Zu Corona in Pflegeheimen

Auf Kosten der Schwächsten

Carl Bahr

Es ging in den deutschen Medien die Schlagzeile um, jeder zweite Corona-Tote in der Bundesrepublik habe in einem Pflegeheim gelebt. Da wurde moralische Empörung geäußert. Getan hat sich für die Situation in der Pflege allerdings nichts.

Ich habe als Pflegefachkraft während dreier großer Ausbrüche mit bis zu 60 betroffenen Bewohnerinnen und Bewohnern in meiner Einrichtung gearbeitet. Gerade zu Beginn starben tatsächlich mehr pflegebedürftige Menschen an den rigiden Isolationsmaßnahmen, die ihnen auferlegt wurden, als am Virus.

Totale Isolation auf den Zimmern, Kontakte mit Angehörigen nur über seltene Bildtelefonate oder später „Fensterkontakte“ am Besuchszelt, das hat drastische Auswirkungen auf Allgemeinzustand, Denken und Lebenswillen besonders auch demenziell veränderter Menschen. Demgegenüber stand die strukturelle Unfähigkeit, mit so vielen Covid-Fällen eine fachlich korrekte und damit effektive Quarantäne überhaupt durchzuführen. Wenn gebrauchte Isolationskittel wegen Materialmangels oder schlechter Weiterbildung der vielen ungelernten Mitarbeiter zur Wiederverwendung draußen an den Zimmertüren hängen, wenn nicht genügend Müllabwürfe für effektive Quarantäne-Schleusen vorhanden sind, verkümmern die Menschen drinnen völlig sinnlos und das Virus verbreitet sich weiter.

In „privaten“ Einrichtungen, wo, kurz gesagt, Kapitalgesellschaften die Leistungen der Pflegeversicherung plündern, um entsprechend weniger Geld für Pflegeempfänger und Pflegepersonal aufzuwenden, tut sich noch weit darüber hinaus ein bodenloser Abgrund auf. Von der überwiegenden Mehrzahl dieser Einrichtungen wird weiterhin nicht einmal Dienstkleidung und deren professionelle Reinigung zur Verfügung gestellt – beides kostet immerhin Geld, das man sich lieber als „Gewinne“ aneignet. Dies führt dazu, dass mit Erregern belastete Kleidung mit nach Hause genommen und privat gewaschen wird und die privaten Waschmaschinen die Keime nicht abtöten, sondern gegebenenfalls an private Kleidungsstücke weitergeben.

Gerade dort fehlte es durch Krankenstände Covid-positiver Kollegen in einem Umfang an Personal und daneben auch an Material, dass trotz aufopferungsvollem Einsatz der Pflegenden die Bewältigung eines größeren Ausbruchsgeschehens unmöglich wurde.

Wo blieb in all dem das Menschenrecht, nicht nur das der kalkuliert gefährdeten Kolleginnen und Kollegen, sondern auch das der Pflegeempfänger? Denn wenn selbst in der Pandemie daran gedacht wird, aus für Pflege und Schutz der Schwächsten in unserer Gesellschaft gezahlten Versicherungsleistungen üppige Profite abzuzweigen, wird das Menschenrecht mit Füßen getreten.

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"Auf Kosten der Schwächsten", UZ vom 7. April 2023



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