Das folgende Referat von Vincent Cziesla haben wir aus Platzgründen gekürzt. Die vollständige Fassung haben wir im UZ-Blog veröffentlicht.
Vor fast genau 32 Jahren, am 26. Mai 1993, verabschiedete der Bundestag den sogenannten „Asylkompromiss“. Mit den Stimmen von Union, SPD und FDP wurde das Grundgesetz geändert. Ziel war es, die Wahrnehmung des Grundrechts auf Asyl nahezu unmöglich zu machen. Ein Herzstück war die Einführung des Prinzips der sogenannten „sicheren Drittstaaten“ – wer auf dem Weg nach Deutschland ein so eingestuftes Land durchquert hat, hat keinen Anspruch mehr auf Asyl. Das betrifft im Grunde jeden Asylsuchenden, der nicht mit dem Flugzeug oder auf dem Seeweg direkt in Deutschland anlandet.
Die geringe Quote von Menschen, die heute nach Artikel 16a des Grundgesetzes (Asyl) anerkannt werden, wird gerne als Argument für die Abwehr von Geflüchteten herangezogen. Da es sowieso keinen Asylanspruch gäbe, sollen diese Abwehrmaßnahmen als „Durchsetzung des Rechts“ erscheinen. Dabei wird die erfolgte Demontage des Grundrechtes auf Asyl ebenso ignoriert wie die deutlich höhere Quote von Anträgen, die mit der Gewährung eines anderen Schutzstatus’ enden.
Parolen
Drei Tage nach dem Bundestagsbeschluss, am 29. Mai 1993, wurde in Solingen der rassistische Brandanschlag verübt, bei dem fünf Menschen türkischer Herkunft ermordet wurden. Die rassistische Gewalt auf den Straßen war nicht zu trennen von der seitens der selbsternannten „demokratischen Mitte“ über viele Jahre vorangetriebenen Debatte über vermeintlichen „Asylmissbrauch“, „Scheinasylanten“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“. Vielmehr zeigt sich im Rückblick auf dieses Zusammenspiel der gesamte Instrumentenkasten der bürgerlichen Migrationspolitik – einer Politik, die oft mit moralischen Schlagworten argumentiert: von „Willkommenskultur“, „Vielfalt“ und „Integration“ auf der einen und „Ausländerkriminalität“, „Ausländerextremismus“ und der vermeintlichen „Einwanderung in den Sozialstaat“ auf der anderen Seite.
„Wir sind nicht das Sozialamt der Welt!“ „Konsequent abschieben!“ „Kriminelle Ausländer raus!“ „Armutszuwanderung stopp!“ Das waren über Jahre Parolen der Rechtsaußen-Stichwortgeber von NPD und Republikanern, die man öffentlich empört zurückwies, sich aber ihrer bediente, wenn es gerade zur Zielsetzung passte. Wenn man sich Äußerungen vor Augen führt wie die vom früheren Bundeskanzler Olaf Scholz, der „im großen Stil abschieben“ wollte, oder von seinem Nachfolger Friedrich Merz – „Das Maß ist voll!“ –, ist die Verschiebung der Debatte leicht zu erkennen. Die Rolle des Stichwortgebers soll der AfD zufallen, die sich aber regelmäßig sichtlich bemühen muss, um in der Migrationsfrage rechts an den anderen Parteien vorbeizukommen.
Interessengeleitet
Die hinter der bürgerlichen Asyl- und Migrationspolitik stehenden kurz- und mittelfristigen Ziele sind vielfältig: Es geht darum, Rassismus zu befeuern und die Arbeiterklasse zu spalten. Es geht um die Ablenkung von Krieg und Krise und um die Umlenkung von sozialem Protestpotenzial. Wie das funktioniert, konnte im vergangenen Bundestagswahlkampf beobachtet werden, wo die Migrationsfrage die veröffentlichte Debatte fest im Griff hatte. Es geht darum, Sündenböcke für das Versagen der Daseinsvorsorge – zum Beispiel im Wohnungsbau – zu präsentieren. Aber auch darum, unter dem Deckmantel der Migrationspolitik demokratische Rechte zu schleifen, die Polizei hochzurüsten, die Militarisierung (zum Beispiel an den Grenzen) voranzutreiben und sozialen Kahlschlag zu rechtfertigen. Hierbei sind die Übergänge fließend: Die geplanten Kürzungen für Asylsuchende und für Bürgergeldempfänger gehen Hand in Hand.
