Ein Beitrag zur China-Debatte aus Peking

Blick aus dem Osten: Chinas gegenwärtiger Weg

Yumeng Liu

Nach den Umwälzungen in Osteuropa und dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah sich die globale sozialistische Bewegung bedeutenden Herausforderungen gegenüber. Im Gegensatz dazu erlebte China einen eindrucksvollen Aufstieg. Das wirft Fragen auf: Ist China vom Sozialismus abgewichen? Steuert es auf den Kapitalismus zu oder hat es sich bereits zu einer kapitalistischen Gesellschaft entwickelt? Welchem Weg folgt China?

Das heutige China unterscheidet sich erheblich vom China vor den wirtschaftlichen Reformen und der Öffnung. Die Unterschiede ergeben sich aus folgenden Gegebenheiten: Erstens wurde in der Vergangenheit in sozialistischen Nationen ein planwirtschaftliches Modell verfolgt, bei dem staatliche Pläne sämtliche wirtschaftlichen Aktivitäten lenkten. Im Gegensatz dazu betreibt China heute eine Marktwirtschaft, die von Marktkräften angetrieben wird und vollständig in das globale Wirtschaftssystem und den Weltmarkt integriert ist. Zweitens dominierte in sozialistischen Ländern in der Vergangenheit staatliches und kollektives Eigentum. Heute weist China eine Mischung aus öffentlichem und privatem Eigentum auf. In Anbetracht dieser Tatsachen argumentieren einige, dass der Sozialismus in China dem der Sowjetunion während der „Neuen Ökonomischen Politik“ Lenins ähnelt. Andere bemerken, dass die chinesische Wirtschaft weder in das traditionelle sozialistische Planmodell noch in die westliche Marktwirtschaft passt; stattdessen handele es sich um eine „gemischte Wirtschaft“. Einige behaupten, dass China mit dem Rückgang des Anteils des öffentlichen Eigentums einen Schwenk in Richtung Neoliberalismus gemacht habe. Es gibt auch Stimmen, die unterstellen, China sei vom sozialistischen Weg abgewichen und habe sich von den Grundprinzipien und Lehren des Marxismus entfernt. Während „Sozialismus chinesischer Prägung“ auf den ersten Blick sozialistisch erscheine, habe er sich in der Praxis zu einem „chinesischen Kapitalismus“ entwickelt.

Beginn der Reformen

Über einen erheblichen Zeitraum hinweg hielt China an einer zentralisierten Planwirtschaft fest, die an das sowjetische Vorbild erinnerte. Dieses System stützte sich stark auf zentrale Entscheidungsfindung und Wirtschaftsplanung sowie Direktiven. Es vernachlässigte die Rolle des Marktes oder lehnte sie sogar ab. Mit einer vorrangigen Ressourcenzuweisung durch administrative Befehle wurden die Grenzen des Egalitarismus zunehmend offensichtlich, was in China letztendlich zu einer wirtschaftlichen Stagnation auf nationaler Ebene führte.

Die Idee des „Sozialismus chinesischer Prägung“ wurde im September 1982 offiziell von Deng Xiaoping eingeführt. Zu dieser Zeit stand das herkömmliche sozialistische Entwicklungsmodell vor Herausforderungen, während Länder wie Schweden, Norwegen und Dänemark Erfolge feierten. In diesen Ländern verfolgten sozialdemokratische Parteien eine Politik, die auf kräftiges wirtschaftliches Wachstum und die Verbesserung des Sozialstaats abzielte. Diese Strategie führte zu erheblicher Steigerung des Wohlstands, höherem Lebensstandard und verbesserten Sozialleistungen, was die Konflikte zwischen Arbeit und Kapital wirksam milderte.

