Ein Gruß an das UZ-Pressefest

Wie der Monopolkapitalismus sein eigenes Hirn frisst

Herzlich und dankbar möchte ich heute alle grüßen, die dafür sorgen, dass die UZ erscheint und die DKP existiert – nicht nur bei Wahlen, sondern als beständiger, unverzichtbarer, fordernder, organisierter Streit um und für eine Politik, die sich nicht damit abfindet, dass das, was bürgerliche Medien „Krisen“ nennen, die meisten Leute überfällt wie eine Reihe undurchschaubarer Naturkatastrophen, obwohl es von Menschen gemacht ist.

Gefeiert wird hier ein Pressefest. „Die Presse“ ist im Monopolkapitalismus allerdings eine Einrichtung, die derzeit unter anderem predigt, es gäbe für Leute, die nicht auf Rosen gebettet sind, eine moralische Pflicht zum Verzicht: kälter duschen, enger wohnen, karger essen. Wofür? Für die Umwelt, für die Ukraine, für die Kinder, für die Katz. Die Auflagen, Einschaltquoten, Klickraten, Anzeigenerlöse und Reichweiten, die man mit solchen Predigten erzielt, sind bescheidener als früher.

Ich arbeite im Journalismus. Verlässliche und fähige Kolleginnen und Kollegen fragen sich und mich da manchmal: Für wen schreiben wir, für wen wird das alles gedruckt, gesendet, gestreamt, online publiziert? Ich weiß es nicht, ich kann nicht hellsehen. Aber ich weiß, wer sich von vielen journalistischen Angeboten gerade abwendet. Ich denke da etwa an den jungen Mann in meiner Verwandtschaft, der auf dem Land lebt, Auszubildender im Rettungswesen; der hat seine Sanitäter-Lehrzeit jetzt abgebrochen, weil er sich das Benzin für die Fahrt zur Ausbildungsstätte, zu der ihn kein öffentliches Verkehrsmittel in vertretbarer Fahrtzeit bringt, nicht mehr leisten kann. Ich denke auch an die junge Frau in meiner Bekanntschaft, die ihr Soziologiestudium geschmissen hat, weil sie nach drei Semestern zu der Überzeugung gelangt ist, dass sie kein braves Schaf sein möchte, dessen Hausarbeiten niemand anderer je lesen wird als nur der Schäfer, nämlich ihr Professor, und seine unsicher beschäftigte Hirtenhündin, also Assistentin. Denen obliegt die Kontrolle: Ihre Lämmchen sollen nicht zu weit von der Herde wegdenken. Nichts von dem aber, so sagt mir die ehemalige Studentin, was man ihr an dieser Uni erzählt hat, hilft ihr dabei, was sie wissen will: Wo sind die Versprechungen hin, die der Kapitalismus ihren Eltern zur Herstellung von Massenloyalität zwischen 1945 und 1990 hat erzählen lassen? Das ging so: „Leute, ihr habt zwar nichts, was euch erlaubt, die Arbeitskraft anderer zu kaufen, ihr habt auch kein Wohneigentum, das Mieten melkt, und keine Rüstungsfabriken, die Kriege profitabel machen. Ihr habt überhaupt die Sorte Eigentum nicht, mit dem man unbeschadet durch Pandemien, Dürre, Hitze, Frost, Krieg, Geldentwertung und viele andere Heimsuchungen kommt, ja: sogar an ihnen verdient. Aber ihr könnt rackern und sparen, dann seid ihr im Alter unabhängig und eure Kinder haben Rückenwind.“

Viele können nicht fassen, dass das nicht mehr gelten soll. Sie schnappen deshalb über und erklären das Platzen des alten Traums mit den Machenschaften allmächtiger Drahtzieher: Bill Gates oder George Soros betreibt die Massenverarmung, und bald werden allen Menschen Chips eingepflanzt, um die Seelen zu zerstören. Die Wahrheit ist: Wenn es solche Chips gäbe, würde kein Protest, kein alarmistischer Podcast und kein Verbraucherschutz die Leute davor schützen. Wahnideen wie diese Chiptheorie zehren also von der geheimen Ahnung umfassender Ohnmacht der Mehrheit. Klare Analyse, klares Programm, klarer Kurs dagegen sind anstrengender als Paranoia, denn sie stellen eine riesenhafte Aufgabe: Die Abschaffung der vorhandenen Produktionsweise, die auf Ausbeutung, Gewalt und Lüge gründet.

Manche, die vom System nichts Gutes zu erwarten haben, schrecken vor dieser Aufgabe zurück und suchen ihr Heil stattdessen in Gruppenzugehörigkeiten, von denen sie sich die geliehene Kraft versprechen, die nötig ist, das, was noch produziert wird, in künftigen Stammeskämpfen so aufzuteilen, dass für sie ein bisschen herausspringt. Auf diesem Weg entstehen Manövriermassen für Klassenspaltung, für Faschismus und Krieg. Wer auf diese beschissenen Pferde setzt und selbst kein Kapital hat, wird sich bestenfalls in Trümmern wundern, wie 1945.

