Der Philosoph Jürgen Habermas wird am 18. Juni 90 Jahre alt

Dialektik der Vernebelung

Von Arnold Schölzel

Am 9. August 1990 sprach die Grünen-Politikerin und ehemalige Pastorin Antje Vollmer im Bonner Bundestag die sogenannten 68er und die Bundesrepublik heilig: „Die europäische Welt hat keine Angst mehr vor den Deutschen, weil wir 1968 aufgebrochen sind, weil wir das Law-and-Order-Denken herausgeblasen haben aus diesem Land, weil wir, eine andere Generation, diese deutsche Gesellschaft gründlich zivilisiert haben.“ Dem Satz folgte Übles. Wenig später durchlief eine Pogromwelle gegen Migranten das Land, das Grundrecht auf Asyl wurde abgeschafft und Frau Vollmers Partei war gemeinsam mit der SPD vorneweg dabei, „humanitäre Interventionen“ anzuzetteln, das heißt Angriffskriege. Das beschönigende Urteil der Theologin über die Geschichte des westdeutschen Staates wird von der „Weltmacht Habermas“, so titelte „Die Zeit“ zu dessen 80. Geburtstag, geteilt. Nach ihm hat die Bundesrepublik seit 1968 eine „Fundamentalliberalisierung“ durchlaufen.

Es zeigte sich, dass diese Gewissheit der beiden Zivilisationskundler eine gute Voraussetzung war, den Export von Demokratie und Rechtsstaat mit militärischen Mitteln zu rechtfertigen. Folgerichtig klatschte Habermas 1999 Beifall, als Gerhard Schröder und Joseph Fischer ihre Luftwaffe Belgrad bombardieren ließen. Von ihm ist unter anderem der Satz überliefert: „Tatsächlich haben die ‚chirurgische Präzision‘ und die programmatische Schonung der Zivilisten einen hohen legitimatorischen Stellenwert.“ Der Publizist Otto Köhler kommentierte das 2011 in der „jungen Welt“ mit den Worten: „Die totgebombten Kinder von Varvarin sollten sich über dieses Habermas-Programm freuen.“

Die theoretischen Arbeiten von Habermas zeichnen sich dadurch aus, dass sie stets Ausbeutung, Unterdrückung, vor allem aber Krieg und Staatsterrorismus als notwendige Existenzbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft ausblenden: In seinen Texten entfaltet sich ein Paradies von Liberalismus, Moral, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft. Bei seinen politischen Äußerungen allerdings sieht es regelmäßig anders aus. Er gehörte zwar Anfang der 1960er Jahre zum Beispiel zu den Unterstützern der Ostermärsche, warnte aber bereits 1967 Rudi Dutschke vor der Gefahr eines „linken Faschismus“. In den vergangenen Jahrzehnten findet sich seine Unterschrift vorwiegend unter Aufrufen für ein „Kern-Europa“, für mehr „Zentralisierung“ in der EU, also für mehr imperialistisches Diktat. Sein Plädoyer für Krieg war 1999 kein Zufall.

Es handelt sich nicht um zufällige Unstimmigkeiten oder Widersprüche. Nach den Worten von Hans Heinz Holz ist Habermas geradezu das Muster dieser aus der „Frankfurter Schule“ kommenden Inkonsistenz. Habermas habe „alle paar Jahre seine philosophischen Auffassungen der jeweiligen Mode angepasst, und immer mit bescheidener Sekundärargumentation“, und „anbiedernd“ jede philosophische Bewegung, die aus den USA gekommen sei, mitgemacht. Holz weiter: „Das ist nie originell, aber er hat es immer irgendwo her, er sagt es gut, und er sagt es vor allem im deutschen Raum immer zum ersten Mal, weil er das Ohr am Boden hat.“

Modebewusst

Habermas war über Jahrzehnte so etwas wie das Trüffelschwein des philosophisch-soziologischen und damit auch politischen Trends des Linksliberalismus, das heißt im Zweifel für die demokratische Demagogie. Für die 1960er Jahre steht dafür seine Habilitation bei Wolfgang Abendroth, die unter dem Titel „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ erschien. Es handelt sich um eine heute noch lesenswerte Studie über die Entwicklung bürgerlich-liberaler Öffentlichkeit seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert hin zur Dominanz der heutigen, von Medienmonopolen fabrizierten „veröffentlichten Meinung“. Das Werk machte wie auch spätere Texte von Habermas Anleihen beim Marxismus, eine Analyse der Produktions- und Machtverhältnisse, unter denen sich jeweils Öffentlichkeit herstellt, unterblieb aber.

