Spannungen schüren, Gerüchte verbreiten, Regierung isolieren – „Regime Change“ à la USA

Der große Krieg gegen Syrien

Von Manfred Ziegler

Chronik

16. März 2011: Beginn der Proteste in Daraa, Syrien, danach Ausweitung auf das ganze Land

19. März 2011: Angriff der NATO auf Libyen

Frühjahr 2011: Aufhebung des Kriegsrechts und weitere Reformen

21. Juni 2011: Reform-Rede Assads in der Universität von Damaskus

Sommer 2011: Große Demonstrationen zur Unterstützung des Reformkurses

Oktober 2011: Letzte Demonstration, Vetos Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat gegen eine Flugverbotszone

26. Februar 2012: Neue Verfassung; Abschaffung des Vorrangs der Baath-Partei, neues Wahl- und Parteienrecht

30. Juni 2012: Erste Verhandlungen in Genf

11. Juli 2012: Operation Vulkan Damaskus, Angriff auf Aleppo und Damaskus

September 2014: USA greifen Ziele (des IS) in Syrien an

30. September 2015: Russland greift auf Bitte der syrischen Regierung Stellungen des IS in Syrien an

15. März 2016: Russland beginnt damit, Flugzeuge aus Syrien abzuziehen

27. März 2016: Nach den russischen Luftangriffen kann die syrische Armee IS aus Palmyra vertreiben

18. Juni 2016: 51 Mitarbeiter des US-Außenministeriums verlangen Luftangriffe gegen Syrien

Juli 2016: Die russische Luftwaffe verstärkt wieder ihre Aktivitäten

29. Juli 2016: Die syrische Armee schneidet die Dschihadisten im Ostteil Aleppos vom Nachschub ab

Syrien war in Europa vor dem Beginn des Krieges „Terra Incognita“, ein Land, das kaum jemand kannte. So wurde von all den Auseinandersetzungen, die 2011 aufbrachen, nur eine einzige gesehen – oder gezeigt: der Kampf um politische Freiheiten gegen den Diktator. Die Probleme, die von außen in das Land hineingetragen wurden, die Entwicklungen im Land und die Widersprüche innerhalb des oppositionellen Lagers wurden nicht wahrgenommen.

Im Fadenkreuz

Syrien war schon lange den Auswirkungen der Konflikte in der Region ausgesetzt. Der wichtigste dieser Konflikte war der um die wirtschaftliche, politische und technologische Vormachtstellung in der Region – der Streit um das iranische Atomprogramm. Die Möglichkeit eines Angriffs Israels auf den Iran, allein oder gemeinsam mit den USA, überschattete lange Zeit auch Syrien. Es gab Wirtschaftssanktionen und darüber hinaus ganz unmittelbare Bedrohungen. Julian Assange sprach in einem Interview über eine Nachricht, die 2006 der damalige US-Botschafter in Damaskus, William Roebuck, versendet hatte. Darin wird der Plan eines Regime-Change in Syrien diskutiert und wie man ihn am besten erreichen könne. Zu den Maßnahmen, die getroffen werden sollten, gehörte es, Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten zu schüren, indem Gerüchte und Übertreibungen verbreitet würden … So sollte die Regierung von der Bevölkerung isoliert werden.

Diese Pläne kamen nicht von ungefähr. Es war die Zeit, in der der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh von einer überraschenden Wende in der US-Außenpolitik schrieb: Sie sollte sich noch mehr an den sunnitischen Regierungen der Region orientieren und darüber hinaus sunnitische Extremisten fördern.

Zu den Gründen des damaligen Politikwandels gehörte, dass die Ergebnisse des Irak-Krieges den Einfluss des Iran gestärkt hatten. Dies bedrohte nicht nur die Rolle der USA, sondern auch das Gleichgewicht der Kräfte in Saudi-Arabien selbst. Dort gibt es nämlich eine starke schiitische Minderheit in einer Region mit wichtigen Ölfeldern.