Auf der strategischen Ebene geht es aber vor allem um eines: Darum, das vorhandene Reservoir an Arbeitskräften an die Verwertungsinteressen des deutschen Kapitals anzupassen, durch die gezielte Anwerbung von Fachkräften Ausbildungskosten einzusparen, die Vormachtstellung des deutschen Imperialismus auszubauen und die Ausbeutung zu verschärfen und gleichzeitig Menschen loszuwerden, die aus unterschiedlichen Gründen – wie mangelnde Ausbildung, Krankheit oder politische Renitenz – nicht den Bedürfnissen des Kapitals entsprechen. Ebenso schwankend wie der Bedarf an Arbeitskräften sind dann auch die Schlagworte der bürgerlichen Politik, mal ausgelegt auf „Offenheit“ und mal auf „Abschottung“.
Dieses Aussortieren von Menschen nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit ist die Konstante der bürgerlichen Migrationspolitik und der Konsens, der sich bei den politischen Parteien von AfD bis SPD wiederfindet. Der Grundanspruch, Migrationsprozesse zu beeinflussen, um die Zusammensetzung der Bevölkerung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migranten den Interessen des Kapitals – oder „der Wirtschaft“, wie es oft so schön heißt – anzupassen, hat in den vergangenen Jahrzehnten auch dank eines medialen Dauerfeuers eine gewisse Wirkmacht im Bewusstsein der Arbeiterklasse entwickelt. In Zeiten von Krieg, Krise und Inflation trifft dies auf eine (berechtigte) wachsende Furcht vor Wohlstandsverlusten. Diese werden selbstverständlich nicht durch Migration verursacht. Doch die Zuwanderung von Arbeitskräften wird von der herrschenden Klasse genutzt, um die Konkurrenz zwischen den Lohnarbeitenden zu verschärfen und der Arbeiterklasse Abstiegsszenarien vor Augen zu führen.
Gefahren
Die öffentliche Diskussion über zum Teil sehr komplexe Fragen und die dahinterliegenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten wird schablonenartig und im Stil eines Kulturkampfs geführt: „Rechts“ soll sein, wer für bedingungslose Abschottung ist – „links“ soll sein, wer Migration als eine Art Selbstwert fördert.
Dieses Schema kennt keinen Klassenstandpunkt und auch keinen Bezug zu den herrschenden Kräfteverhältnissen. Es führt zu Verwüstungen im politischen Denken, auch auf der linken Seite des politischen Spektrums. Denn nicht selten macht man sich hier die bürgerliche Argumentation zu eigen, dass Migration die Antwort auf Fragen wie den sogenannten „Fachkräftemangel“ oder den demografischen Wandel sei.
Doch es gibt auch die Gegenentwicklung im linken Spektrum, die – sei es, um Anschlussfähigkeit an den vorherrschenden Bewusstseinsstand herzustellen oder anknüpfend an reale Missstände – eine Annäherung an den in der öffentlichen Debatte vorherrschenden Kurs sucht und die Kritik an den Auswirkungen von Migrationsprozessen zu einer Kritik an Einwanderern und Geflüchteten macht.
Untrennbar
Migrationsprozesse sind mit dem Kapitalismus untrennbar verbunden. Mit dem Prozess der sogenannten ursprünglichen Akkumulation, die Marx als gewaltsamen „Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen“ beschreibt, setzten große Wanderungsbewegungen der nun doppelt freien Lohnarbeiter ein – zunächst vom Land in die Städte, aber auch schnell über die Grenzen von Nationalstaaten hinweg. Grundsätzlich gilt: „Permanente wechselweise Abstoßung und Anziehung von Arbeitskräften kennzeichnen den krisenförmigen Verlauf der kapitalistischen Akkumulation überhaupt. Konjunkturkrisen, die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit mit relativ immer weniger Arbeitern, sprunghaft verlaufende Veränderungen in der Produktivkräfte- und Branchenstruktur sind nur möglich, wenn eine jederzeit mobilisierbare Arbeitskräftereserve existiert“, fasste Beate Landefeld das Geschehen in den „Marxistischen Blättern“ zusammen.