Das war kein Zufall, sondern wurde richtungweisend für spätere Arbeiten. Robert Steigerwald hat darauf hingewiesen, Basis des Aufklärungsbegriffs von Habermas sei die „Vorstellung eines im frühen Kapitalismus unverzerrten Marktes, mit freier Konkurrenz und Äquivalentenaustausch.“ Dies sei sowohl die „Grundlage für die ideologische Legitimation eines auf der Grundlage solcher Illusion frei von staatlicher Repression fungierenden Kapitalismus als auch das Urbild der späteren Vorstellung von Habermas, welcher zufolge der herrschaftsfreie Diskurs der Gesellschaftsglieder gegen die repressiven Institutionen zu wirken bestimmt sei.“ An die Stelle des „Anti-Systems“ seines Lehrers Theodor W. Adorno trete bei ihm „die Anti-Institution einer von der materiellen Basis abgetrennten, antiinstitutionellen, herrschaftsfreien, psychoanalytischen und hermeneutischen Diskussion.“ Steigerwalds Zusammenfassung lautete: „Die bürgerliche Gesellschaftstheorie begann mit dem Anspruch der Aufklärung und endet mit dem Versuch der Vernebelung.“

Diskurs statt Klassenkampf

Methodisch bewerkstelligte Habermas, der zusammen mit Carl-Friedrich von Weizsäcker vom damaligen Bundeskanzler Willy Brandt 1970 das bis 1984 existierende Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg faktisch geschenkt bekam, das durch scholastische Aufspaltung und Verzerrung philosophischer, nicht zuletzt marxistischer Begriffe. Technikentwicklung betrachtete er unabhängig von gesellschaftlicher Praxis. Das führte zu der These, nicht die Arbeiterklasse, sondern die Intelligenz sei die gesellschaftsverändernde soziale Schicht. Er unterstellte Marx, der habe nicht ausreichend zwischen Arbeit und „Interaktion“, also Sprache, Gesten und Symbolik, unterschieden und gründe einseitig Gesellschaft auf erstere. Spätestens ab den 1970er Jahren führt er dies weiter zu der These, Interaktion spiele gegenüber produktiver Arbeit, gegenüber dem „ausgelaugten Produktionsparadigma“, die entscheidende Rolle im gesellschaftlichen Prozess, insbesondere durch Recht und Moral. Die grobe Verfälschung lautet: Marx habe einen gesellschaftslosen Menschen der „Natur“ gegenübergestellt. An die Stelle des Klassenkampfes tritt folgerichtig der von Habermas im Land des KPD-Verbots und der Berufsverbote proklamierte „herrschaftsfreie Diskurs“. Krisen des Kapitalismus schrumpfen bei ihm zu „Legitimationskrisen“.

Der „herrschaftsfreie Diskurs“ stand allerdings in einem derart grotesken Missverhältnis zum Völkermord in Vietnam, dem CIA-Putsch in Chile oder der NATO-Suche nach einem führbaren Atomkrieg gegen die Sowjetunion, dass schlichte Fortsetzung unmöglich wurde. Habermas verlegte in den 1980er Jahren, sozusagen im Schatten der Stationierung von US-Kurzstreckenraketen, seine Begriffsarbeit endgültig in den Elfenbeinturm und schloss sich der in den englischsprachigen Ländern hegemonialen analytischen Philosophie an. Mit seinem Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) erreicht dies Abschluss und Höhepunkt. Seine Unterscheidung von „systemischer“ Sphäre der Gesellschaft, die von „strategischem Handeln“ in Arbeit oder Politik bestimmt ist, „Lebenswelt“, die von zweckfrei „kommunikativem Handeln“ etwa in Familien getragen wird, machte eine gewisse Furore. Erneut erklärte er die Klassenauseinandersetzung für überholt, wichtiger sei der Kampf gegen die „innere Kolonialisierung der Lebenswelt“, das „Einschnüren“ der herrschaftsfreien Lebenswelt durch Industrie und Staat.

Hörte sich gut an, beschrieb treffend einige charakteristische Erscheinungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus – nur, mit Kapitalherrschaft sollte das alles nichts zu tun haben. Erich Hahn hatte vorwegnehmend geschrieben, Habermas sehe zwar das hohe Entwicklungsniveau der Technik, die wachsende Macht des Staates und der Manipulation, die Durchsetzung des geistigen Lebens mit Brutalität, Existenzangst et cetera: „Was er nicht vermag, ist, dies als Existenzbedingung einer überlebten Klassenherrschaft wahrzuhaben. (…) Er erkennt den staatsmonopolistischen Kapitalismus nicht als klassenbedingte Reaktion auf die mit der wissenschaftlich-technischen Revolution erreichten neuen Dimensionen der Vergesellschaftung der Arbeit.“ Die Diskrepanz der Habermasschen Begriffswelt zur gesellschaftlichen Realität war im Vergleich zu den 1970er Jahren eher größer als kleiner geworden.