Als zentraler Knoten im Netzwerk zwischen Hisbollah, Iran, Irak bis hin zum Jemen war Syrien schon Jahre vor dem sogenannten Arabischen Frühling im Fadenkreuz der USA und Saudi-Arabiens.

Von der Damaszener Erklärung zum Arabischen Frühling

Baschar al-Assad übernahm bei seinem Regierungsantritt 2000 ein schwieriges Erbe in einem relativ armen Land. Er versprach damals, das Land vollkommen zu erneuern.

In der Damaszener Erklärung von 2005 legten oppositionelle Gruppen unter Einschluss der Moslembrüder ihre Vorstellungen und Forderungen für einen Wandel in Syrien dar und zeichneten ein düsteres Bild des Landes. Entgegen der kritischen Sicht dieser Erklärung bot Syrien Sicherheit und Stabilität in einer instabilen Region. Zu der Zeit, als im Irak nach der Besetzung durch die USA der Krieg tobte, flohen eine Million oder mehr Iraker nach Syrien, wurden aufgenommen, untergebracht und versorgt.

Die Regierung plante Entwicklung durch Wirtschaftsreformen, um dann unter besseren Bedingungen politische Veränderungen zu ermöglichen. Syrien sollte als Brücke zwischen den Ländern West- und Osteuropas und den arabischen Ländern dienen und den arabischen Golfstaaten Konkurrenz machen. Die Reformen sollten die Reste der staatlichen Wirtschaftsplanung abbauen, wie sie aus der Zusammenarbeit mit der ehemaligen Sowjetunion überkommen waren. Der wirtschaftliche Umbau war sehr von Beratern beeinflusst, die vom IWF und ähnlichen Institutionen kamen und eine moderne globalisierte Wirtschaft formen wollten. Damit trugen die Reformen den Keim künftiger Probleme in sich.

Besucher aus dem Ausland fanden in Syrien und vor allem Damaskus ein geschäftiges, buntes, modernes Leben. Sie knüpften Kontakte zu Syrern, fanden Kunst und Kultur. Sie bewegten sich in der Sphäre der Nutznießer und Gewinner des Umbaus.

Die Reformen hatten auch Verlierer und unter dem Deckmantel der Nationalen Einheit verbargen sich Risse. Viele junge Leute gingen zur Arbeit nach Saudi-Arabien, in das Herz des Wahhabismus. Es gab soziale Konflikte zwischen Stadt und konservativen Dörfern und Konflikte zwischen der Mehrheit der Gesellschaft – die jung ist – und der Generation, die das Sagen hatte. Zunehmende soziale Ungleichheit aufgrund der Wirtschaftsreformen und Korruption kamen hinzu. Unter den Bedingungen des Kriegsrechts und der Sondergerichte war ein Interessenausgleich kaum möglich.

Syrien bot ein komplexes Bild mit Licht und Schatten.

Sommer 2011

Die Entwicklungen im Frühjahr 2011 (siehe Kasten) wurden in den Medien übertrieben und einseitig dargestellt. Gerüchte wurden gestreut – ganz im Sinne des Vorschlags von William Roebuck: Spannungen schüren, Gerüchte und Übertreibungen verbreiten, die Regierung von der Bevölkerung isolieren.

Im Sommer jedoch schien sich die Situation zu beruhigen. Assad kündigte in der Universität von Damaskus Reformen an. Kriegsrecht und Sondergerichte wurden abgeschafft, diejenigen Kurden, die bis dahin als staatenlos galten, erhielten syrische Pässe. Opposition und Abgeordnete des Parlaments trafen sich im Hotel Samiramis in Damaskus und versuchten, zu einer gemeinsamen Politik zu kommen. Viele Menschen unterstützten den Umbau Syriens durch Reformen.

Eine politische Lösung schien greifbar nahe. Doch in Wirklichkeit hatte der Krieg gerade begonnen.

Wie ein Krieg gemacht wird

Der Ausbruch von 2011 hatte den Staat bis in die Grundfesten erschüttert und geschwächt. Die Stunde für den Regime-Change schien gekommen.

