Ein Video und ein Rundumschlag

Zack, zack, zack

Von Anne Rieger

Vor ihrem Rücktritt hat die österreichische Regierung eine lange Wunschliste des Kapitals abgearbeitet.

Wieder darf sich Sebastian Kurz als Saubermann präsentieren: Gegenüber den korrupten Phantasien seines Ex-Vizekanzlers Heinz-Christian Strache steht er als seriös und nicht korrumpierbar dar. Strache hatte sich filmen lassen, wie er vor den letzten Wahlen davon gesponnen hatte, die „Kronen-Zeitung“ unter Kontrolle zu bringen: „Zack, zack, zack“. Nun hat Kurz das Wodka-Video genutzt, um die türkis-blaue Koalition aufzulösen. Die Umfragen deuten an, dass er nach den vorgezogenen Nationalratswahlen im Herbst erneut österreichischer Bundeskanzler wird.

Die Bilanz seiner bisherigen Regierung zeigt: Kurz hat in rasantem Tempo die Vorgaben der großen Konzerne umgesetzt – nur, im Gegensatz zu Strache, kontrolliert, offen und nüchtern.

526 Tage war die Regierung Kurz im Amt. Ihre neoliberalen Angriffe kamen so zackig, dass Linken, Sozialdemokraten und protestierender Zivilgesellschaft kaum die Luft zum Widerstand reichte. Unter dem Mantel pointiert ausländerfeindlicher Sozialpolitik hat sie die neoliberalen Angriffe auf die gesamte Arbeiterklasse und unteren sozialen Schichten zugedeckt. Die trotzdem notwendige Ablenkung von ihren ökonomischen Attacken auf die Mehrheit der Bevölkerung vernebelte sie mit Themenhäppchen wie Polizeipferde, Konzentrieren von Asylwerbern in Lagern, Albanienroute, Ausreisezentren oder der Aufhebung des Rauchverbots in Gaststätten. Die Veröffentlichung ihrer Attacken platzierte sie in die Ferien, vor oder nach Feiertagen und lässt sie mit „Message Control“ – manche nennen das „Operation Gleichklang“ – verkünden.

Bereits seit Jahren hatten Unternehmer die jeweiligen rot-schwarzen Regierungen dazu gedrängt, die Arbeitszeit zu „flexibilisieren“, Steuerreformen zu ihren Gunsten und den Sozialabbau voranzutreiben. Aus Sicht des Kapitals lieferten diese Regierungen nicht schnell genug, während gleichzeitig die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) ihre Anhänger verärgerte und enttäuschte. Im Mai 2016 wurde der SP-Kanzler Werner Faymann gestürzt, aber auch seinem Parteikollegen, Manager und Nachfolger Christian Kern gelang es nicht, die radikalen Forderungen der Unternehmer zu befriedigen. Der junge, agile Sebastian Kurz, damals Außenminister der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), sollte der sein, der den Crash der regierenden Koalition vorbereitete und umsetzte. Sein Team und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) nutzten den Zu- und Durchzug flüchtender Menschen nach und durch Österreich, um im Wahlkampf ausländerfeindliche Ängste zu schüren.

Noch 2013 hatte Strache als Oppositionsführer den 12-Stunden-Tag zu einer „asozialen, leistungsfeindlichen Idee“ erklärt, „da dies für alle Arbeitnehmer Nettolohnverluste bedeuten würde“. Mit ihrem Wirtschaftsprogramm im Wahlkampf 2017 stellte sich die FPÖ dann aber als Stoßtrupp der Industriellenvereinigung vor. Bei der vorgezogenen Wahl im Herbst 2017 erzielten ÖVP und FPÖ hohe Stimmengewinne und bildeten als Wahlsieger und Wahldritter eine Regierungskoalition.

Im vergangenen Jahr veröffentlichte der „Kurier“ eine Liste von 489 Beispielen für „Gold Plating“. Damit ist gemeint, dass das österreichisches Recht höhere Mindeststandards vorschreibt als die EU, dass es also die EU-Vorgaben „übererfüllt“. Der Großteil der Beispiele stammte von Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer, die sie der Regierung gemeldet hatten, um lästige Beschränkungen abschaffen zu lassen. Die Regierung Kurz lieferte. Schon vorher, im Wahlkampf für die Präsidentenwahl 2016, hatte Norbert Hofer als FPÖ-Kandidat verkündet: „Sie werden sich noch wundern, was alles gehen wird.“


Arbeitszeit verlängert

Die zulässige Höchstarbeitszeit ist von 10 auf 12 Stunden am Tag und von 50 auf 60 Stunden in der Woche angehoben worden.

