Über Einschränkungen der Reisefreiheit

Abenteuerland

Kolumne von Ruth Frölich

Endlich in Rente – und nichts wie weg. Wer wünscht sich das nicht? Aber halt: Wer arm ist, den erwarteten einige Hürden. Selbst wer es schafft, mit sehr wenig Geld zu reisen, darf es nicht in jedem Fall. So unterliege ich als Bezieherin von „Grundsicherung im Alter“ einer Residenzpflicht. Und Bürgergeldempfänger müssen jederzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Ganz nach dem biblischen Spruch: „Bleibe im Lande und nähre dich redlich.“ Mobilität ist ein Bürgerrecht in Deutschland. Ein Menschenrecht ist sie nicht. Die Residenzpflicht gilt zum Beispiel auch während eines Asylverfahrens.

Eine der großen Erzählungen der deutschen Wiedervereinigung lautete: Reisefreiheit! Für alle. Beschämend ist, in welcher Weise und in welchem Ausmaß ärmere Menschen davon ausgeschlossen werden – Tendenz steigend. Das betrifft bei weitem nicht nur Bürgergeldempfänger und Geflüchtete. Waren es 2019 noch 12,8 Prozent der Menschen, die sich keinen einwöchigen Urlaub leisten konnten, sind es inzwischen 22,8 Prozent. Bei Alleinerziehenden ist es jede zweite Familie.

Der Bürgergeld-Regelsatz beträgt derzeit 563 Euro. Dieser Satz gilt auch für Rentnerinnen und Rentner in der Grundsicherung. Davon muss alles bezahlt werden, außer der Warmmiete – also Ernährung und Kleidung, Hygiene, Telekommunikation, Verkehr, Kultur, Bildung und so weiter. Der für Mobilität zugrunde gelegte „Bedarf“ beträgt derzeit 50,49 Euro. Davon müssen Tankfüllungen und laufende Kosten bezahlt werden, soweit sich ein Leistungsbezieher überhaupt ein Auto leisten kann. Muss das Fahrrad gewartet werden, dann fällt das ebenfalls darunter. Wer auf den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) angewiesen ist, kauft sich am ehesten ein Deutschlandticket.

Gerade das Deutschlandticket versprach bei Einführung mehr Reisefreiheit: Einfach in den Zug setzen und fahren, wohin du möchtest – für 9 Euro. Inzwischen liegt der Preis bei 58 Euro. Allerdings gibt es Sozialrabatte, die sich von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. So zahlen in Hamburg Rentner mit Grundsicherung 22,50 Euro für das Deutschland-Ticket. In Hessen sind es 39 Euro und in NRW bis zu 48 Euro. Damit ermöglicht der Regelsatz mir und allen anderen Bezieherinnen von Grundsicherung immerhin die Nutzung des ÖPNV – anders als früher sogar unabhängig von der Uhrzeit. Für mich gab es Zeiten, in denen ich aufgrund meines günstigeren 9-Uhr-Tickets keinen frühen Arzttermin wahrnehmen konnte oder entsprechend mehr zahlen musste Das Deutschland-Ticket erlaubt mir mehr Flexibilität im Alltag. Andererseits: Mit dem Ticket ist mein Budget, das mir die Grundsicherung gewährt, bereits ausgeschöpft. Da bleibt kein Geld für eine Fahrrad-Reparatur, ein ICE-Ticket für eine längere Strecke oder eine Taxifahrt, falls es mit Zug und Bus nicht mehr weitergeht.

Ein Verwandtenbesuch ist für mich jedenfalls ein Abenteuer. Die Fahrt von meinem Wohnort in der hessischen Provinz nach Berlin entspricht einer Strecke von 550 Kilometern. Dafür brauche ich mit dem Deutschlandticket mindestens zwölf Stunden und muss acht Mal umsteigen. Ich habe es trotzdem gewagt. Aber schon die erste Etappe zum Frankfurter Bahnhof ist voller Hürden. Züge fallen aus oder bleiben auf der Strecke stehen, Verspätungen sind normal.

In Frankfurt der Schock: Der Zug nach Kassel steht zwar noch am Gleis, doch das Signal ist schon auf Abfahrt gestellt. Das bedeutet erst einmal zwei Stunden warten. In dieser Zeit rauschen zwei ICE vorbei, die ich aber nicht nutzen darf. Es folgen weitere Umstiege in Sangerhausen, Güsten, Dessau.

Die Reise in voll besetzten Zügen, die zeitweise mehr stehen als fahren, hat auch ein Gutes: Die Fahrgäste kommen ins Gespräch. Thema Nr. 1: Der Zustand der Deutschen Bahn und ihre Preispolitik. Mir gegenüber sitzen junge Leute. „Als Student kann ich mir kein ICE-Ticket leisten“, sagt einer von ihnen. „Als Rentnerin mit wenig Geld kann ich das auch nicht“, erwidere ich. Wir sind uns einig: Zug fahren sollte erschwinglich sein. Es sollte möglich sein, eine Entfernung von 550 Kilometern in fünf bis sechs Stunden zu bewältigen. Das entspricht der Fahrzeit mit dem Auto – ohne Unfälle und Staus.

Als ich in Berlin ankommen, bin ich völlig erschöpft. Jetzt muss ich nur noch die richtige Tram finden – die Haltestelle wurde gerade verlegt. Ich stolpere, stürze mit meinem Rollköfferchen auf die Tram-Gleise.

„Das machst du nie wieder“, wird mir mein Sohn später sagen. Und: „Mama, du fährst lange Strecken fortan mit dem ICE.“ Glücklich kann sich schätzen, wer sich das leisten kann.

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"Abenteuerland", UZ vom 14. März 2025



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