Damit ist erklärt, warum die Bewegungsfreiheit der Lohnarbeiter eine Voraussetzung für Produktivkraftentwicklung und kapitalistische Produktion ist. Aber noch nicht, wie und warum sich Migrationsprozesse konkret vollziehen. Eine auf empirischen Daten basierende Antwort liefert Artur Pech in seinem Buch „Marx und Engels über Migration“. Er weist nach, dass sich die Migrationsbewegungen nach und aus Deutschland heraus anhand der ungleichen ökonomischen Entwicklung der jeweiligen Länder erklären lassen. Deutschland erreicht demnach Zuwanderungsgewinne aus Ländern mit einem geringeren Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf und erleidet (bis auf wenige Ausnahmen) Abwanderungsverluste nach Ländern mit einem höheren BIP pro Kopf.
Als entscheidende ökonomische Triebkraft macht Pech den unterschiedlichen Wert der Ware Arbeitskraft in den verschiedenen Ländern aus, der sich vor allem daraus ergibt, dass sich die Reproduktionskosten (Ausbildungs- und Lebenshaltungskosten) deutlich unterscheiden. Diese Unterschiede werden im Zuge der Globalisierung ausgenutzt, um Arbeitskraft „über Wert“ ihrer Reproduktion zu verkaufen.
Ursachen
Die individuellen Motive für den Entschluss, die Heimat zu verlassen, sind natürlich vielfältig – seien es Arbeitslosigkeit und Armut im Herkunftsland, die Hoffnung auf ein besseres Leben für die eigene Familie oder die Flucht vor existenziellen Bedrohungen durch Kriege, Gewalt und politische Verfolgung. Eine zunehmende Rolle spielt auch die Flucht vor der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch klimatische Veränderungen, etwa Extremwetterereignisse oder die Bedrohung durch einen steigenden Meeresspiegel.
Das Grundrecht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention sind historische Fortschritte, die verteidigt werden müssen. Demontiert werden sie aber, anders als oft behauptet, nicht von den Menschen, die sie in Anspruch nehmen, sondern von dem Bestreben, die Weltbevölkerung entsprechend den eigenen politischen, militärischen und ökonomischen Interessen zu verwerten – vom Bestreben des Imperialismus, der durch das Führen von Kriegen, die Destabilisierung von Ländern, durch Waffenexporte, durch ökonomische Unterdrückung und Ausbeutung von ärmeren Ländern und ökologische Zerstörungen die Verantwortung für die häufigsten Fluchtursachen trägt.

Auswirkungen
Migration hat nicht nur Ursachen, sondern auch Auswirkungen – sowohl auf die Herkunfts- als auch auf die Einwanderungsländer. Werfen wir einen Blick auf die Punkte, die vor allem in der deutschen Migrationspolitik eine entscheidende Rolle spielen.
Das Bestreben, hoch qualifizierte Fachkräfte abzuwerben, führt in den betroffenen Ländern zu einem sogenannten Braindrain. Mühsam und teuer ausgebildete Arbeitskräfte gehen verloren, im Gegenzug spart sich das deutsche Kapital einen erheblichen Teil der Reproduktionskosten. Darauf zielen Vereinbarungen ab wie das sogenannte „Abkommen über eine Mobilitätspartnerschaft“, das Exkanzler Scholz im vergangenen Jahr mit Usbekistan abgeschlossen hat.
Häufig wird der Kritik an diesem Vorgehen entgegengehalten, dass es sich beim Braindrain um eine Art versteckte Entwicklungshilfe handele – schließlich würden die abgeworbenen Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Ferne häufig Geld schicken, um ihre Familien zu unterstützen. Durch diese sogenannten Rücküberweisungen „profitieren die Empfänger:innen, können an der höheren Arbeitsproduktivität der Zahler:innen teilhaben – und sich dadurch mehr leisten“, schreibt beispielsweise die Rosa-Luxemburg-Stiftung in ihrem „Atlas der Migration“. Das Urteil ist eindeutig: „Weil sie meist Geld zurückschicken und teils auch besser qualifiziert zurückkehren, ist Migration auch für Entwicklungsländer gut.“ Die Kehrseite dieser Einschätzung ist allerdings, dass durch den Ausverkauf an eigenen Arbeitskräften im Gegenzug für finanzielle Zuweisungen neue Abhängigkeiten entstehen und das Potenzial für die wirtschaftliche Aufholjagd der ärmeren Länder vermindert wird.