Gleichzeitig wurde die vorgeschriebene Ruhezeit zwischen zwei Schichten im Gaststättengewerbe von 11 auf 8 Stunden gekürzt.

Viermal im Jahr können Beschäftigte von der Wochenendruhe ausgenommen werden.

Im Frühjahr dieses Jahres verloren 300 000 Protestanten, Altkatholiken und Methodisten ihren bisher freien Karfreitag.

Das Antrittsalter zur Altersteilzeit wurde um zwei Jahre auf 55 Jahre für Frauen, 60 Jahre für Männer angehoben.

Das faktische Renteneintrittsalter soll an das gesetzliche herangeführt werden.

Demokratie angegriffen

Die Regierung hatte geplant, die Jugendvertrauensräte in den Unternehmen abzuschaffen – das Gegenstück zur Jugend- und Auszubildendenvertretung in Deutschland. Diesen Angriff konnten die Gewerkschaften abwehren.

Die Gebietskrankenkassen werden zentralisiert, Entscheidungen gegen die Stimmen der Unternehmen sind nicht mehr möglich – Selbstbehalte drohen.

Sicherungshaft für bestimmte Gruppen von Asylbewerbern ist geplant.

Arbeiterkammern sollen weniger Geld erhalten oder gänzlich entmachtet werden.

Die Journalisten des öffentlichen Rundfunks ORF werden drangsaliert, er soll in einen Staatsrundfunk umfunktioniert werden.

Der Statistik Austria wird eine Million Euro gekürzt. Das Statistikamt arbeitet bisher ohne inhaltliche Weisungen aus dem Kanzleramt – für Kurz‘ Nachrichtenkontrolle gelegentlich ein Problem.

Ausbau der türkis-blauen PR-Armee: Der Bundespressedienst ist unter der Organisationseinheit „Regierungssprecher“ von 70 auf 120 Stellen ausgeweitet worden.

Razzia im Bundesamt für Verfassungsschutz – anscheinend wollte der FPÖ-Innenminister so an Informationen über Erkenntnisse des Geheimdienstes über rechte Gruppen kommen.

Das Bundesheer wird aufgerüstet. Die Regierung hat den Umbau der Republik geplant: Bei der Finanzmarktaufsicht, den Bundesbeteiligungen, dem Verfassungsschutz.

Rassismus gefördert

In allen Politikbereichen und in vielen Pressestatements hat Türkis-Blau die Schablone gelegt: Inländer gegen Ausländer. Ihr Schwerpunkt lag auf Abschottung und Abschreckung. Mit diesem Konzept hatten sie die Wahlen gewonnen. Diese Propaganda verdeckt, dass es kein Geld gibt für Sozialwohnungen, zu wenig für Kinderbetreuung, Bildung, Sprachkurse, aktive Arbeitsmarktpolitik und Sozialhilfe. Abschiebungen nehmen zu. Für gemeinnützige Arbeiten darf Asylbewerbern nicht mehr als 1,50 Euro pro Stunde gezahlt werden. Jugendliche Asylbewerber sollen hinter Stacheldraht eingesperrt werden.

Immer wieder werden Verbindungen zwischen FPÖ und offenen Faschisten öffentlich – angeblich Einzelfälle. Die Liste der Einzelfälle wird länger:

Verstrickung der FPÖ mit Identitären

Das rassistische Rattengedicht, das der (inzwischen zurückgetretene) FPÖ-Vizebürgermeister von Braunau veröffentlicht hatte.

FPÖ-Abgeordnete sind auf Facebook in einer Gruppe, die den Hitlerfaschismus verherrlicht.

Ein FPÖ-Lokalpolitiker nannte die französische Fußball-Nationalmannschaft nach deren WM-Sieg auf Facebook „Kongo-Affen“.