Von Anfang an gaben die USA das Ziel einer militärischen Lösung vor: Am 16. März gab es die ersten Demonstrationen in der Stadt Daraa. Nur drei Tage später, am 19. März begann der Krieg gegen Libyen. Die NATO machte sich zur Luftwaffe der libyschen Islamisten und setzte damit auch ein Zeichen für die islamistischen Feinde Syriens: USA, NATO und Golfstaaten würden sie unterstützen – zu Lande, zu Wasser, aus der Luft – und medial.

Die USA taten alles, um wie in Libyen auch in Syrien mittels einer Flugverbotszone die Islamisten an die Macht zu bomben. Jedoch verhinderten Russland und China in der UN den Bombenkrieg gegen Syrien. Dies führte aber nicht zu einer politischen Lösung, sondern zu mehr Waffen und islamistischen Kämpfern, die aus vielen Ländern nach Syrien kamen – immer als Freiheitskämpfer bezeichnet.

Der Krieg wurde mit einem einfachen Mechanismus aufgebaut. Ein behauptetes Massaker, an dem immer und fraglos „Assad“ schuld war, war der Ausgangspunkt für eine Medienkampagne und weitere Waffenlieferungen. Der Krieg verschärfte sich – bis zum nächsten Massaker.

Ein Beispiel dafür war der Kampf um Homs. Schon im Sommer 2011 wurden in Homs Menschen von Islamisten abgeschlachtet. Die Armee wurde eingesetzt um Zivilisten zu schützen – und dies medial als eines der Massaker von Assad vermarktet. Es folgten Waffenlieferungen. Erst Monate später hieß es im „Spiegel“ über diese Zeit beschönigend, die Revolution habe in Homs ihre Unschuld verloren. Die Waffen waren da längst geliefert, das Geld verteilt.

Dieser Mechanismus trat immer wieder und vor allem vor internationalen Konferenzen in Aktion. Er wurde und wird nie hinterfragt – bis zum heutigen Kampf um Aleppo, wo es heißt, Russland und Syrien würden die „Opposition“ bombardieren. Die Medien erwiesen sich als wirksame Waffe im Krieg.

Verhandlungen

Am 30. Juni 2012 fand in Genf eine Konferenz über die Zukunft Syriens statt. Zum ersten Mal sprach die damalige US-Außenministerin Clinton von einer Übergangsregierung – und der Abschlusstext verlangte nicht explizit den Rücktritt des syrischen Präsidenten. Der Grund war einfach: Die „Operation Vulkan Damaskus“ stand unmittelbar bevor. Dies war die Operation, in der die Mitglieder des syrischen Sicherheitskabinetts einem Bombenanschlag zum Opfer fielen, gefolgt von einem massiven Angriff auf Damaskus und Aleppo. Die US-Regierung wusste von den Planungen zu diesem Angriff oder hat ihn selbst geplant. Und so hatte sie keine Einwände gegen eine Übergangsregierung – aber mit Sicherheit ihre eigenen Vorstellungen davon, wie sie aussehen würde.

Die Konferenz in Genf war die Grundlage für alle weiteren Verhandlungen. Und da sie auf einer falschen Erwartung beruhte und Regierung und Armee dem Angriff widerstanden hatten, ziehen sich die Verhandlungen bis heute erfolglos hin – und dienen allenfalls als Begründung für neue Waffenlieferungen, um die „Opposition“ vor Verhandlungen zu stärken.

Nach wie vor im Fadenkreuz

Lange Zeit wurden alle bewaffneten Feinde der Regierung vorbehaltlos als Freiheitskämpfer hofiert, bewaffnet und finanziert. Erst als der IS weite Teile des Irak erobert hatte und wiederum mit neu gewonnener Stärke in Syrien agierte, versuchten die USA, korrigierend und kon­trollierend einzugreifen. Ihre Luftangriffe auf IS und al-Nusra ohne Absprache mit der syrischen Regierung zeigen indes, dass die USA ihr Ziel noch nicht aufgegeben haben. Die syrische Regierung ist nach wie vor im Fadenkreuz!