Konkurrenz
Im Einwanderungsland führt das Auffüllen des Arbeitsmarkts unter Zuhilfenahme von Migration objektiv zu einer verschärften Konkurrenz zwischen den Lohnarbeitenden. Durch die Erhöhung des Arbeitskräfteangebots wird schon dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgend Druck auf die Löhne ausgeübt und der Kampf um gute Ausbildung erschwert. Für das Kapital, das die Ausbildungskosten ohnehin scheut, gibt es keinen Anlass, für bessere Qualifikation und Bildungsmöglichkeiten zu sorgen. Aber nicht nur in hoch qualifizierten Bereichen, sondern auch in Branchen, die einen hohen Anteil an menschlicher Arbeitskraft voraussetzen oder saisonabhängig sind, rechnet es sich, die Lebens- und Reproduktionskosten der Beschäftigten auszulagern. Bekannte Beispiele dafür sind die Landwirtschaft, die Baubranche oder die Logistik, die ausländische Arbeitskräfte nach Bedarf anheuern und wieder loswerden – und dann mit der Sicherung ihrer Existenz nichts mehr zu tun haben wollen, bis sie wieder gebraucht werden. So ist auch die Zahlung von Löhnen möglich, mit denen ein dauerhaftes Leben in Deutschland nicht gesichert werden könnte.
Dass ein echter „Fachkräftemangel“ und kein herbeigeredeter wie hierzulande auch interessante Folgen zeitigen kann, zeigte zum Beispiel der Brexit: Durch den Wegfall der EU-Freizügigkeit verlor Britannien auf einen Schlag sehr viele Arbeitskräfte in der Logistikbranche – es kam zu einem Mangel an Lkw-Fahrern. Von einer „Lastwagen-Krise“ war die Rede, das Kapital war gezwungen, bessere Bedingungen zu gewähren. Zwei Jahre später schrieb die „FAZ“: „Durch beschleunigte Ausbildung und höhere Löhne für Lkw-Fahrer hat sich die Lage entspannt.“ Noch präziser fasste das der „Münchner Merkur“: „Haarsträubende Brexit-Folgen: Löhne für Lkw-Fahrer steigen.“
Spaltung
Die ökonomischen Auswirkungen zu vernachlässigen wäre genauso falsch wie daraus Automatismen abzuleiten. Letztendlich beschreiben wir die Bedingungen, unter denen der Klassenkampf geführt werden kann, aber geführt werden muss er doch. So ist es zwar objektiv richtig festzustellen, dass durch Zuwanderung zum Beispiel der Druck auf dem Wohnungsmarkt wächst. Aber daraus folgt nicht, dass die Zugewanderten schuld an der schlechten Wohnraumversorgung sind. Es muss stattdessen für einen öffentlichen Wohnungssektor gekämpft werden, der das Wohnen als Grundrecht sichert – für hier Geborene ebenso wie für Zugewanderte. Die herrschende Klasse setzt jedoch an den erlebten negativen Auswirkungen der Migration an und versucht, dadurch die Spaltung der Klasse voranzutreiben. Um dieser Instrumentalisierung von berechtigten Sorgen entgegenzuwirken, ist es notwendig, die Ursachen und Wirkweisen der mit der Migration verbundenen Problemstellungen zu verstehen – sie zu ignorieren, bringt uns nicht voran.
Gesundheitssystem
Bestimmte gesellschaftliche Bereiche funktionieren schon seit vielen Jahren überhaupt nur noch, weil die notwendige Arbeit von Migrantinnen und Migranten gestemmt wird. Das Paradebeispiel ist sicherlich das Gesundheits- und Pflegesystem. Auch hier ist der „Fachkräftemangel“ vor allem ein Mangel an guten Arbeitsbedingungen, Löhnen und Ausbildungsmöglichkeiten. Ohne Zuwanderung wäre das profitorientierte Gesundheitswesen längst nicht mehr funktional und die Versorgung von Pflegebedürftigen, auch in der Altenpflege, nicht mehr zu gewährleisten.
