Neunter Verhandlungstag im Prozess um den Polizeimord an Mouhamed Dramé in Dortmund: Strategie der Strafverteidiger kristallisiert sich heraus

„Wir sind nicht davon ausgegangen, dass er eine Gefahr für andere war“

Vielleicht war ein „Hey!“ das erste, was Mouhamed Lamine Dramé von dem Polizeieinsatz gegen ihn mitbekam, nach dem er starb, von Kugeln durchsiebt. Vielleicht war es ein Pfiff. Vielleicht nahm der 16-jährige Geflüchtete nichts davon wahr.

Der Polizeibeamte S., heute 33 Jahre alt, war bei diesem Einsatz am 8. August 2022 in der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth in der Dortmunder Nordstadt dabei. Er war einer der vier Zivilpolizisten, die die Lage sondierten, bevor ihre uniformierten Kollegen in Stellung gingen und die Kaskade an polizeilichen Zwangsmaßnahmen lostraten, die mit der Fesselung des niedergeschossenen Jugendlichen endete. S. soll der erste Polizist gewesen sein, der versuchte, in Kontakt mit Mouhamed Dramé zu treten. Der lehnte an einer Kirchwand in einer Mauernische in dem fast gänzlich geschlossenen Innenhof der Einrichtung. Mouhamed habe dort mit freiem Oberkörper gelehnt, ein rotes Shirt um den Hals hängen gehabt und ein Messer in der linken Hand gehalten, erzählt S. im Zeugenstand. Der Junge habe „sehr apathisch“ gewirkt.

Seit Ende Dezember müssen sich fünf der Polizisten vor dem Landgericht Dortmund für den tödlichen Einsatz verantworten. S. ist nicht angeklagt. Er wurde als Zeuge geladen für den neunten Verhandlungstag, am 20. März. „Er hat auf mein ‚Hey!‘ nicht reagiert, auch nicht auf mein Pfeifen“, sagt S. aus. Stattdessen habe „die Person“, so nennt S. Mouhamed Dramé, „wieder zu Boden geschaut“. Sein Kollege habe dann probiert, den Jugendlichen auf Spanisch anzusprechen. Der Kollege habe seinen Körper abgesenkt, um „ins Blickfeld der Person zu kommen“.

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Mouhameds Brüder Sidy Dramé (links) und Lassana Dramé (rechts) nehmen als Nebenkläger an dem Prozess teil. In der Bildmitte der Dolmetscher (Foto: Valentin Zill)

Mouhamed Dramé sprach kein Deutsch und wohl nur wenig Spanisch. Dafür Wolof, Mandinka, Französisch und Arabisch. Mouhamed kommt aus Ndiaffate, einem kleinen Dorf in Senegal. Er floh über das Mittelmeer nach Spanien. Er war noch nicht lange in Deutschland, als die Polizei sein Leben beendete. In Dortmund war er erst gut eine Woche vorher angekommen. Hätten die Polizisten ihn aufgefordert, das Küchenmesser wegzulegen, das er sich an den Bauch hielt, er hätte sie nicht verstanden.

Keiner der zwölf an dem Einsatz beteiligten Polizisten tat das.

Auch der Einsatz des Pfeffersprays durch Jeannine Denise B. wurde Mouhamed Dramé nicht angekündigt. Man habe allerdings sich gefragt, sagt der Zeuge S., ob man nicht direkt tasern solle. Dienstgruppenleiter Thorsten H. habe das verneint, weil das Mouhamed gefährden könne. Thorsten H. habe sich für Reizgas entschieden, nachdem ein Kollege in zivil mitgeteilt habe, dass Dramé nicht reagiere. S. findet das „logisch“, seiner Erfahrung nach ließen „Messertäter“ ihr Messer nach dem Einsatz von Pfefferspray fallen, weil sie sich über den Kopf wischen würden. In dieser Situation habe er das Reizgas für das mildeste Mittel gehalten.

