Vor 100 Jahren versuchte Hitler in München zu putschen

Aus dem Herzen der Demokratie

Erik Höhne

Am 8. und 9. November 1923 unternahm die NSDAP unter der Führung Adolf Hitlers mit Unterstützung von General Erich Ludendorff ihren ersten Anlauf zur Eroberung der Macht, und zwar in Gestalt eines Putschversuchs in München. Über diesen Putsch ist viel geschrieben worden: Ein existentiell verkrachter, aber rhetorisch begabter Egomane sammelt eine Schar nationalistischer Glücksritter um sich, welche die Schmach des Versailler Vertrages nicht verwinden können. Diese Truppe stürzt sich dann in ein dilettantisches Umsturzunternehmen, das erwartungsgemäß scheitert. Diese Schilderung ist nicht in Gänze falsch, vernachlässigt aber wesentliche Gesichtspunkte.

Das Jahr 1923 war ein Krisenjahr, vor allem in Deutschland. Der französische Imperialismus hatte das Ruhrgebiet besetzt. Die Inflation hatte ein Massenelend hervorgerufen. Die Kämpfe der Arbeiterklasse gipfelten in den Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen und im Hamburger Aufstand. Der deutsche Imperialismus stand unter Druck.

Kurz vor dem Putsch hatte der neue Reichskanzler Stresemann den Widerstand gegen die französische Ruhrbesetzung aufgegeben. Dies wurde durch die radikale Rechte als Verrat gebrandmarkt und beflügelte Pläne, jetzt das parlamentarische System durch eine nationale Diktatur zu ersetzen. Häufig übersehen wird, dass derartige Vorhaben aus der Mitte des Systems selber vorangetrieben wurden. Der bayrische Ministerpräsident Eugen Ritter von Knilling (Bayrische Volkspartei) hatte Gustav Ritter von Kahr zum Generalstaatskommissar für Bayern mit diktatorischen Vollmachten ernannt. Die Reichsregierung zeigte sich machtlos gegenüber diesem Verfassungsbruch, zumal die Reichswehr zu erkennen gegeben hatte, hier nicht einschreiten zu werden. Im Umfeld von Kahrs wurde gemeinsam mit dem Chef der bayrischen Reichswehr, Generalleutnant Otto von Lossow, und dem Landespolizeichef, Oberst Hans von Seißer, Pläne zur Zerschlagung der Weimarer Republik in Angriff genommen. In die gleiche Richtung wirkten der Heeresleitungschef der Reichswehr, Generaloberst Hans von Seeckt, und Großindustrielle wie Hugo Stinnes. Am 8. November 1923 sprach von Kahr auf einer Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller. Hitler und seiner SA gelang es, die Veranstaltung zu kapern sowie von Kahr, von Lossow und von Seißer zum Eintritt in eine „provisorische deutsche Nationalregierung“ zu bewegen. Später wurde seitens der drei Herren geltend gemacht, sie hätten nur der ihnen angedrohten Gewalt gehorcht.

Am folgenden Tag marschierten die Putschisten durch München. Was als Auftakt zum Marsch auf Berlin geplant war, endete jedoch im Feuer reichsregierungstreuer Polizeikräfte. Kahr, Lossow und Seißer hatten sich rechtzeitig von Hitlers Pleiteunternehmen abgesetzt, was dieser ihnen nicht vergessen sollte. Von Kahr wurde beim „Röhmputsch“ 1934 erschossen,von Seißer nach der Machtübertragung in das KZ Dachau eingewiesen. Es mag sein, dass diese rechten Konkurrenten der Nazis am 9. November 1923 einen realistischeren Blick auf die Erfolgsaussichten einer derart stümperhaft aufgezogenen Aktion hatten und deswegen auch nicht vorhatten, sich nach vorgetäuschter Komplizenschaft mit in den Abgrund ziehen zu lassen. Wichtiger jedoch dürfte aber der Gesichtspunkt sein, dass sie schon eigene Pläne für einen Umsturz von rechts entwickelt hatten und nun nicht hinter dem „böhmischen Gefreiten“ zurückstehen wollten. 1923 hatte die NSDAP noch keineswegs die Hegemonie im rechten Lager errungen. Richtungskämpfe der konkurrierenden Organisationen waren an der Tagesordnung. Keineswegs ist es jedoch so, dass „die Demokratie“ hier von einer extremen Randgruppe angegriffen worden wäre. Vielmehr waren es Eliten dieser „Demokratie“ aus Wirtschaft, Militär und Regierung, welche die „Beerdigung von Weimar“ zu ihrem Programm erhoben hatten. Nur folgerichtig war somit, dass Hitlers Hochverratsprozess nicht vor dem eigentlich zuständigen Leipziger Reichsgericht verhandelt wurde, sondern vor dem Münchner Volksgericht. Hier waren die Gegebenheiten günstiger, um die Rolle von Angehörigen der bayrischen Landesobrigkeit zu verschleiern. Bekannt ist die lächerlich kurze Haftstrafe, die Hitler unter Vorzugsbedingungen absitzen durfte, und das Wohlwollen der Richter, die ihm den Gerichtssaal als Propagandabühne anboten. Es wurde klar: Die „Extremisten“ saßen im Herzen der „­Demokratie“.

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"Aus dem Herzen der Demokratie", UZ vom 10. November 2023



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