Der Grazer Vizebürgermeister der FPÖ sprach auf dem rechtsextremen Treffen der „Verteidiger Europas“.

Der FPÖ-Spitzenkandidat für die niederösterreichische Landtagswahl, Vizevorsitzender einer Burschenschaft, hatte Nazi-Liederbücher zu Hause.

Steuern gesenkt – für Reiche

Den neuesten neoliberalen Höhepunkt ihres Sozialabbaus, die Kürzung der Sozialhilfe, ließ die schwarz-blaue Regierung drei Tage nach Ostern im Parlament beschließen. Einen Tag vor dem 1. Mai verkündete sie ein weiteres Klientelgeschenk: Steuersenkungen für Besserverdienende und Unternehmer.

Die drei unteren Steuerstufen sollen abgesenkt werden. Ein hübsches Geschenk der Regierung für die unteren Einkommen, soll uns suggeriert werden. Aber Spitzenverdiener fallen mit ihren ersten 18000 Euro Jahreseinkommen ebenfalls in die unterste Steuerstufe, mit 60000 in die dritte Stufe. Reiche profitieren damit weit mehr von der Absenkung als kleine und mittlere Einkommen. Bei einem Monatseinkommen von 500 Euro brutto wird man jährlich 100 Euro weniger Steuern zahlen müssen, bei 4 500 monatlich beträgt die Steuersenkung bereits 1 329 Euro. Ein geschicktes Umverteilungsmanöver der Regierung, hinter das man nicht so leicht blickt. Und da die unteren Einkommensbezieher ja auch geringfügig profitieren, merken sie nicht, dass die oberen Einkommensbezieher die eigentlichen Profiteure dieser Umverteilung sind.

Einen ähnlichen verschleierten Steuercoup für ihre Klientel hatte die Regierung schon im vergangenen Jahr ausgeheckt, den sogenannten Familienbonus. Bei einem Einkommen von 3 000 Euro im Monat und drei Kindern erhält man bis zu 4500 Euro Steuererlass. Bei nur 1 200 Euro monatlichem Einkommen erhält man aber nur 258 Euro jährlich. Es wird also nicht gekürzt, aber Reiche profitieren erheblich stärker.

Die Senkung der Umsatzsteuer von 13 auf 10 Prozent bei Hoteliers dagegen wurde offensiv realisiert. Verdeckter wiederum das Geschenk der Absenkung der Beiträge zur Unfallversicherung. Bisher zahlten die Unternehmen 1,4 Milliarden Euro jährlich an Versicherungsbeiträgen. Die Regierung senkte diese Summe um 470 Millionen Euro. Offen ist noch, wer die notwendigen Leistungen in Zukunft zahlen wird. Möglicherweise sollen private Versicherungen die Lücke füllen.

Arbeitslosen- und Krankenversicherungsbeiträge für Geringverdiener werden gestrichen, das wird als „Zuckerl“ für Geringverdiener verkauft. Tatsächlich handelt es sich um eine Lohnnebenkostensenkung für die Unternehmen. Dadurch werden sich die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen verringern. Auch hier bleibt die Frage: Wer wird dafür zahlen?

Verkündet wurde am 1. Mai die Absenkung der Körperschaftssteuer von 25 auf 21 Prozent. Woher wird das Geld kommen? Im Moment nimmt der Staat wegen der günstigen Konjunktur viele Steuern ein: „Allein in 2018 sind die Einnahmen um 8,6 Milliarden Euro gestiegen, die Zinsen entlasten das Budget bis 2022 um 1,2 Milliarden Euro“, berichtet Sustala, Ökonom der Agenda Austria. 8,6 Milliarden Euro Entlastung durch die Steuerreform werden den Menschen insgesamt angekündigt. Wer wird was bekommen?

Sozialleistungen gekürzt

Die türkis-blaue Regierung hat gekürzt …

das Arbeitslosenförderbudget.

bei der Unfallversicherung, um ein Drittel.

bei der Mindestsicherung. Allein in der Steiermark sind rund 6 000 Kinder von der Streichung der 13. und 14. Monatsrate der Mindestsicherung betroffen. Der Verlust der Wohnunterstützung trifft 11 000 Steirer.

bei Beziehern mit angeblich zu geringen Deutschkenntnissen: 300 Euro Abzug.

bei Frauenprojekten und Frauenberatungsstellen.

bei Ausbildungsvergütungen im überbetrieblichen Bereich.