Mttlerweile hat sich der Kreis der Unterstützer Syriens weit über die Region hinaus ausgeweitet. Irak, Hisbollah, Iran, Russland und zunehmend China unterstützen Syrien militärisch. Die Milizen und Terroristen werden zurückgedrängt, zuletzt in Palmyra und Aleppo. Die Sicherheitslage hat sich vielerorts verbessert.

Verhandlungen aber werden immer mehr zu Verhandlungen zwischen den USA und Russland.

Ein Diktator ist ein Diktator ist ein Diktator?

Es gab und gibt bis heute vieles, was sich ändern muss in Syrien. Korruption, Transparenz, Verantwortlichkeit, soziale Standards und Wahlen sind Dinge, die weder die Terroristen interessieren, noch die USA – wohl aber uns als Linke.

Die wichtigste Voraussetzung ist, den Terrorismus zu bekämpfen. Es braucht mehr geordnete staatliche Strukturen, einen Prozess nationaler Versöhnung und einen Dialog zwischen Regierung und Opposition. Je weniger Einfluss NATO und Golfstaaten darauf nehmen können, umso besser. Die Syrer – nicht die USA und nicht die Golfstaaten – sollen darüber entscheiden, wer sie vertritt.

Die USA hatten den Krieg gegen Syrien zu einer Zeit eröffnet, den sie nicht geschickter hätten wählen können. Damals vernebelten noch die Erinnerungen an die Tränengasschwaden des Tahrir die Sicht auf die Realität eines komplizierten Landes, auf die Ursachen der Konflikte und auf die Politik der syrischen Regierung.

Wir brauchen heute mehr denn je einen kritischen Blick, der Syrien, seine Regierung und seinen Präsidenten nicht durch den Zerrspiegel der medialen Kriegsführung sieht.

Der Frühling der Petrodollars 2011

Der Arabische Frühling: Woche um Woche wurde vom Ausland ein „Freitag des Zorns“, ein „Freitag der Aktion“ ausgerufen, doch in Syrien blieb es ruhig. Bis zu dem Tag im März 2011, als in Daraa im Süden des Landes Proteste ausbrachen. Es ging um Religion ebenso wie um Wasserrechte nach einer anhaltenden Dürre. Die Proteste weiteten sich über Syrien aus. Es gab friedliche Demonstrationen für politische Veränderungen, religiös motivierte Proteste, bewaffnete Dschihadisten. Ganz zu Beginn der Proteste berichtete die chinesische Agentur Xinhua, dass in Daraa sieben Polizisten in Auseinandersetzungen mit Protestierenden getötet wurden, dass ein Krankenhaus und ein Fernmeldezentrum angegriffen und andere Gebäude niedergebrannt wurden. „So ziemlich jeder hier im Süden ist bewaffnet“ hieß es in einem Bericht des Nachrichtensenders „Al Jazeera“. Viele Sicherheitskräfte wurden getötet, doch in einer beispiellosen Medienkampagne wurde hierzulande nur von friedlichen Demonstranten gesprochen. Die Verantwortung für buchstäblich jeden gewaltsamen Zwischenfall, jede Schießerei und jeden Toten wurde ausnahmslos der Regierung zugeschoben. Schon bald wurden Graffiti an die Wände geschrieben wie „Christen nach Beirut – Alawiten ins Grab“. Die Golfstaaten unterstützen gemeinsam mit den USA islamistische Fundamentalisten und Salafisten. Damit wurde dafür Sorge getragen, dass die konservativsten Kräfte in den arabischen Gesellschaften gestärkt wurden und nicht etwa der „Arabische Frühling“ zu einem demokratischen Experiment mit unkalkulierbaren Folgen wurde.

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"Der große Krieg gegen Syrien", UZ vom 26. August 2016



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