Tatsächlich habe Mouhamed Dramé sich mit der rechten Hand über den Kopf gewischt, nachdem das Reizgas ihn getroffen habe, sagt S. Das Messer habe er weiter in der linken Hand gehalten. Dann habe er aufgeschaut und sei auf die Polizisten zu gegangen – „einen Schritt langsam, dann halt schnell“. Wie der Jugendliche dabei seinen Kopf gehalten habe, könne er nicht mehr sagen. Die Haltung seiner Arme und das Messer habe er nicht gesehen. „Unglaublich kurz“ nach dem Taser-Einsatz habe Fabian S. geschossen, „fünf Mal vielleicht“. „Dauerfeuer war es nicht“, legt der Vorsitzende Richter Thomas Kelm dem Zeugen in den Mund.

Oberstaatsanwalt Carsten Dombert fragt S., wieso einer seiner Kollegen in zivil so nah an Mouhamed getreten sei. Es habe geheißen, der Jugendliche sei suizidal, sagt S. „In erster Instanz sind wir nicht davon ausgegangen, dass er eine Gefahr für andere war.“ Deshalb habe sein Kollege den empfohlenen Sicherheitsabstand von sieben Metern unterschritten. Er selbst sei bewaffnet gewesen, habe seine Dienstwaffe aber nicht gezogen gehabt. Die Situation sei bedrohlicher geworden. Dombert hakt nach: „Was war für Sie bedrohlich?“ Dass Mouhamed sich selbst habe richten wollen, behauptet S., und nicht ansprechbar gewesen sei. Das habe bei ihm für ein „immer schlechteres Gefühl“ gesorgt. „Das klingt für mich nach Ratlosigkeit“, entgegnet Dombert.

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Oberstaatsanwalt Carsten Dombert und Staatsanwältin Gülkiz Yazir beraten sich kurz vor Beginn des neunten Prozesstags. (Foto: Valentin Zill)

Wie schwer Mouhamed Dramé verletzt war nach den Schüssen, sei ihm nicht bewusst gewesen. Er habe sich noch auf der Trage im Rettungswagen bewegt. „Wir konnnten die Fesselung nicht lösen, obwohl wir das aus medizinischen Gründen machen wollten“, behauptet S. Im Krankenhaus habe das dortige Personal die „Fixierung“ übernommen.

Nach der Vernehmung des Zeugen S. gibt Lars Brögeler eine Prozesserklärung ab. Er verteidigt Jeannine Denise B., die Mouhamed Dramé mit dem Reizgas angegriffen haben soll. Man habe ja viel gelesen über den Vorwurf, dass man die statische Lage habe statisch halten müssen. Ihm sei bewusst geworden, dass man die Perspektive wechseln müsse, schwadroniert Brögeler. Im Vordergrund habe gestanden, dass die statische Lage jederzeit habe kippen können in eine dynamische und Mouhamed Dramé sich das Messer in den Bauch hätte rammen können.

Ein verzweifelter Jugendlicher in einer psychischen Ausnahmesituation, fern seiner Familie, fern seiner Heimat – von fürsorglichen Polizisten mit Pfefferspray und Tasern angegriffen und mit Kugeln durchsiebt, damit er sich nicht ersticht.

Für das Urteil des Landgericht Dortmunds wird entscheidend sein, ob der Einsatz von Anfang an rechtswidrig war – so sieht das die Staatsanwaltschaft –, oder der unangekündigte Einsatz polizeilicher Zwangsmittel „gerechtfertigt“ war, um Mouhamed Dramé vor sich selbst zu schützen. Folgt das Gericht der Argumentation von Brögeler, könnte ein Freispruch für mindestens vier der fünf Angeklagten drin sein.

Bis auf den Hauptangeklagten Fabian S. sind alle Beamten weiterhin im Polizeidienst. Sie wurden nur anderen Wachen zugeteilt.

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Die Richter und Schöffen um den Vorsitzenden Richter Thomas Kelm (Bildmitte) (Foto: Valentin Zill)

Für den neunten Prozesstag war noch eine weitere Zeugin angekündigt gewesen, Frau J. aus der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth. Sie ist nicht da. Staatsanwältin Gülkiz Yazir verlässt den Gerichtssaal, um die Einrichtung anzurufen. Die Richter und Schöffen ziehen sich zurück. „Sie hat keine Ladung bekommen“, meldet Richter Kelm kurz darauf. Und meint achselzuckend: „OK, dann ist Schluss für heute.“

Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.

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