Die Familienbeihilfe wird für Kinder, die im Ausland leben, an die Lebenshaltungskosten des jeweiligen Landes angepasst. Das betrifft zum Beispiel 24-Stunden-Pflegerinnen, die zum Arbeiten nach Österreich kommen.

Bundesmittel für zusätzliche Kindergartengruppen werden nicht einmal um den Inflationsausgleich erhöht.

Kleine Erfolge im Abwehrkampf

Den Plan der Regierung, die Jugendvertrauensräte abzuschaffen, konnte die Gewerkschaftsjugend abwehren – der bisher größte Erfolg des Widerstandes gegen den neoliberalen Generalangriff. Der Widerstand begann unmittelbar nach der „Angelobung“ – Vereidigung – der Regierung.

Die Gewerkschaftsjugend sammelte 40000 Unterschriften, stellte einen Antrag im Parlament, informierte in und außerhalb der Betriebe. Der Protest der Gewerkschaftsjugend beim Kongress des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) im vergangenen Sommer ging durch die sozialen Medien: Als die Sozialministerin der FPÖ sprach, kamen Jugendliche mit verklebten Mündern und gefesselten Armen zur Bühne und stellten sich vor die Ministerin. Die Regierung zog kürzlich ihre Abschaffungspläne zurück.

Im Juni vergangenen Jahres, während der Sommerferien, demonstrierten 100000 Menschen in Wien gegen die Verlängerung der Höchstarbeitszeit. Da die Gegenwehr nur dieses eine Mal so stark war, konnte sie nur marginale Veränderungen am Gesetz erzwingen. Gegen die Kürzungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik gingen hunderte, gegen die Entmachtung in den Gebietskrankenkassen, gegen die Zerschlagung der Unfallversicherung tausende Menschen in Wien und anderen Landeshauptstädten auf die Straße. So wurde die Unfallversicherung nicht zerschlagen – „nur“ gekürzt.

Aus der Zivilgesellschaft entwickelten sich Donnerstagsdemos, eine Tradition der 2000er Jahre. Seit Anfang Oktober gibt es sie wöchentlich in Wien, zwei mal im Monat in Graz, in den anderen Landeshauptstädten unregelmäßig. Am Jahrestag der Angelobung der Regierung wurde in Wien demonstriert, dort auch gegen den Akademikerball. Ebenso haben sich Fridays-for-Future-Demos der Schüler entwickelt. Am 8. März gab es Demos und natürlich sehr große Maiaufmärsche in vielen Städten. Allein in Wien kamen 120000 Kolleginnen und Kollegen.

Die Tarifverhandlungen der verschiedenen Fachgewerkschaften wurden erstmalig eingeleitet mit einer gemeinsamen Konferenz aller Tarifverhandler. Sie forderten „für alle Branchen Planbarkeit, Selbstbestimmung, Rechtssicherheit und nicht zuletzt eine Arbeitszeitverkürzung“. Sie berieten über Eskalationsstufen im Arbeitskampf. In vielen Branchen kam es zu Betriebsversammlungen – in Österreich eine Arbeitskampfmethode. Zu Streiks – die es in den letzten Jahren in Österreich kaum gab – kam es bei den Metallern, den Eisenbahnern und in der Sozialwirtschaft. Neben differenzierten Lohnerhöhungen konnten zum Beispiel die Metaller Zuschläge von 100 Prozent für die elfte und zwölfte Arbeitsstunde beziehungsweise ab der 51. Wochenstunde erreichen. Außerdem erkämpften sie eine bezahlte Pause von zehn Minuten, wenn jemand die elfte und zwölfte Stunde am Tag beziehungsweise die 51. Stunde in der Woche arbeiten muss. In der Sozialwirtschaft konnte ein zusätzlicher Urlaubstag ab zwei Jahren Betriebszugehörigkeit erreicht werden.

Für österreichische Verhältnisse war das eine massive Bewegung – die aber nicht stark genug war, um sich gegen die Macht des Kapitals und seiner Regierung durchzusetzen.

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"Zack, zack, zack", UZ vom 7. Juni 2019



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