterstellt werden. Besser als ihr Vorgängermodell sind sie auch geeignet, die so genannte GIUK-Lücke zwischen Grönland und Island und zwischen Island und Großbritannien zu überwachen – hier insbesondere die Bewegung der russischen Nordmeerflotte mit ihren U-Booten. Die Flugzeuge erhalten zum Versenken der U-Boote Torpedos, die in bis zu 750 Meter Tiefe ihr Ziel treffen. (…)
In Cuxhaven arbeitet seit 2007 das Maritime Lagezentrum See und seit 2017 mit seinem Kern, dem Maritimen Sicherheitszentrum (MSZ). Es ist eine gemeinsame Einrichtung des Bundes mit den fünf Küstenländern. 100 Beschäftigte bilden eine „schlagkräftige Organisation für die Seeraumüberwachung, zur Verbesserung der Gefahrenabwehr und des Unfallmanagements in deutschen Küstengewässern“. Beteiligt sind unter anderem die Bundespolizei, der Zoll, die Marine und die Wasserschutzpolizeien der Länder. Künftig soll das MSZ eine zentrale Rolle bei der Überwachung der Unterwasser-Infrastruktur in der Ostsee erhalten.
Wenig bekannt ist die Mastsendeanlage in Saterland. Das liegt zwischen Ramsloh und Rhauderfeen. Es ist die einzige Sendeanlage zur verschlüsselten Kommunikation mit den deutschen U-Booten – auch im getauchten Zustand. Die acht Masten sind jeder fast so hoch wie der Berliner Fernsehturm. (…)
Panzer und Kasernen
Oldenburg ist Standort des Kommandos einer der drei Heeresdivisionen der Bundeswehr. Die dortige 1. Panzerdivision soll 2027 den Status der „Kaltstartfähigkeit“ erreicht haben. Von dort erhalten etwa 18.000 Heeressoldaten ihre Befehle. Oldenburg ist in Norddeutschland der höchstrangige Heeresstandort. Teile der 1. Panzerdivision haben sich vielfältig an den NATO-Kriegsübungen ab Ende Februar 2024 beteiligt.
Niedersachsen beheimatet den größten Truppenübungsplatzkomplex in Deutschland und in Westeuropa. Die miteinander verbundenen Übungsplätze Bergen, Munster-Nord und Munster-Süd nutzen zusammen eine Fläche von 458 Quadratkilometern. Sie ist mehr als halb so groß wie Berlin. Die Garnisonsstadt Munster ist zugleich der größte Heeresstandort Deutschlands mit rund 5.300 Dienstposten. Hier befindet sich die Panzertruppenschule mit ihren Lehrbataillonen für Kampf- und Schützenpanzer sowie Artillerie und Feldjäger. Hier erfolgt die Ausbildung ukrainischer Soldaten an Leopard-Panzern und Marder-Schützenpanzern.
Das Fallschirmjägerregiment 31 in Seedorf gehört zur Luftlandebrigade 1 in Saarlouis, die wiederum Bestandteil der Division Schnelle Kräfte ist. Das Seedorfer Regiment umfasst 1.800 Soldatinnen und Soldaten. Sein Auftrag sind Spezialisierte Operationen wie Militärische Evakuierungen und bewaffnete Rückführungen. (…)
Das Eloka-Bataillon 912 in Nienburg/Weser52 ist ein Verband der Fernmeldetruppe Elektronische Aufklärung und Kampf (EloKa) der Bundeswehr. Das Bataillon umfasst circa 650 Soldaten und Zivilisten. (…)
Das Transporthubschrauberregiment 10 in Faßberg/Niedersachsen ist der Division Schnelle Kräfte des Heeres unterstellt. Seine Mannschaftsstärke beträgt 1.200 Soldaten und 85 Zivilbedienstete. Die Staffeln fliegen mit 36 mittleren Transporthubschraubern NH-90. NH-90 sind taktische Hubschrauber. Sie werden eingesetzt zur Führung und Aufklärung von Einsätzen, können aber auch die gegnerische Flugabwehr unterdrücken. (…)
Das Panzergrenadierbataillon 33 in Neustadt am Rübenberge mit 1.220 Dienstposten ist eines von insgesamt neun Panzergrenadierbataillonen. Hauptwaffe sind 44 Schützenpanzer „Puma“. Ihre Aufgabe: „Aufgesessen ist die Hauptaufgabe der Kampf gegen feindliche Infanterie und Panzerverbände in offenem Gelände, abgesessen aufgrund ihrer Ausrüstung vorrangig gegen feindliche Infanterie in teilbedecktem Gelände.“ Das halbe Bataillon aus Neustadt befindet sich seit vier Monaten in Litauen im Einsatz. Es ist Teil der neuen Litauen-Brigade.
