Terroristen rekrutierten Arbeits- und Perspektivlose - Waffen und Geld aus den USA, den Golfstaaten und der Türkei

Der syrische Krieg ist kein Bürgerkrieg

Von Manfred Ziegler

Nach der Befreiung Aleppos belebte die Außenpolitik der russischen Föderation mit der Konferenz in Astana den politischen Prozess. Den Schwerpunkt bildeten Verhandlungen um einen Waffenstillstand. Der syrische Präsident sprach davon, auch „terroristische Gruppen“ (außer IS und al-Nusra) sollten die Möglichkeit haben, an einem Prozess der Versöhnung teilzuhaben. Wir wollen hier der Frage nachgehen, woher die terroristischen Gruppen kommen und wer sie womöglich auch vor Ort unterstützt. Im eigentlichen Sinne ist das die Frage: Krieg, Bürgerkrieg – oder was?

Terrorismus oder Panarabischer Bürgerkrieg

Wenn wir eine Karte der arabischen Länder betrachten, sehen wir, dass in vielen Gebieten gekämpft wird. Das Phänomen des „Terrorismus“ tritt von Tunesien bis zum Irak und vom Sinai bis in den Jemen auf. Sind das isolierte Söldner, die von außen finanziert werden und Gebiete als „Besatzungsmacht“ beherrschen? Oder sind es – um einmal diesen alten Spruch zu bemühen – Revolutionäre, die „sich in den Volksmassen bewegen, wie ein Fisch im Wasser“? Tatsächlich gibt es in den arabischen Ländern Gebiete, in denen Dschihadisten – bis hin zu IS und al-Nusra – Sympathien und Unterstützung entgegengebracht werden.

10 000 bis 20 000 bewaffnete Terroristen wollten oder haben Tunesien Richtung Syrien und Irak verlassen. Das sind Tausende Kämpfer, die in Tunesien eingebettet sind in ein Netzwerk von Unterstützern, salafistischen Predigern und religiösen Gemeinden.

Im Irak war der schnelle Vormarsch von IS in der Provinz Anbar im Jahre 2014 nur möglich, weil es eine Aufstandsbewegung gegen die Zentralregierung gab und die Bevölkerung Sympathien für den IS hatte. Die Washington Post schrieb damals zu Recht: „Vertreter des früheren Regimes haben – genauso wie (sunnitische) Extremisten – die Sympathien gewöhnlicher Sunniten gewonnen, die sich ausgegrenzt fühlen.“ Und in Syrien ist es Kämpfern von IS und al-Nusra immer wieder gelungen, lokal agierende bewaffnete Gruppen auf ihre Seite zu ziehen. Damit gibt es ein Kontinuum von lokalen bewaffneten Gruppen bis hin zu IS, al-Nusra und anderen dschihadistischen Gruppen. Sie finden Anklang bei nennenswerten Teilen der Bevölkerung.

Wir haben nicht nur eine Vielzahl isolierter Söldner, ob aus den arabischen oder aus anderen Ländern, sondern etwas, was darüber hinausgeht, eine gesellschaftliche Schicht von Unterstützern. Wie groß diese ist können wir nicht beantworten – es hängt vom konkreten Gebiet und den jeweiligen Erfahrungen und Entwicklungen ab.

Sozialer Konflikt

Wenn wir nach den Ursachen des Terrorismus bzw. seiner Unterstützung fragen, finden wir in vielen arabischen Ländern ähnliche Probleme, die auch immer wieder benannt werden. Die frühere analphabetische dörfliche Gesellschaft löste sich auf und führt hin zu einer (in den Zentren) städtischen, global vernetzten Gesellschaft. Die alten Regeln und Strukturen funktionieren nicht mehr – und eine neue Ordnung hat sich noch nicht etabliert. Diese Auflösung wurde massiv verstärkt durch die US-Kriege und die damit einhergehende Zerstörung der staatlichen Strukturen. Das Vakuum wird gefüllt mit saudischem Geld und wahhabitischer Ideologie.

Korruption und immenser Reichtum auf der einen Seite, stehen Armut, Arbeitslosigkeit trotz guter Ausbildung und Perspektivlosigkeit gegenüber. Es gibt (gefühlte) Globalisierungsgewinner und (gefühlte) Globalisierungsverlierer. Gut ausgebildete junge Leute finden häufig keinen passablen Job – bis in die Mitte der 30er Jahre ihres Lebensalters – mit Folgen für Familiengründung und Sexualität. Ein großes Problem in einer konservativen arabischen Gesellschaft.

Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit und der gesellschaftliche Wandel schaffen ein Reservoir, aus dem Terroristen schöpfen können. Das heißt: Von Land zu Land in unterschiedlichem Maße sind die Konflikte in den arabischen Ländern ein sozialer Konflikt.