Um damit umzugehen, brauchen wir erneut die Unterscheidung: zwischen Migration als objektivem Prozess, der Lebens- und Arbeitssituation von Migrantinnen und Migranten, die eine gesellschaftlich wertvolle Arbeit verrichten, und der bürgerlichen Migrationspolitik, die alles daran setzt, Zuwanderung und verschärfte Ausbeutung als Lösung der hausgemachten Probleme darzustellen. Ergebnis dieser Abwägung kann nur der gemeinsame Kampf aller Kolleginnen und Kollegen für bessere Arbeitsbedingungen für alle und für eine gut finanzierte Pflege als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge sein.
Ausplünderung
Wenn wir einen genaueren Blick auf die Verhältnisse auf dem sogenannten „Gesundheits- und Pflegemarkt“ werfen, fallen mit Blick auf das Migrationsgeschehen bestimmte Entwicklungen besonders ins Auge. Da haben wir zum Beispiel das Phänomen der sogenannten „Live-in-Pflege“ – zu Deutsch: 24-Stunden-Pflege oder umgangssprachlich: „Wir holen der Oma eine Polin.“ Dieses Modell geht mit einem enormen Bedarf an Arbeitskräften einher, der vor allem von Frauen aus dem osteuropäischen Raum sichergestellt wird. Nach einer Untersuchung der Diakonie Deutschland aus dem Oktober 2022 „arbeiten in Deutschland derzeit zwischen 300.000 und 700.000 Personen, ganz überwiegend Frauen, die in der Regel aus mittel-, ost- und südosteuropäischen Ländern stammen, als Haushaltshilfe, Betreuungs- und Pflegekräfte, die mit den zu pflegenden Personen in einem Haushalt leben“. Häufig geht dies mit starken Abhängigkeitsverhältnissen, mangelnder sozialer Absicherung und der Verletzung grundlegender Arbeiterrechte (Arbeitszeit, Pausen, Urlaub) einher.
Natürlich bietet sich hier für Familien die Gelegenheit, ihre Pflegebedürftigen im häuslichen Umfeld versorgen zu lassen – auf welche die Betroffenen auch regelmäßig angewiesen sind. Es geht also nicht um einen moralischen Vorwurf. Klar ist aber auch, dass diese Art der Versorgung auf einer volkswirtschaftlichen Ebene nur durch die Ausnutzung des Lohngefälles funktioniert. Die 24-Stunden-Pflegerinnen in Deutschland stehen dabei am Ende einer Migrationskette, die sich auch über ihre Heimatländer fortsetzt. So kommen etwa Altenpflegerinnen aus Tschechien nach Deutschland, während Altenpflegetätigkeiten in Tschechien zu einem großen Teil von Frauen aus der Ukraine oder aus Moldau übernommen werden. Grundlage dieses ganzen Vorgehens ist die EU-weite Freizügigkeit bei gleichzeitig sehr unterschiedlicher Entwicklung der betroffenen Volkswirtschaften. Dadurch wird ein Modell ermöglicht, das mit Blick auf das medizinische Personal sagt: „Ihr könnt euch eure Pflegerinnen nicht leisten, darum kaufen wir sie euch ab.“ Für die Arbeitenden sind höhere Löhne als im Heimatland möglich, doch am Ende der Migrationskette steht der Ausverkauf – und die Feststellung, dass sich einige Länder eine vergleichsweise hohe Quote von Pflegenden leisten können, mitfinanziert von den ärmeren.
Ganz ähnlich verhält es sich auch bei der Abwerbung von Ärztinnen und Ärzten. Die Ausbildungskosten für einen Mediziner betragen in Deutschland rund 200.000 Euro. Von 581.000 in Deutschland beschäftigten Ärzten hatten zum 31. Dezember 2024 laut Ärztestatistik 68.102 keine deutsche Staatsbürgerschaft. Die Summe der durch den Import von Ärzten eingesparten Ausbildungskosten liegt also bei mehr als 13,6 Milliarden Euro – wenn man nur diese Gruppe in den Blick nimmt. Die häufigsten Herkunftsländer sind Syrien (7.042), Rumänien (4.682), Türkei (3.169) und Russland (3.110). Diese Länder haben alle eine niedrigere Arztdichte als Deutschland. Es handelt sich schlicht um die Aneignung der in den Herkunftsländern geleisteten Ausbildungsleistung zulasten der dortigen Gesundheitswesen. In diesem Zusammenhang sei an die Aussage des jetzigen Kanzleramtschefs Frei erinnert, der für den Schutz vor Abschiebungen nach Syrien ein Mindestgehalt festlegen wollte. Mit Blick auf die Ärzte ahnt man, warum.