Das Jägerbataillon 91 in Rotenburg (Wümme) mit 1.540 Dienststellen ist eines von insgesamt sechs Jägerbataillonen und der Panzerbrigade 21 Lipperstadt unterstellt, die wiederum der 1. Panzerdivision in Oldenburg unterstellt ist. „Auftrag der Jägertruppe ist der Kampf gegen Infanterie im Mittelgebirge, in Wäldern und bebauten Gefechtsräumen. (…) Jägersoldaten zeichnet die besondere Befähigung zum Einsatz in urbanem und sonstigem schwierigen Gelände aus.“ Ihr Hauptwaffensystem ist der Radpanzer GTK „Boxer“. (…)
Expandierende Kriegsindustrie
Unterlüß ist der Hauptstandort der Rheinmetall-Sparte Landsysteme. Zugleich ist es der größte Rheinmetallstandort weltweit. Dort sind 2.500 Leute beschäftigt. Hergestellt und nachgerüstet werden hier Schützenpanzer „Puma“. Für die Ukraine fit gemacht wurden und werden dort Schützenpanzer „Marder“ und „Leopard-1“- und „Leopard-2“-Panzer. Für die Flugabwehrpanzer „Gepard“, die in der Ukraine im Einsatz sind, wird seit Mitte 2023 Munition produziert.
Der Standort Unterlüß erfährt einen immensen Wachstumsschub. Eine neue Munitionsfabrik nimmt Mitte dieses Jahres die Produktion auf. Begonnen wird mit 50.000 Artilleriegranaten, im kommenden Jahr wird auf 100.000 gesteigert. Der Höchstausstoß von 200.000 dieser 155-mm-Granaten, der für 2027 angesetzt ist, soll auf 350.000 erhöht werden. Unterlüß wird dann hinter einem spanischen Rheinmetall-Standort der zweitgrößte Hersteller von Artilleriemunition in Europa sein. Eine Granate kostet etwa 5.000 Euro, sodass dann mit einem Granatenumsatz von 1,75 Milliarden pro Jahr zu rechnen ist. Hinzu kommen noch 1.900 Tonnen RDX-Sprengstoff und 3.000 Motoren für Artillerieraketen für mittlere Mehrfachraketenwerfer und für US-amerikanische „HIMARS“. Rheinmetall unterhält in Unterlüß das größte im Privatbesitz befindliche Waffenerprobungsgebiet in Europa. Es misst 50 Quadratkilometer.
Rheinmetall expandiert in Niedersachsen. Es kauft in Osnabrück das Unternehmen Hagedorn-NC, einen Hersteller von Schießbaumwolle. Das ist ein Bestandteil für Treibladungspulver in Munition aller Art. Hagedorn hat 90 Beschäftigte. Ebenfalls in Osnabrück zeigt sich Rheinmetall-Chef Papperger interessiert am dortigen VW-Werk. (…) Um die von Werksschließung betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Continental-Werks in Gifhorn aufzufangen, haben Continental und Rheinmetall vereinbart, dass Mitarbeiter ins expandierende Werk in Unterlüß übernommen werden können.
In Walsrode wurde eine Firma, die seit vielen Jahrzehnten Nitrocellulose herstellt, vom slowakischen sehr stark expandierenden Rüstungskonzern CSG übernommen. Nitrocellulose wird zur Herstellung von Schießpulver benötigt, das in Artilleriemunition Verwendung findet.
In Hannover liegt die Zentrale der Firma Hanomag Lohnhärterei. Sie macht mit 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 13 Niederlassungen einen Umsatz von 130 Millionen Euro. Seit 2022 bearbeitet die Firma Hülsen für 120-Millimeter-Artilleriegeschosse von Rheinmetall. Das macht nur 1 Prozent ihres Umsatzes aus. Aber das Geschäft soll wachsen. In Hannover-Bothfeld liegt die Zentrale der Firma Nass Magnet. Sie liefert seit einem Jahrzehnt Ventile an Hersteller von Torpedos.