Zerrbild

Dschihadistische Organisationen, vor allem IS, bieten nicht nur Kleidung, Geld und Waffen, sondern auch eine Ideologie: Die Vorstellung eines „reinen“ Staates nach den „wirklichen“ Regeln des Koran – und ohne Vetternwirtschaft, Ungerechtigkeit und Korruption.

„Der Islamische Staat ist ein System, das fair und gerecht ist … Es ist Aktion, nicht Theorie…“ zitiert die New York Times einen jungen Tunesier und fügt hinzu, dass Dutzende junge Leute, die interviewt wurden, IS unterstützen. Sie hoffen damit auf einen höheren Lebensstandard oder auf die Verwirklichung von Prophezeiungen des Koran. Armut und Korruption sind reale Probleme, auf die die Terroristen scheinbar Antworten geben. „In seinen Medien stellt sich ISIS nicht als Rebellenarmee dar, sondern als soziale Bewegung mit einem bewaffneten Arm, eine Art ‚Befreiungsbewegung…‘, wie die „Informationsstelle Militarisierung“ es beschrieb.

Auch wenn die Vorstellung eines besseren Staates ohne Korruption ein Zerrbild ist und reaktionärste Inhalte transportiert: Hinter den jungen Leuten, die ein reales Einkommen und eine bessere Zukunft erhoffen, stehen die staatlichen und privaten Sponsoren, die ihre eigenen Interessen verfolgen und es schaffen, jede fortschrittliche Lösung der gesellschaftlichen und sozialen Probleme zu verhindern.

Milliarden Dollar für den Krieg

Syrien ist ein Flickenteppich von Religionen und Volksgruppen, modernen Städten und mittelalterlichen Dörfern. Vor dem Krieg war Syrien ein stabiles Land, immer wieder Zufluchtsort für Flüchtlinge aus der Region. Vor einigen Jahren fanden Millionen Iraker Zuflucht in Syrien.

Wenn man heute vom Bürgerkrieg in Syrien spricht, wird der Konflikt auf die religiöse Ebene reduziert. Die gesellschaftliche Struktur Syriens ist aber sehr viel komplizierter. Viele Einflussfaktoren bestimmen Nähe oder Ferne zur Regierung, eindimensionale Zuordnungen können hier nur scheitern. Bis 2011 galt in Syrien der Begriff von der „Nationalen Einheit“. Unterschiedliche Interessen und Konflikte blieben einer öffentlichen Auseinandersetzung verborgen und wurden – wenn überhaupt – unter der Hand geregelt. Dabei ging es zum Teil um ganz alltägliche Konflikte, z. B. um Wasserversorgung oder auch um Weiderechte.

Dann zeigte sich, dass unter der Decke der „Nationalen Einheit“ eine Reihe von Bruchpunkten bestanden – die auch offen aufbrachen. Es gab unterschiedliche Machtzentren und geteilte Loyalitäten. Konflikte zwischen relativ modernen Städten und zum Teil „mittelalterlichen“ Dörfern. Die Schatten der Vergangenheit lasteten auf dem Land. Der syrische Präsident sprach im Sommer 2011 von immer noch ungelösten Problemen, die auf die Konfrontation mit den Moslembrüdern zurückgingen. Dazu kamen eine neoliberale Wirtschaftspolitik und Korruption. Und die jetzige Sprecherin des syrischen Parlaments sprach davon, dass das „Problem der Korruption genauso gefährlich wie der Terrorismus“ sei.

Haben all diese Brüche und potentiellen Konflikte zu einem syrischen Bürgerkrieg geführt? Abermilliarden Dollar, die vom Ausland in diesen Krieg investiert wurden, sprechen eine klare Sprache. Ohne die Waffen und das Geld der USA, der Golfstaaten und der Türkei gäbe es diesen Krieg nicht. Die Millionen Flüchtlinge jeglicher Herkunft oder Religion, die alle miteinander in Damaskus und anderen sicheren Gebieten Schutz suchen, zeigen, dass es kein Bürgerkrieg ist. Und die Fälle, in denen christliche oder schiitische Dörfer von sunnitischen Dorfbewohnern belagert und bedroht werden, zeigen eben doch auch die Tiefe der inneren Konflikte.

Regime Change

Die USA hätten – um das Ziel „Regime Change“ zu erreichen – Syrien in die Steinzeit bomben können. Stattdessen gibt es die spezifische Form, in der dieser Krieg stattfindet: Terroristen und Söldner, die das Land verwüsten und dabei noch von lokalen Kräften unterstützt werden. Diese Art des Krieges bietet den USA Vorteile: Es werden nur wenige eigene Soldaten eingesetzt und die üblichen Kriegsgegner rufen noch „Hosianna“. Die spezifische Form, wie dieser Krieg in Gang gebracht und aufrechterhalten wurde – und die ihn als Bürgerkrieg erscheinen lässt –, war nur möglich wegen der inneren Konflikte Syriens. Der Imperialismus hat es geschafft, die inneren Konflikte speziell Syriens auszunutzen, um diesen Krieg zu entfachen.

