Es gilt das gesprochene Wort.
Im Kampf gegen den Imperialismus ist die Überwindung der neokolonialen Ausbeutung ein zentrales Element. Lenin sagte beim II. Kongress der Komintern im Sommer 1920 zu verschiedenen Formen des Kolonialismus: „Was ist der wichtigste, der grundlegende Gedanke unserer Thesen? Die Unterscheidung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Völkern. (…) In der Epoche des Imperialismus ist es (…) besonders wichtig, die konkreten wirtschaftlichen Tatsachen festzustellen und bei der Lösung aller kolonialen und nationalen Fragen nicht von abstrakten Leitsätzen, sondern von den Erscheinungen der konkreten Wirklichkeit auszugehen.
Das charakteristische Merkmal des Imperialismus besteht darin, dass sich, wie wir sehen, gegenwärtig die ganze Welt in eine große Zahl unterdrückter Völker und eine verschwindende Zahl unterdrückender Völker teilt, die über kolossale Reichtümer und gewaltige militärische Kräfte verfügen. Die große Mehrheit der Bevölkerung unseres Erdballs (…) gehört zu den unterdrückten Völkern, die sich entweder in direkter kolonialer Abhängigkeit befinden oder halbkoloniale Staaten sind, wie zum Beispiel Persien, die Türkei, China, oder aber von der Armee einer imperialistischen Großmacht besiegt worden und auf Grund von Friedensverträgen in starke Abhängigkeit von ihr geraten sind.“
Zu diesem Zeitpunkt war weit über die Hälfte der Erde von wenigen imperialistischen Großmächten kolonisiert. Auch 1945 lebte noch fast ein Drittel der Weltbevölkerung in Kolonien, heute gibt es nur noch 17 kolonialisierte Territorien. Die übrigen Kolonien haben inzwischen ihre – zumindest formale – staatliche Unabhängigkeit erkämpft. Wir sehen aber, dass bereits Lenin sich mit dem befasste, was wir heute Neokolonialismus nennen.
Auch heute sprechen Zahlen und Fakten dafür, dass immer noch eine kleine Zahl von imperialistischen Räubern – neben der Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern – auch eine große Zahl unterdrückter Völker ausbeutet. Seit den 1960er-Jahren gibt es in diesem Zusammenhang den Begriff des nicht-äquivalenten Austausches. Es gibt Untersuchungen, dass der Abfluss, der aus den abhängigen Ländern an die Hauptländer des Imperialismus durch nicht-äquivalenten Tausch erfolgt, um ein Vielfaches größer ist als die Flüsse in die umgekehrte Richtung, und bis zu einem Viertel des Bruttoinlandsprodukts dieser Länder ausmacht. Bei diesen Ländern, die von neokolonialen Verhältnissen profitieren, handelt es sich zum größten Teil um NATO-Länder und eben nicht um Länder wie Russland und China. Verstärkt wird dies durch die Währungspolitik, politischen und militärischen Druck und Sanktionen, wenn abhängige Länder beginnen, ihre nationale Souveränität durchzusetzen. Ein aktuelles Beispiel sind hier Länder in Westafrika wie Niger, Mali und Burkina Faso. Diese versuchen, sich von der ökonomischen Dominanz des Imperialismus – hier mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich an der Spitze – zu befreien. Dazu gehören nicht nur Nationalisierungen, sondern auch die Absage an die währungspolitische Dominanz durch Frankreich mithilfe des CFA-Franc. Ein weiteres Beispiel sind Venezuela und Nicaragua.
Dieser Kampf gegen die neokoloniale Abhängigkeit vom Imperialismus bedeutet erst einmal, überhaupt eine wirkliche nationale Souveränität zu erkämpfen – also nationale Befreiung. Das ist noch keine sozialistische Entwicklung, aber dieser Kampf verbessert – wenn er erfolgreich ist – die Bedingungen für den Klassenkampf fortschrittlicher Kräfte in diesen Ländern.
Für diesen Kampf gegen neokoloniale Abhängigkeit ist es von großer Bedeutung, dass es mit der Herausbildung einer multipolaren Welt und mit dem Erstarken des sozialistischen China sowie mit der BRICS-Kooperation und der engen Zusammenarbeit von Russland und China nun Alternativen zu den neokolonialen Wirtschaftsbeziehungen zum Imperialismus gibt. Dies ist – neben der Gewinnung billiger Rohstoffquellen – auch ein Grund, warum es dem Imperialismus heute darum geht, nicht nur den Sozialismus in China zu schwächen und perspektivisch zu vernichten, sondern Russland, das derzeit für den Erhalt seiner nationalen Souveränität kämpft, wieder zu einem neokolonial abhängigen Land zu machen und am besten in zahlreiche vom Imperialismus abhängige kleine Staaten aufzuteilen.
Warum ist es für uns heute wichtig, die Frage des antikolonialen Kampfes zu betonen?
In der Diskussion in der kommunistischen Weltbewegung gibt es die These, dass koloniale Abhängigkeiten – auch in Form des Neokolonialismus – heute praktisch keine Rolle mehr spielen. Der Begriff des Neokolonialismus an sich wird abgelehnt und die These vertreten, dass alle kapitalistischen Länder, auch die an der Peripherie und die ehemaligen Kolonien, heute als imperialistische Staaten auf unterschiedlichen Niveaus einer Pyramide anzusehen sind. Die globale Arbeiterklasse werde von der globalen Bourgeoisie ausgebeutet. Dies steht in engem Zusammenhang mit einer Imperialismusanalyse, die darauf beruht, dass die Existenz von Monopolen bereits einen imperialistischen Staat ausmacht. Dabei wird weder die politische Macht im Staat noch die Frage berücksichtigt, ob es sich um Monopole ausländischer imperialistischer Staaten handelt. Damit wird nicht nur die oben skizzierte strukturelle neokoloniale Abhängigkeit geleugnet, auch die Frage der nationalen Befreiung stellt sich im Rahmen dieser These nicht mehr – und dies wird auch explizit so formuliert. Nationale Befreiungsbewegungen können im Rahmen dieser These – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine fortschrittliche Funktion mehr haben. Auch der Kampf um die Durchsetzung einer multipolaren Weltordnung ist dann nur noch ein Kampf zwischen imperialistischen Blöcken. Dies ist natürlich von großer Bedeutung für die Einschätzung der internationalen Entwicklung und der internationalen Bündnispolitik. Mit der Durchsetzung einer multipolaren Weltordnung, mit der Sicherung und Durchsetzung der nationalen Souveränität vieler bisher neokolonial abhängiger oder von solcher Abhängigkeit bedrohter Staaten wird die Welt nicht gleich friedlicher, der Kampf gegen den Imperialismus und für den Sozialismus ist trotz der zunehmenden Rolle Chinas noch nicht gewonnen – aber ein Schritt in Richtung Niederlage des Imperialismus wird getan sein.
Für uns ist es meines Erachtens wichtig, auf einem klaren antiimperialistischen und antikolonialen Standpunkt zu bleiben. Konkret heißt das, immer wieder eine Tatsache deutlich zu machen: Der Imperialismus, sei es der US-Imperialismus, die NATO oder auch die EU unter Führung des deutschen Imperialismus, ist der Aggressor, sowohl militärisch also auch in Wirtschaftskriegen. Gegen ihn muss unser Kampf für Frieden und für den Sozialismus geführt werden.