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Gleichzeitig breitete sich die globale Welle des Neoliberalismus aus und die marktorientierten Reformen erreichten auch China: Sollte sich China den vorherrschenden Strömungen anschließen und sich im globalen Wettbewerb engagieren oder sollte es seinen etablierten Weg fortsetzen? Deng Xiaoping hielt nicht starr an den Zukunftsvisionen fest, die von klassischen marxistischen Denkern gezeichnet wurden. Stattdessen suchte er nach Lösungen, indem er die Lehren und Erfahrungen der sozialistischen Entwicklung sowohl im Inland als auch im Ausland sorgfältig abwog.

In jahrelanger Forschung und praktischer Erprobung entwickelte China eine einzigartige Herangehensweise an die sozialistische Entwicklung. Es legte konsequent einen Schwerpunkt auf wirtschaftliches Wachstum, vertiefte kontinuierlich seine Reformbemühungen und schmiedete einen neuen Weg für den sozialistischen Aufbau, der den besonderen Gegebenheiten Chinas angepasst war.

Theoretische Überlegungen

Planwirtschaft mit Sozialismus und Marktwirtschaft mit Kapitalismus gleichzusetzen beruht auf einer falschen Auslegung der marxistischen Theorie. Marx’ und Engels’ Idee von der sozialistischen Planwirtschaft und den Ware-Geld-Beziehungen basierte auf ihren Beobachtungen fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaften. Die junge Sowjetunion als auch das heutige China stehen anderen wirtschaftlichen Realitäten gegenüber. Die mechanische Anwendung der Konzepte von Marx und Engels ohne Berücksichtigung objektiver Bedingungen kann nicht gelingen.

Der Markt ist ein Nebenprodukt der Warenproduktion und wird natürlich mit dem Rückgang der Warenproduktion abnehmen. Er ist historisch gesehen nicht zwangsläufig mit dem Kapitalismus verbunden. Die Unterscheidung zwischen Kapitalismus und Sozialismus beruht nicht nur auf Marktmechanismen oder Planung, sondern darauf, wer die Kontrolle über den Markt ausübt und wessen Interessen die Pläne bedienen. Der westliche Kapitalismus verwendet umfangreiche Planungsmethoden in seiner Wirtschaft. Marktgetriebenes Wirtschaften im Sozialismus ist möglich und kann unter staatlicher Makrosteuerung eine entscheidende Rolle bei der Ressourcenverteilung spielen.

Chinas Reformbemühungen haben bewusst eine gemischte Marktwirtschaft und vielfältige Eigentumsstrukturen umfasst. Diese Entscheidungen waren im praktischen Kontext des Aufbaus des Sozialismus in einem Land verankert, das durch vergleichsweise unterentwickelte wirtschaftliche und kulturelle Bedingungen gekennzeichnet ist.

Rolle der Produktivkräfte

Marx arbeitete anhand der charakteristischen Eigenschaften russischer Landkommunen die Idee aus, dass es in Ländern mit wirtschaftlich und kulturell rückständigen Merkmalen möglich sein könnte, die kapitalistische Phase zu überspringen. Dies sollte sowohl in institutioneller als auch in produktiver Hinsicht erfolgen können. Während gesellschaftliche Systeme potenziell solche Transformationen durchlaufen können, gilt dies nicht notwendigerweise für die Produktivkräfte. Angesichts der objektiven Realitäten von Armut und Unterentwicklung liegt in deren Überwindung die grundlegende Aufgabe beim Aufbau des Sozialismus. Dazu braucht es eine stürmische Entwicklung der Produktivkräfte.

Die Entscheidung für die Politik von „Reform und Öffnung“ wurde getroffen, weil es notwendig war, die „kapitalistische Schwelle“ des Stands der Produktivkräfte zu überschreiten. Empirisch wurde in China bewiesen, dass das Wachstum privater Unternehmen hilfreich war. Es gelang dadurch, Vitalität in der Wirtschaft zu erzeugen, die Unternehmensführung zu verbessern, Beschäftigungsmöglichkeiten zu erweitern, nationale Fähigkeiten zu stärken und den Lebensstandard zu erhöhen. Es trägt ebenfalls zur Steigerung der Produktivkräfte bei. Ein Großteil des wirtschaftlichen Erfolgs Chinas kann der entscheidenden Rolle des privaten Sektors zugeschrieben werden. Unternehmen wie Huawei, BYD, Alibaba, Tencent und Fuyao, um nur einige zu nennen, sind einflussreiche globale Wirtschaftsakteure geworden und veranschaulichen die Leistungsfähigkeit des privaten Sektors.

