Atempause in der Halbleiterkrise und Suche nach Auswegen

Vorläufig vorbeigeschrammt

Wer nicht tiefer schaut, kann erst einmal aufatmen: Die vor einer Woche drohende Gefahr, dass die Bänder bei VW und anderen Autobauern in Deutschland stillstehen, scheint zumindest für den Rest des Oktober und die ersten Novembertage abgewendet. Vorläufig produzieren sie, Nachfrage nach ihren Autos vorausgesetzt, mindestens in der nächsten Woche weiter. Die Verlautbarungen aus den Konzernen betonen aber das „vorläufig“ – die Krise ist noch nicht vorüber.

Vordergründig liegt die Ursache für die neuen Probleme im rabiaten Angriff der US-Regierung auf die in den Niederlanden tätige Firma „Nexperia“, die früher zum Philips-Konzern gehörte und mit einem Marktanteil von 40 Prozent weltweit der größte Anbieter von Halbleitern ist (UZ vom 24. Oktober). Die kleinen „Chips“ sind in fast jedem Auto zu Hunderten verbaut. Nun gehört Nexperia inzwischen einem chinesischen Mutterkonzern, und da die US-Regierung in ihrem Wirtschaftskriegs-Wahn gegen China Tausende von Tochterunternehmen chinesischer Konzerne auf die Sanktionsliste gesetzt hat, hat China seinerseits die Lieferung von Halbleitern in die Niederlande gestoppt.

Die Autokonzerne hatten ihre Lager schon vor Jahrzehnten weitgehend aufgelöst und im Zuge ihrer „Just-in-time“-Verschlankungsprogramme auf die Autobahnen und Schienen verlegt. So kommt es, dass die Chipvorräte schnell verbraucht sind, obwohl diese pro Stück nur wenige Cent kosten und kaum Lagerraum in Anspruch nehmen.

Der drohende Stopp der Produktionsbänder bei den Autokonzernen scheint nach hektischen weltweiten Zusammenkäufen aller verfügbaren Nicht-Nexperia-Chips zumindest für die deutschen Konzerne vorerst abgewendet. Weil das Problem tiefer liegt, wird die Atempause nicht von Dauer sein. Recht zutreffend hat der 2. Vorsitzende der Gewerkschaft, Jürgen Kerner, auf der 1. Industriekonferenz der IG Metall Ende September ein dramatisches Bild der Lage gezeichnet. Kerner warnte davor, der sich beschleunigenden Erosion von Industriearbeitsplätzen in diesem Lande weiter tatenlos zuzusehen. Völlig zu Recht wies er auf Folgendes hin: „An jedem Industriearbeitsplatz hängt öffentliche Infrastruktur, hängt die Finanzierung von Schulen, Kitas, Schwimmbädern, Theatern, der Dienstleistungssektor, das Handwerk. Wo Standorte geschlossen werden, gehen die Lichter auch im öffentlichen Raum buchstäblich aus. So wachsen Ängste, Zweifel und Abwehrreflexe. So wächst die Ungleichheit.“

Die Beschreibung der Entwicklung ist zutreffend. Was also tun? Neben dem allgemeinen Ruf nach öffentlichen Investitionen schlägt Kerner als weiteres Element einer Lösung vor: „Wir haben da einen einfachen, aber wirksamen Vorschlag: Local Content muss zur verbindlichen Bedingung werden. In Form verbindlicher Quoten, Pflichten und Auflagen. Überall, wo öffentliche Gelder fließen, öffentliche Vergaben ausgeschrieben werden, wo Förderprogramme aufgelegt werden – überall, wo Milliarden in den Umbau investiert werden, muss ein großer Teil der Wertschöpfung und Produktion hier bei uns stattfinden – in Deutschland und Europa.“

Das ist im Kern ein Plädoyer für ein weiteres Einmauern im begrenzten Raum der EU mit ihren 450 Millionen Menschen. Die Frage, ob das nicht ein zu hoher Preis ist, um sich von den BRICS-Staaten mit ihren weit über 3,5 Milliarden Menschen noch mehr als bislang abzuschotten, statt sich ihm mutig zu öffnen, wird von Kerner noch nicht einmal thematisiert.

Wer glaubt, mit dem Motto „Kauft und baut deutsch!“ – kosmetisch auf den schöneren Begriff „Europa“ aufgehübscht – die gegenwärtige Krise lösen zu können, führt die arbeitenden Menschen dieses Landes auf einen Holzweg.

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"Vorläufig vorbeigeschrammt", UZ vom 31. Oktober 2025



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