Insofern muss ein Lösungsansatz beide Aspekte angehen – Kampf gegen den Terrorismus, der den Krieg der regionalen und globalen Mächte gegen Syrien repräsentiert und Dialog und nationale Versöhnung, um die inneren Konflikte zu lösen.

Nationale Versöhnung

Seit 2012 haben Oppositionsgruppen (Qadri Jamil und Ali Haidar) Verhandlungen zwischen bewaffneten Gruppen und staatlichen Institutionen organisiert. Diese „Versöhnungsinitiativen“ wurden später vom Staat übernommen, Ali Haidar wurde Minister für Nationale Versöhnung. Heute wird die „Nationale Versöhnung“ stark von russischer Seite unterstützt – als Garantiemacht sozusagen. Mehr als 1 000 Dörfer und Städte haben diesen Prozess bereits abgeschlossen, zehntausende Bewaffnete wurden wieder in die Gesellschaft integriert.

Einer der zentralen Punkte dabei ist es, das Schicksal von Verschwundenen, Entführten, Verhafteten zu klären. Wenn es zu einem Abkommen kommt, können die Bewaffneten vor Ort mit einer Amnestie rechnen – wenn sie das wollen; oder sie können in eine andere Region ausreisen. Ziel ist immer, die Institutionen des Staates in diesem Gebiet wieder zu installieren.

Im Ausland werden diese Prozesse nicht wahrgenommen, aber Dialog und Versöhnungsinitiativen von einzelnen Dörfern bis hin zu Verhandlungen zwischen der Regierung und dschihadistischen Organisationen sind bedeutend nicht nur für Syrien, sondern weit darüber hinaus. IS und andere dschihadistische Gruppen bieten das Zerrbild der Idee von einer besseren Gesellschaft. Sie können nachhaltig nur besiegt werden, wenn es eine reale Alternative gibt. Die syrische Regierung ist sich darüber vollkommen im Klaren und versucht seit Beginn des Krieges, die Unterstützung der Bevölkerung zu erhalten und auszuweiten. Und sie versucht, die Hardliner, die eigentlichen Söldner des Auslands, von denen zu isolieren, die aufgrund von lokalen Konflikten mit ihnen sympathisieren. Sie bietet Amnestie und Versöhnung an.

Der syrische Staat konnte nur bestehen, weil Armee und Verbündete den Terrorismus bekämpfen – und die Regierung zugleich an Dialog und Versöhnungsinitiativen arbeitet. Und am Ende gilt, wie der syrische Präsident in einem Interview erklärte: „Alle müssen einander verzeihen“.

Stoppt den Krieg gegen Syrien

Das wichtigste Ergebnis nach fast sechs Jahren Krieg ist: Syrien ist nicht zerbrochen, die großen Bevölkerungszentren sind mehr oder weniger stabil. Die gemeinsame Front der Feinde Syriens dagegen ist geschwächt. In Ägypten wurden die Moslembrüder von der Regierung vertrieben, der Irak stellt seinen Luftraum für russische Flugzeuge zur Verfügung und selbst die türkische Regierung scheint vorerst bereit, ihre osmanischen Träume zugunsten einer Zusammenarbeit mit Russland aufzugeben. Die große Unbekannte bleibt die künftige Politik der USA.

Besonders wichtig für die Perspektiven Syriens ist die Frage des Status der kurdischen Gebiete. Verhandlungen zwischen Vertretern der syrischen Kurden und der YPG mit der syrischen Regierung scheinen positiv zu verlaufen, wie der Außenminister der Russischen Föderation in einem Interview erklärte. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für den Erhalt Syriens als einheitlichen Staat.

Als Linke dürfen wir uns nicht hinter dem Mythos des „Diktators“ verstecken, um untätig den Krieg gegen Syrien zu betrachten. Die Militarisierung der sozialen und politischen Konflikte wurde mit Waffenlieferungen der NATO- und Golfstaaten, mit medialer, finanzieller und logistischer Unterstützung betrieben. Die Kontaktsperre gegenüber der syrischen Regierung, die von Medien und Politik verhängt wurde, als es hieß: „Assad stürzt nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr…“ wirkt nach.

Leider ist es so, dass linke Politik zum Thema Syrien lange Zeit mehr den echten oder imaginären Problemen der syrischen Gesellschaft galt, als den Waffenlieferungen und Militäreinsätzen der NATO. Es ist Zeit, aus der Wohlfühlzone herauszukommen und zu verlangen: Stoppt die Nato. Stoppt die Sanktionen. Und ja: die syrische Regierung, der syrische Präsident werden im Zentrum jedes politischen Übergangsprozesses stehen.

Die Syrer werden ihre Gesellschaft selbst verändern.

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"Der syrische Krieg ist kein Bürgerkrieg", UZ vom 17. Februar 2017



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