Picassos „Guernica“

„Das haben Sie gemacht?!“

Helmut Manz

„Das haben Sie gemacht?“, fragte entsetzt ein deutscher Offizier, der Picasso 1944 in seinem Pariser Atelier besuchte. „Das“ war „Guernica“. Der Besucher hatte das Bild auf einem Foto entdeckt. Picasso hatte es für den spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung gemalt, wo es am 12. Juli 1937 der Öffentlichkeit präsentiert worden war.

Am 19. Juli 1937 wurde in München eine „Schandausstellung“ moderner Kunst eröffnet. Sie trug den Titel „Entartete ‚Kunst‘“ und wurde mit über zwei Millionen Besucherinnen und Besuchern die erfolgreichste Propagandaschau der NS-Zeit. Sie war eine Inszenierung des „gesund“ genannten „Volksempfindens“. „Gesund“ sollte sein, wer auf die in „Schreckenskammern“ platzierten Kunstwerke mit Ekel und Empörung reagierte. Wer solch ein „gesundes Empfinden“ nicht wenigstens vortäuschte, machte sich verdächtig, selbst „kulturbolschewistisch verseucht“, „verjudet“ und „entartet“ zu sein. Das Entsetzen des deutschen Offiziers in Picassos Atelier war nicht vorgetäuscht. Er sah auf dem Foto nicht das weltberühmte Meisterwerk, das seit 1939 eine Hauptattraktion des Museum of Modern Art in New York war. Er sah „entartete Kunst“ – eine Verunstaltung und Schändung all dessen, was in seinen arischen Augen den hehren Namen Kunst verdiente.

Seine Frage war ein Vorwurf. „Das haben Sie verbrochen?“, war ihr eigentlicher Sinn. Wie sollte Picasso reagieren? Hätte er sagen sollen, dass er ursprünglich ein gar kein erschreckendes, sondern ein schönes Bild malen wollte? Das wäre nicht gelogen gewesen. Wie alle Nationen wollte sich auch die Spanische Republik der Volksfront-Regierung auf der Weltausstellung von ihrer besten Seite zeigen. Der spanische Pavillon sollte das neue Spanien vor Augen führen, das sich aus seiner mittelalterlichen Rückständigkeit befreit hatte und energisch den demokratischen und sozialen Fortschritt vorantrieb. Für die ästhetische Inszenierung dieses neuen Spanien war das damals modernste gerade fortschrittlich genug. Die Architekten des Pavillons waren ein Bauhaus- und ein Le-Corbusier-Schüler. Neben Luis Buñuel und Joan Miró sollte vor allem Picasso mit einem gigantischen Gemälde auf einer Leinwand von 27 Quadratmetern jeden Zweifel an der Modernität des neuen Spanien schon im Erdgeschoss zerstreuen. Picasso, der schon vor Jahrzehnten vor dem alten Spanien nach Paris geflohen war, nahm den Auftrag begeistert an und wollte ihm mit einem Bild mit dem unpolitischen Thema „Maler und Modell“ gerecht werden. Ihm schwebte wahrscheinlich ein farbenprächtiges und mit kühner Formgebung beeindruckendes Feierwerk künstlerischer Kreativität vor.

Die schöne Bildidee wurde buchstäblich zerbombt. Am 26. April 1937 griffen deutsche und italienische Kampfflugzeuge die mit Flüchtlingen überfüllte baskische Kleinstadt Guernica an. Dem Bomberterror mit Spreng- und Brandbomben folgte der Massenmord mit Maschinengewehren aus Tieffliegern. „Guernica, Stadt mit 5.000 Einwohnern, buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht“, notierte der verantwortliche Kriegsverbrecher Wolfram von Richthofen begeistert in seinem Kriegstagebuch. Die Vernichtung einer Stadt durch einen planmäßig herbeigebombten Feuersturm war ein damals noch beispielloses Kriegsverbrechen. Selbst den Nazis war der unheimliche Erfolg ihrer heimlich aufgerüsteten Luftwaffe nicht ganz geheuer. Die bloße Existenz dieser Luftwaffe war ein klarer Bruch des Versailler Vertrags. Die verbotene Waffe konnte außerdem nur von regulären Streitkräften bedient werden. Damit war auch klar, dass es sich bei der sogenannten „Legion Condor“ nicht um eine irreguläre Freiwilligentruppe handelte. Die Vernichtung Guernicas war ein eklatanter Bruch des Kriegsvölkerrechts, des Versailler Vertrags und der in London vereinbarten Nichteinmischung in den Spanischen Bürgerkrieg. Würden England und Frankreich weiter tatenlos zusehen? Die noch nicht kriegsfähigen Kriegstreiber in Berlin konnten das damals nur hoffen.

Der Terrorstaat bekannte sich nicht zur Tat. Stattdessen verkehrte die NS-Propaganda Opfer und Täter. Die Deutsche Wochenschau missbrauchte die echten Bilder des zerstörten Guernica, um gegen erfundene „bolschewistische Mordbrenner“ zu hetzen. Aber die Wahrheit war nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Der Kriegsreporter George Lowther Steer, der 1935 den Giftgaseinsatz der italienischen Faschisten in Äthiopien aufgedeckt hatte, war am Tag nach der Bombardierung vor Ort gewesen. Er hatte Beweismittel gesammelt und Zeugen befragt. Als die faschistischen Truppen Guernica besetzten und „säuberten“, war sein Bericht bereits in der Londoner „Times“ erschienen. Sein Artikel schockierte die demokratische Weltöffentlichkeit.

Dieser von den Traumata des zweiten Weltkriegs verschüttete Schock wäre längst vergessen, wenn wir uns nicht immer noch ein Bild von ihm machen könnten. In Picassos „Guernica“ ist er bis heute nicht verblasst. Das Bild ist der auf die Leinwand gebannte Schock, den Steers Artikel ausgelöst hatte. Dessen Überschrift könnte sein Titel sein: „The tragedy of Guernica“. Der im Bild fixierte Moment ist der Höhepunkt der Tragödie: die Katastrophe. Sie ist im Bildraum von 3,5 Metern Höhe und 7,8 Metern Breite allgegenwärtig. Wohin sich der Blick auch wendet, stets springen Entsetzen, Schmerz, Tod und Zerstörung ins Auge. Auf der emotionalen Ebene ist „Guernica“ trotz seiner unendlichen Interpretationsgeschichte auf Anhieb zu verstehen.

Auch der Offizier in Picassos Atelier brauchte keine lange Erklärung. Er hatte keine weiteren Fragen, nachdem ihm Picasso geantwortet hatte: „Nein, das haben Sie gemacht!“

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"„Das haben Sie gemacht?!“", UZ vom 10. Oktober 2025



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