Nicht ohne Gefahren

Der Markt ist zweischneidig und eine wirtschaftliche Ausrichtung auf den Markt birgt eigene Risiken. In China wurde erfolgreich eine wirtschaftliche Struktur geschaffen, die die Mechanismen des Marktes nutzt und gleichzeitig die makroökonomische Steuerung der nationalen Wirtschaft sicherstellt. Dieser Erfolg beruht auf der geschickten Verknüpfung der Prinzipien „Freier Wettbewerb und Überleben des Stärksten“ auf dem Markt mit der Rolle der Regierung bei der „umfassenden Koordination und Förderung des Fortschritts von minderwertig zu überlegen“. Auf diese Weise konnten die Produktivkräfte gefördert und entwickelt werden.

Die Rolle der Regierung hat sich gewandelt, indem sie Marktangelegenheiten vermehrt dem Markt selbst überlässt und die Marktmechanismen die Führung bei der Ressourcenverteilung übernehmen. Diese klare Aufgabenteilung zwischen Regierung und Unternehmen gewährleistet, dass die Regierung sich ausschließlich auf ihre administrativen Funktionen konzentriert und somit ein faires und wettbewerbsfähiges Umfeld in der Marktwirtschaft sichert. Alle Unternehmen, die als Produzenten und Dienstleister tätig sind, verfügen über unabhängige Rechte in Bezug auf Produktion und Geschäftsführung.

Die Reduzierung direkter staatlicher Eingriffe in die mikroökonomischen Aktivitäten verbessert die Effizienz des Marktes und fördert die Optimierung der Ressourcenverteilung zum größtmöglichen Nutzen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Betonung des freien Wettbewerbs dazu führen kann, dass die Starken stärker und die Schwachen schwächer werden. Dieses Phänomen kann zu sozialer Polarisierung und Ungleichheiten beim Wohlstand führen. In Fällen, in denen der Markt nicht effektiv funktioniert, muss die Regierung eingreifen, um die makroökonomische Stabilität zu gewährleisten, öffentliche Dienstleistungen zu verbessern und zu verfeinern, fairen Wettbewerb sicherzustellen, die Marktüberwachung zu verstärken, die Integrität des Marktes zu bewahren, nachhaltige Entwicklung zu fördern, den geteilten Wohlstand zu unterstützen und Marktdefizite zu beheben.

Monopolisierung

Kapital ist von Natur aus gewinnorientiert und neigt oft dazu, sich in monopolistischen Unternehmen zu konzentrieren. Im heutigen China verfügt man jedoch über die Fähigkeit, Kapital effektiv zu regulieren. Dies verhindert, dass einflussreiche Kapitalisten rücksichtslos handeln und dass wirtschaftliche und politische Konglomerate, wie sie in Japan und Südkorea auftraten, entstehen. Obwohl privates Kapital eine wichtige Rolle in Chinas Wirtschaft spielt, unterliegen Schlüsselbereiche und Sektoren, die die nationale Sicherheit betreffen, wie Energie und Infrastruktur, einer sorgfältigen staatlichen Aufsicht. Dazu zählen auch wichtige wirtschaftliche Systeme wie das Währungssystem, die Geldpolitik und die Finanzpolitik. Die Regierung bleibt weiterhin für die Bereitstellung öffentlicher Güter verantwortlich, während privates Kapital strengen Kontrollen, Regulierungen und effektiver Überwachung unterliegt.