Wollte man auch nur die kleinbürgerlich-nostalgische Parole „Es gibt Chancen für alle in der allgemeinen Konkurrenz!“ wahrmachen, so müsste man die Monopole zerschlagen, und dann kann man gleich was Besseres einrichten als „Alle gegen alle“. Wer sich lieber mit der Trillerpfeife und dem Querdenkerschild auf die Straße stellt, aber nicht begreifen will, dass die Unfairness und die Unterdrückung, die beklagt werden, nicht von irgendwelchen Geheimherrschern, sondern von der gesamten Ausbeutungsgesellschaft permanent reproduziert werden, weil Ausbeutung ohne Unterdrückung und Lüge nicht funktioniert, wird das minimale Bündniswissen verfehlen müssen, das verlangt: Keine Spaltung nach Herkunft und anderen Umständen, für die niemand was kann! Denn wo die Nichtbesitzenden noch nach derlei sortiert werden können, wird man sie aufeinander hetzen können, und die herrschende Klasse lässt sich niemals eine Gelegenheit dazu entgehen. Jeder kleinste Schritt in jeden sozialen Konflikt hinein, der kein Klassenkampf ist, bedeutet für die Beherrschten ein Zurückweichen. Bei keinem Krieg zum Beispiel haben sie jemals irgendetwas zu gewinnen. Mehr: Jede anteilige Erhöhung der staatlichen Rüstungsausgaben einer imperialistischen Gesellschaft, egal mit welcher Begründung, ist eine schwere Niederlage aller, die kein Kapital besitzen. Wer verstehen will, was in dieser Sache gerade los ist, braucht keine Geheimdokumente oder Hintergrundhoroskope. Ein gutes zeitgeschichtliches Nachrichtenarchiv genügt. Wer sich 2022 orientieren will, könnte darin nachsehen, was sich getan hat zwischen dem ersten Besuch des damals nicht sonderlich profilierten Enddreißigers Joseph R. Biden auf der Münchner Wehrkundetagung (seither umgetauft in „Sicherheitskonferenz“) im Jahr 1980 und der Gegenwart – man müsste einfach nur eine Linie ziehen von 1980 bis zur Rede desselben Herrn Biden an derselben Stätte rund fünfunddreißig Jahre später, zur Zeit der Präsidentschaft von Barack Obama. Biden, inzwischen Vizepräsident, konnte dabei befriedigt feststellte, die NATO habe bei seinem Münchner Debüt nur fünfzehn Mitglieder gehabt, inzwischen aber seien es achtundzwanzig. Wer die hier von Biden, also nicht von irgendeinem Verschwörungsspinner oder Linksradikalen skizzierte Linie weiterzieht, erkennt sofort, wozu die NATO da ist.

Jahrzehntelang stabile linke Bündnisse aber zerbrechen 2022 in Auseinandersetzungen darüber, wer den Brand gelegt hat, der uns alle gerade entsetzt, und lassen die Einigkeit darüber verloren gehen, dass sich ohne Röntgenblick, per Aktenlage, erkennen lässt: Es ist völlig egal, wie oft sich die NATO das Eigenlob „Feuerwehr“ auf ihre Helme malt, sie tut seit ihrer Gründung nachweislich etwas ganz anderes als Brände zu löschen und Not zu lindern, sie wächst und wuchert.
Diese Selbstverständlichkeiten findet man in Massenmedien nicht, aber auch die angeblich oppositionellen, rechten „alternativen Medien“ malen lieber wirre Wimmelbilder von Vampiren in Übersee und Gruselgeschichten über eine angebliche „linke Diktatur“, die immer auf denselben Käse hinauslaufen: Früher war’s besser, entweder im „Reich“, dem zweiten oder dritten, oder im „christlich-sozial-liberalen“ Kapitalismus der alten BRD. Sie wollen in die Vergangenheit, beseitigt werden soll alles Neue, Fremde, Komplizierte. Es ist verbitterter, holzdummer, gefährlicher Kinderkram, getarnt als pausbäckiger Angriff auf „den Staat“ und „die Elite“, ein Mummenschanz, der, wie Walter Benjamin sagt, den Enttäuschten zu ihrem Ausdruck verhilft, aber nicht zu ihrem Recht.

Argumentiert wird nicht, erklärt wird nicht, verstanden wird nichts. Wo A und B ernsthaft politisch streiten, ist die stärkste Waffe stets ein Argument, dessen Geltung beide anerkennen müssen. „2 und 2 ist 4“ gilt unabhängig von gegensätzlichen Meinungen, sogar unabhängig von gegensätzlichen materiellen Interessen. In der DDR, von der die prokapitalistische Propaganda gern lügt, es habe da keine politischen Auseinandersetzungen gegeben, sondern nur diktatorisches Verwaltungshandeln, rang man um den richtigen Kurs unter Aufbietung exakt solcher „2 und 2 ist 4“-Argumente, etwa Produktivitätsziffern und Plandaten. Es gab zum Beispiel zwei Positionen in der Wohnungsbaupolitik: Soll man neue Wohnungen zuerst an Leute vermieten, die nach dem sozialistischen (also: politisch durchgesetzten, nicht von zufälligen Konjunkturlaunen abhängigen) Leistungsprinzip zu den besser Qualifizierten und daher besser Bezahlten gehören, damit sie mit jeder Mietzahlung einen Gemeinnutzen erbringen, nämlich den Wohnungsbau finanzieren? Oder soll man stattdessen diese neuen Wohnungen dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund übergeben, der sie Bedürftigen zuteilt? Das kann man diskutieren, für beides wurden Argumente vorgebracht.

