Nora Bossong tut in „Die Geschmeidigen“ nicht nur Gramsci stumpfe Gewalt an

Der Rückzug vom Rückzug

„Geschmeidig“ ist vieles gleichzeitig: „biegsam, schmiegsam und glatt; weich und dabei voll Spannkraft“. So definiert es der Duden in lyrisierter Prosa, man braucht nicht viel, um daraus einen Alexandriner mit weiblicher Kadenz zu machen.
Die 40-jährige Schriftstellerin Nora Bossong macht dagegen Essay und kein Gedicht, substantiviert „geschmeidig“ und wählt es als Oberbegriff ihrer Generation, die der um 1980 in BRD und DDR Geborenen. „Der neue Ernst des Lebens“, wie es im Untertitel heißt, ist eingetreten und ihre Generation hat jetzt anzupacken.

Wen sie dafür getroffen hat und zu Wort kommen lässt, das sind die, die immer zu Wort kommen: Politikerinnen und Politiker wie Christian Lindner, Lars Klingbeil und Katja Kipping, Autoren wie Kevin Kühnerts schöngeistiges Stuntdouble Daniel Kehlmann und „Klassismus“-Fantasiewortschöpfer Christian Baron („Klassismus“), dazu noch einige Oberstleutnants und Thinktanker.

Bossong legt Staatstragendes vor, in einer Plätte, die fragen lässt, was daran geschmeidig sein soll. Etwa zur EU, da quetscht sie den CDU-Bundestagsabgeordneten Paul Ziemiak aus und paraphrasiert ihn: „Wenn es (…) gelänge, das Projekt mit neuer Kraft zu beleben, könne Deutschland oder Europa ein prosperierender Anziehungspunkt sein, gelebte Freiheit, die mit klaren Regeln flankiert sei, wie etwa einem fairen Arbeitsschutz, mit dem es die USA nicht aufnehmen können, und einem Rechtssystem, das eines der besten der Welt sei.“ Das schlechte Deutsch aus Werbepapiermüll der vergangenen Bundestagswahlen macht viel der Strecke in Bossongs Lang-Essay, ob O-Ton oder Eigenwort. „Deutschland oder Europa“ – es zeigt so sehr Fast-Denken in Widersprüchen auf wie Bossong fast Ansätze der Kenntnis von Antonio Gramscis Werk zeigt, auf den sie sich immer wieder beruft, den neuen Faschisten vorwirft, sich an ihm zu bedienen, und sich dabei selbst durch die Arbeit des italienischen Kommunisten wie durch einen Steinbruch hämmert und mal hier etwas von der Hegemonietheorie in notwendig Falsches zerkloppt und mal begriffsstutzig dort etwas vom Konzept der passiven Revolution affirmiert, was nicht affirmiert gehört, will man noch so etwas wie fortschrittlich sein.

Nicht nur der gestolperten Sprache nach („Nicht einmal die Wolke von Tschernobyl war vom Eisernen Vorhang aufgehalten worden“) sollte das Buch rasch geschrieben und brandheiß auf den Markt. Schließlich wurde die Corona-Pandemie abgefrühstückt und auch der letzte Wahlkampf. Man mag Bossong weit schreien gehört haben, als Russland in die Ukraine einmarschierte, während „Die Geschmeidige“ dabei steckengeblieben war, den Truppenabzug aus Afghanistan (statt des Kriegs selbst) als Humankatastrophe abzuisolieren, indem „ein ganzes Land sehenden Auges fallen gelassen wurde“ und den Rückzug vom Rückzug zu fordern. Schlecht für Bossong, uns egal. Was sie zu Waffenlieferungen an die Ukraine geschrieben hätte, wir hören es in gleichem Wortlaut in der „Tagesschau“.

Das faktisch Falsche, langweilig liberal-ideologische und handwerklich Schludrige mag ja noch als Fingerübung der herrschenden Ideen durchgehen (alles das kulminiert in Bossongs Neuordnung der Geografie der Erde: „Bald nach der Wende zog ich mit meinem Vater so weit von Kuba und der Sowjetunion weg, wie es nur möglich war, nämlich in das Herz des alten hanseatischen Kapitalismus, in einen der reichen Hamburger Elbvororte“). Tatsächlich Generationen widerspiegelnd ist dabei aber Bossongs bis zur Erschöpfung performte Ambivalenz: es gibt keine Gedanken mehr, nur noch Perspektiven und Denkansätze; es gibt keine Haltung mehr, Haltungen erweisen sich ja gern als falsche, und dann ist das auf sich selbst zurückgeworfene Individuum ja an sich falsch. Man kann keinen Diskussionsbeitrag mehr liefern, ohne den mit „Ich glaube, dass“ einzuleiten und ihn sattsam mit Relativierungen („vielleicht“, „gewissermaßen“, und so weiter) schusssicher gegen eine möglicherweise vernichtende Kritik zu machen. Die Kehrseite davon ist, dass der Pluralismus mit all seinen Schrecken ausgelebt werden kann: Wenn alles relativ ist, kann man auch sagen, was man will. Ideologe, wer etwas anderes meint. Wenn Bossong einwirft, dass doch im Zuge des Brexit diskutiert wurde, die bürgerliche Demokratie Britanniens zu schleifen und die Wahlberechtigten in der ganzen EU abstimmen zu lassen, was das Inselvolk zu tun habe, dann wirft sie hinterher, es sei ja nur eine Idee gewesen, der „auf den ersten Blick durchaus etwas abzugewinnen“ sei. Ich habe es ja nicht so gemeint, sagt die, die es genauso meint, aber nicht zugeben mag. Eine rhetorische Figur, die sich uniformiert in Reih und Glied stellt in „Die Geschmeidigen“ und die eigentlichen Züge der Charakterclownsmasken von Nora Bossongs Generation durchexerziert. Was an Leben wie diesen soll denn bitte ernst sein?


Nora Bossong
Die Geschmeidigen
Ullstein, Berlin 2022, 240 Seiten, 19,99 Euro


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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Der Rückzug vom Rückzug", UZ vom 20. Mai 2022



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