Im August 2008 führte China das „Antimonopolgesetz“ ein und im November 2021 wurde das Anti-Monopol-Büro gegründet. Durch verstärkte Maßnahmen gegen Monopole, die Begrenzung übermäßiger Gewinne, die Verhinderung von Preismanipulationen, den Kampf gegen Spekulation und die Bekämpfung von unlauterem Wettbewerb hat China das Kapital effektiven Kontrollen unterworfen. Dabei wurde ein robuster Kapitalmarkt entwickelt, der einer unkontrollierten Kapitalanhäufung entgegenwirkt und gleichzeitig ein Umfeld für wirtschaftliche Freiheit und Fairness aufrechterhält.

Kontrollierter Markt

Der Markt wird lediglich als wirtschaftliches Werkzeug betrachtet, das innerhalb des sozialistischen Rahmens effektiv genutzt werden kann. Obwohl China bestimmte Aspekte der kapitalistischen Entwicklung aus Europa übernommen und angepasst hat, hat es bewusst seine eigene sozialistische Identität bewahrt, anstatt eine vollständige Anpassung anzustreben. Die grundlegenden Prinzipien des Kommunismus und die Kerngrundsätze des Sozialismus sind in China unverändert geblieben, wobei die marxistische Ideologie nach wie vor eine zentrale Rolle spielt. China hat sich bewusst davor gehütet, eine umfassende Privatisierung anzustreben. Obwohl marktgetriebene Wirtschaftsmechanismen eine bedeutende Rolle spielen, ist die staatliche Regulierung und Intervention im Vergleich zu westlichen Ländern spürbar robuster.

Der Ansatz Chinas unterscheidet sich erheblich von den Privatisierungen in der Sowjetunion. China hat aus diesen Fehlern gelernt. Russland setzte auf eine „Schocktherapie“ und vollzog einen umfassenden Wechsel hin zu einem kapitalistischen Modell, was letztendlich zu wirtschaftlichem Zusammenbruch und einem tiefgreifenden Rückgang der nationalen Stärke führte. Im deutlichen Kontrast dazu führte China politische Reformen erfolgreich durch und erzielte gleichzeitig eine rasche wirtschaftliche Entwicklung.

Natürlich brauchen wir nicht zu verheimlichen, dass China verschiedenen Herausforderungen gegenübersteht. Doch wie die Prinzipien des dialektischen Materialismus zeigen, „der Weg mag verschlungen sein, aber die Zukunft ist vielversprechend“. Gegenwärtig folgt China zweifellos dem Pfad des Sozialismus. Diese spezielle Form des Sozialismus, die auf die einzigartigen Umstände Chinas zugeschnitten ist, hat neue Wege für Entwicklungsländer eröffnet, um die Modernisierung zu erreichen. Sie trägt nicht nur chinesische Erkenntnisse bei, sondern bietet auch einen chinesischen Ansatz zur Bewältigung globaler Herausforderungen.

Unsere Autorin forscht im Bereich Marxistische Theorie an der Tsinghua-Uni­versität in Peking.

Konferenz der DKP: China auf dem Weg zum Sozialismus
Sonntag, 26. November 2023 / 11 Uhr bis 17.30 Uhr
Einführungsreferat von Conny Renkl
Arbeitsgruppen
* Zum Einfluss der Partei und des Staates auf die Ökonomie / Es diskutieren Wolfram Elsner und Lucas Zeise
* Zur Ausübung der politischen Macht der Arbeiterklasse durch Partei und Gewerkschaften / Es diskutieren Beat Schneider und Olaf Matthes
* Zur Seidenstraßen-Initiative als Form friedlicher Koexistenz / Es diskutieren Uwe Behrens und Tobias Kriele
Abschlussplenum mit Jörg Kronauer „Chancen und Probleme einer Multipolaren Weltordnung“
Saalbau Gallus / Frankenallee 111 / 60326 Frankfurt am Main
Die Konferenz ist offen für Mitglieder der DKP und der SDAJ. Eine Anmeldung ist erforderlich unter bildung@dkp.de. Für die Durchführung der Konferenz bitten wir um Spenden.

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"Blick aus dem Osten: Chinas gegenwärtiger Weg", UZ vom 27. Oktober 2023



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