Im Monopolkapitalismus kann es keine vergleichbare politische Diskussion geben. Denn worüber soll man debattieren, wenn etwa der Immobilienkonzern Vonovia den Immobilienkonzern Deutsche Wohnen frisst, irre Profite erzielt und beim hemmungslosen Fressen dann so viel Appetit kriegt, dass die Mieten gleich mal erhöht werden?

Hier stehen nicht, wie im Kampf um die beste Wohnungspolitik im Sozialismus, zwei politische Richtungen einander gegenüber, die argumentieren, um sich durchzusetzen. Zwischen Raubtier und Beute kann es keine Verständigung geben. Der Klassenkampf ist kein Richtungsstreit. Dazu kommt, dass es fürs seriöse Argumentieren, das sich Wesentliches zum Gegenstand nimmt, das alle betrifft, gar keine ausreichend großen Foren gibt.

Die meisten noch halbwegs reichweitenstarken Medien im Monopolkapitalismus können sich gar nicht mehr damit befassen, Analysen und Programme dar- und vorzustellen. Sie haben keine Gelegenheit zum Abstand, zum Nachdenken über das Gegebene.

Denn verkaufen müssen diese Medien „Inhalte“, deren Verbreitung mehr und mehr nach dem Modell der „likes“ und Retweets bei Twitter funktioniert.

Große Redaktionen, private wie öffentlich-rechtliche, mühen sich damit ab, alles, was da jeweils gedruckt, gesendet, gestreamt und online publiziert wird, den Trends der Suchmaschinen anzupassen (es, wie man euphemistisch sagt, zu „optimieren“).

Zusammenhängendes, geordnetes Argumentieren aber ist für den Klickreflex zu langsam, zu schwerfällig. Die Maschinerie bevorzugt das, was sofort Aufmerksamkeit erregt, Ängste, Empörung, Grauen, Gier.
Der ideelle Gesamtartikel heißt: „Anlage-Tipps von Hitlers nackter Urenkelin“.

Die kompetente Redakteurin und der erfahrene Redakteur erleben hier die Entwertung ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Urteilsgrundlagen. Sie werden davon entmutigt, bis sie die Gegenwehr gegen die algorithmische Automatisierung aufgeben. Niemand hat Rom gegen die einfallenden Barbaren oder Byzanz gegen die muslimischen Heere verteidigt; die Bevölkerung war von der Misswirtschaft der herrschenden Klassen abgestumpft und erschöpft. Vorgänge in den bürgerlichen Medien und der Kulturindustrie, die diesem Muster entsprechen, sind als Überbau-Phänomene Widerspiegelungen tieferer Prozesse. Marx hat diese mit Stichworten wie „Anarchie der Produktion“, „naturwüchsig“ und „Konzen-tration des Kapitals“ beschrieben und Lenin ihren Rahmen als „faulenden und sterbenden Kapitalismus“ kenntlich gemacht.

In der Epoche des Konkurrenzkapitalismus, zur Zeit der Industrialisierung, erlebten Medien, Künste und Wissenschaften noch fiebrige Scheinblüten. Gute Ideen mochten Einzelnen Aufstiegswege eröffnen. Unterm Monopoldiktat aber wird Intelligenz abgewürgt, nicht stimuliert. Das Kapital verhält sich wie gewisse Meerestiere, etwa die Seescheide. So ein Viech sucht sich einen Stein, an dem es sich festsaugt, und fischt dann nur noch in der Strömung nach vorbeitreibendem Futter, wobei es sein eigenes Zentralnervensystem abbaut, das heißt: es langsam auffrisst. Gegen diese Dekadenz also steht die UZ mit ihrem Pressefest. Mein Verwandter, der seine nützliche Ausbildung abbrechen musste, meine Bekannte, die ihr Studium hingeschmissen hat, wissen inzwischen, was täglich mehr Menschen lernen: dass der Monopolkapitalismus ihnen keine Perspektive bietet. Ob (und gegebenenfalls: wann) sie sich dazu aufraffen werden, Gegenentwürfe kennenzulernen, die den korrekten Begriff von der herrschenden Sauerei haben, der handlungsfähig macht, kann niemand vorhersehen.

Aber wenn‘s passiert, brauchen sie das, was dieses UZ-Pressefest feiert: Köpfe, Archive, Quellen des Wissens und der Tat.


Bücher von Dietmar Dath sind im UZ-Shop erhältlich: uzshop.de


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"Wie der Monopolkapitalismus sein eigenes Hirn frisst", UZ vom 26. August 2022



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