Das Gesundheitswesen hängt also in der globalen Betrachtung von der systematischen Ausplünderung ärmerer Länder ab. Das sei auch noch erwähnt, weil gerade mit Blick auf Geflüchtete häufig gerne behauptet wird, dass diese sich durch die Inanspruchnahme von Gesundheitsversorgung unzulässig bereichern würden. Besonders, wenn es um psychische Erkrankungen geht, wird schon einmal getönt, dass „Deutschland nicht die Psychiatrie der Welt“ sei. Das Gegenteil ist der Fall: Die „Welt“ finanziert das profitorientierte deutsche Gesundheitswesen unfreiwillig mit.
Druckpotentiale
Neben der Selektion von Arbeitskräften und dem Vorhalten einer Reservearmee von Beschäftigten wird auch die Entrechtung von Migrantinnen und Migranten vorangetrieben. Das geschieht derzeit vor allem durch die Androhung von Abschiebungen bei politischem Fehlverhalten. Vor allem die Palästinasolidarität ist ins Visier geraten. Durch die Einführung von immer schärferen Gesetzen zur Abschiebung soll ein Einschüchterungseffekt erzielt werden. Wer bleiben will, soll sich lieber ruhig verhalten. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass hier auch gewerkschaftliches Engagement oder die Beteiligung an Streiks in den Fokus rücken. Für Menschen, deren Aufenthaltsgenehmigung von der Beschäftigung abhängt, ist es ungleich schwerer, für ihre Rechte zu kämpfen. Zugleich wird mit der Angstmache vor den vermeintlich „extremistischen“ Migranten der reaktionäre Staatsumbau vorangetrieben. Gleiches gilt für die Betonung von „Ausländerkriminalität“, die immer wieder für die Legitimation der Aufrüstung der Polizei herhalten muss.
Wie auch beispielsweise in den USA zu beobachten, dienen martialische Razzien und Abschiebeoffensiven auch dazu, die verbleibenden Migranten einzuschüchtern und in noch prekärere Arbeitsverhältnisse zu zwingen. Diese Angriffe zielen auf die Organisationsfähigkeit der Arbeiterklasse. Es handelt sich um gewaltsame Spaltungsmechanismen, denen wir uns entgegenstellen müssen.
Sozialabbau
Auch der Abbau von sozialen Rechten und Leistungen wird über den Umweg der „Migrationspolitik“ vorangetrieben. Schwingt doch immer dann, wenn von der „Einwanderung in den Sozialstaat“ die Rede ist, der Unterton mit, dass es in Deutschland ohnehin zu viele Sozialleistungen gäbe.
Ein weiterer Fall von Sozialabbau unter dem Deckmantel der Migrationspolitik zeigt sich in der gezielt vorangetriebenen Überforderung von Kommunen mit der Unterbringung von Geflüchteten. Hier hat es über Jahre keinen nennenswerten Fortschritt und nicht im Ansatz ausreichende Unterstützung gegeben. Seitdem werden die Klagen der strukturell unterfinanzierten Kommunen regelmäßig für Forderungen nach einem weiteren Abbau des Asylrechts genutzt. Das lenkt auch von den verheerenden Auswirkungen der Kriegspolitik auf die Gemeindefinanzen ab.
Demokratieabbau
Nach außen treibt Deutschland über die EU eine Militarisierung der Grenzsicherung voran. Nicht nur, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex immer weiter aufgerüstet wird. Sie ist auch zunehmend fernab des EU-Gebiets im Einsatz und sorgt somit für eine Ausweitung des militärischen Aktionsradius der EU. Mit der Zielstellung der Abwehr von „irregulärer Migration“ rüstet die EU auch den Grenzschutz in afrikanischen Staaten auf – zum Beispiel durch den fünf Milliarden Euro schweren „Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika“. Damit wird gezielt das Vorhaben der Afrikanischen Union untergraben, die bis zum Jahr 2063 eine kontinentweite Freizügigkeit anstrebt.
Zum Kampf gegen Ausbeutung und Krieg gehört die Solidarität mit den Menschen, die als Geflüchtete oder als Arbeitsmigranten nach Deutschland kommen. Sie sind Teil der Arbeiterklasse und unseres gemeinsamen Kampfes.
