Lindner wollte bei Holocaust-Überlebenden sparen

Anstandslose Schuldenbremse

Dass deutsche Regierungen, die die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches antraten – vor allem wenn es um territoriale Ansprüche ging – nie bereit waren, die Verantwortungsnachfolge für die Opfer des faschistischen Terrors anzutreten, ist bekannt. Dennoch muss man immer mal wieder daran erinnern, mit welchen perfiden Begründungen selbst grundlegende Entschädigungen für erlittenes Unrecht verweigert wurden. Erst als nur noch wenige Betroffenen unter uns weilten, wurden in verschiedenen Bundesländern „Härtefonds für vergessene Opfer“ eingerichtet, deren Hilfe eigentlich nur noch eine symbolische Geste war.

Auch die jahrelange Auseinandersetzung um die Entschädigung der Zwangsarbeiter ist noch in Erinnerung. Erst als durch Sammelklagen in den USA ein Risiko für die Profitinteressen der deutschen Konzerne entstand, rang sich der Deutsche Bundestag – 55 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus – dazu auf, eine Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ zur Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter einzurichten. Die Beiträge der Konzerne und der mittelständischen Wirtschaft, die von dieser faschistischen Sklavenarbeit profitiert hatten, waren überschaubar. Die Auszahlungen für die Betroffenen sicherlich eine Hilfe, aber man kann nicht übersehen, bis dahin waren die meisten von ihnen verstorben. Auch Kriegsgefangene erhielten von den Rechtsnachfolgern des faschistischen Deutschlands, sofern sie nicht in einem Konzentrationslager gewesen waren, keine finanzielle Unterstützung. Das betraf insbesondere sowjetische Kriegsgefangene, die unter menschenunwürdigsten Bedingungen inhaftiert waren und systematisch dem Hungertod überlassen wurden. Erst im Jahre 2015 wurden Entschädigungszahlungen beschlossen. Auch diesmal war die Mehrzahl der Berechtigten längst verstorben.

Eine offene Wunde der Entschädigung, die jedoch nicht an noch lebende Verfolgte geknüpft ist, sind die Entschädigungen für griechische Opfer der Okkupationsverbrechen und Kompensationen für die dem griechischen Staat geraubten Gelder sowie andere Werte, die seit Jahrzehnten angemahnt werden. Bei diesem Thema haben Außenministerin Baerbock und Bundeskanzler Scholz bei ihren Besuchen in Griechenland unzweideutig klargemacht, dass auch die jetzige Bundesregierung an der Verweigerung jeglicher Kompensation festhält. Man hatte sogar die höchsten europäischen Gerichte bemüht, um sich von der „Staatshaftung“ freistellen zu lassen. Opfer und ihre Angehörigen sind nicht klageberechtigt, die Regierungen glaubte man hinreichend unter Druck setzen zu können, solche Forderungen nicht offensiv zu vertreten.

Vor diesem Hintergrund glaubte Finanzminister Lindner, im Sinne dieser Verweigerungshaltung zu handeln, als er bei den jährlichen Entschädigungszahlungen für die „Jewish Claims Conference“ (dt.: Jüdische-Ansprüche-Konferenz), die seit 1951 Entschädigungsansprüche jüdischer Holocaust-Überlebender vertritt, sparen wollte. Er begründete es mit der Schuldenbremse, die er 2023 wieder einhalten wolle. „Jeder Haushaltsposten“ müsse deshalb auf den Prüfstand.

Grundlage der Zahlungen ist die Einigung der BRD mit Israel und der Jewish Claims Conference im Luxemburger Abkommen. Zwar leisteten alle nachfolgenden Regierungen die Zahlungen für jüdische NS-Opfer, dies jedoch weniger aus Verantwortungsbewusstsein, sondern vielmehr aus Überlegungen zum internationalen Ansehen der BRD. Auch Lindner ruderte zurück, als ihm US-Außenminister Blinken, der britische Premierminister Rishi Sunak und Vertreter des Staates Israel klar machten, dass der Schaden der Verweigerung größer sei als der Einspareffekt.

Einmal mehr zeigt die Bundesregierung, was von ihren salbungsvollen Worten des Gedenkens – beispielsweise zum 9. November – zu halten ist.

Unser Autor ist Bundessprecher der VVN-BdA.

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"Anstandslose Schuldenbremse", UZ vom 18. November 2022



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