Ihre Migrationsgeschichte bringt Schwierigkeiten und Chancen mit sich. Schwierigkeiten etwa dann, wenn Sprachbarrieren und die (berechtigte) Angst vor Repressionen vorherrschen. Auch die mit prekären Lebens- und Wohnverhältnissen – häufig konzentriert auf bestimmte Stadtteile – einhergehende Abtrennung vom Rest der Arbeiterklasse, durchlebte Fluchterfahrungen oder die erlebte Konfrontation mit Rassismus und Diskriminierung können die gemeinsame Organisation erschweren. Auf der anderen Seite können die im Heimatland gemachten Erfahrungen mit dem Wirken des Imperialismus und dem Widerstand dagegen sehr wertvoll für die Herausbildung eines antiimperialistischen Bewusstseins hierzulande sein. Wie beeindruckend ist das Auftreten der migrantisch geprägten Palästinasolidarität, auch bei den diesjährigen Ostermärschen, trotz massiver Repression gewesen? Hier bieten sich die Chancen, Bewegungen zusammenzuführen, die zusammengeführt werden müssen.
Ausgangspunkt der politischen Einschätzung muss für uns die Unterscheidung zwischen der Migration als mit dem Kapitalismus unzertrennlich verbundenen Prozess, den interessengeleiteten Zielen der bürgerlichen Migrationspolitik und dem Umgang mit den betroffenen Menschen sein.
Klassenkampf
Die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Migrationspolitik muss mit der Aufdeckung der dahinterliegenden Interessen beginnen. Häufig wird sich zeigen, dass das Interesse schon darin besteht, dass die Debatte über beispielsweise Grenzschließungen den gesamten öffentlichen Raum dominiert und von der Friedensfrage oder von der sozialen Frage ablenkt. Es ist daher zu überlegen, ob es sinnvoll ist, sich innerhalb dieser Debatte zu bewegen und somit am Ablenkungsmanöver mitzuwirken. Ziel muss die Aufklärung über Hintergründe und Auswirkungen sein. Dies gelingt jedoch nur begrenzt, solange der Klassenfeind – siehe Bundestagswahlkampf – nahezu unerschöpfliche mediale und politische Ressourcen in das Befeuern dieser Diskussion investiert. Das ist ein Problem, mit dem wir leben müssen – ohne davor zu kapitulieren.
Zugleich muss es Widerstand gegen die Militarisierung der Grenzsicherung und menschenverachtende Auswirkungen (etwa das Massengrab Mittelmeer) geben, gegen Rassismus, Einschüchterungsversuche und die Angstmacherei sowieso.
Die Menschen, die bereits in Deutschland leben, werden durch Migrationsprozesse vor objektive Herausforderungen gestellt, die von der herrschenden Klasse instrumentalisiert und verschärft werden. Wir leugnen die dadurch entstehenden Probleme nicht, wenden uns aber gegen Ausgrenzung und orientieren uns in unserem politischen Kampf am gemeinsamen Klasseninteresse.
Dabei ist es notwendig, den Überblick über Ursache und Wirkung zu behalten. Denn es bleibt am Ende eines Referats über Migration nicht aus, dass sich der Eindruck aufdrängt, die gesamte kapitalistische Problemwelt hänge irgendwie mit der Migrationsfrage zusammen. Deshalb möchte ich zum Schluss noch einmal Beate Landefeld zitieren, die es sehr treffend auf den Punkt gebracht hat: „Die Kapitalisten benutzen die Migration, um das Lohnniveau zu drücken, wie sie jede Differenzierung unter den Lohnabhängigen nutzen, zum Beispiel die Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder den Generationen. Jüngere werden Älteren vorgezogen, viele Frauen und Ausländer in prekäre Beschäftigung gedrängt, Frauen verdienen weniger als Männer, Ausländerinnen am wenigsten. Das ist Klassenkampf von oben. Seine Abwehr ist nur durch ökonomischen und politischen Klassenkampf von unten möglich. Nur auf diesem Weg lassen sich gute Beschäftigungsverhältnisse für alle erkämpfen.“ Das Ziel müsse der Kampf gegen die ursächliche Ungleichheit sein – und damit gegen den Kapitalismus, der sie hervorbringt.