Begriffsverkehrung

Die Wirkung der „Theorie des kommunikativen Handelns“ blieb auch deswegen begrenzt, weil es sich um einen Aufguss handelte: Der Soziologe Ferdinand Tönnies hatte zur Bekämpfung des Marxismus Ende des 19. Jahrhunderts die reichlich irrationale Unterscheidung von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ erfunden – eine Fortsetzung romantischer Kapitalismuskritik, die von Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche fortgesetzt wurde, mit anderen Mitteln.

Außer im akademischen Betrieb westlicher Staaten hatten Konzepte dieser Art allerdings in der DDR und in anderen osteuropäischen Staaten eine politische Resonanz. Einige DDR-Schriftsteller versuchten bereits seit den 70er Jahren, die deutsche Romantik zu einer Quelle des Marxismus zu machen, wobei bewusst oder unbewusst die Auffassung leitend war, dass die Theorie ebenso wie die Praxis des realen Sozialismus gescheitert sei. Habermas selbst hatte die Verabschiedung des Marxismus und damit eine Handlungsanweisung für Konterrevolution in die Worte gekleidet: „Sowohl das revolutionäre Selbstvertrauen wie die theoretische Selbstgewissheit sind dahin, und das nicht nur, weil sich inzwischen der bürokratische Sozialismus als eine schlimmere Variante dessen entpuppt hat, was man bekämpfen wollte.“

Wichtiger wurde im Kampf gegen den realen Sozialismus allerdings die Formel von der „Zivilgesellschaft“. Sie machte endgültig Furore nach dem Ende der sozialistischen Länder Europas. Das feierte Habermas als „nachholende Revolution“ hin zur Moderne. Die postmoderne Linke sah wie er im damit erreichten angeblichen Durchbruch von Rechtsstaat, Zivilgesellschaft und offenem Diskurs bereits den Kapitalismus aufgehoben.

Aufgegriffen und verdreht wurde mit „Zivilgesellschaft“ dabei ein zen­traler Begriff des italienischen Marxisten Antonio Gramsci. Er hatte darunter die Vermittlung bürgerlicher Herrschaft nach unten, eine das Repressionsregime der Bourgeoisie ergänzende Form der Herrschaft verstanden. Ihr Ausdruck war die kulturelle Hegemonie einer Ideologie. Für Gramsci war die Eroberung der Zivilgesellschaft in diesem Sinn Angelpunkt einer Strategie der antikapitalistischen Umwälzung. Im postmodernen Verständnis wurde sie nun mit einer „liberalen Demokratie“ nach dem Herrschaftsmodell der USA identifiziert. Dessen Besonderheit ist die indirekte Machtausübung, die es möglich macht, wie Werner Pirker 2003 in der „jungen Welt“ formulierte, „die Gesellschaft einer terroristischen Gewaltpolitik nach außen und nach innen unterzuordnen, ohne dass sie das auch wahrnimmt.“ Der Faschismus als die offen terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und expansionistischen Teile der Finanzoligarchie finde, so gesehen, „im Amerikanismus seine sublimierte, zivilgesellschaftliche Fortsetzung“. Um die Gesellschaft zur „Volksgemeinschaft“ zu transformieren, habe der Faschismus noch die Organisationen der Arbeiterbewegung zerschlagen und die bürgerliche Demokratie aufheben müssen. Dessen bedürfe die Herstellung des chauvinistischen Konsenses heute nicht. Pirker: „Dass auch der Widerstand gegen Repression und Krieg im Namen der Zivilgesellschaft erfolgt, bestätigt die Vorherrschaft falschen Bewusstseins.“

Die Vernebelungs-„Weltmacht“ Habermas hat einen bedeutenden Anteil daran, dass die Supermacht diese Begriffsverkehrung zur ideologischen Grundlage ihres Staatsterrorismus machen kann – ohne größeren Protest oder gar Widerstand im eigenen Land und bei Verbündeten. Ein Ende ist nicht absehbar. Dem Entstehen eines „zivilgesellschaftlichen“ EU-Imperialismus als Gegengewicht waren die meisten Äußerungen von Habermas im vergangenen Jahrzehnt gewidmet.

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"Dialektik der Vernebelung", UZ vom 14. Juni 2019



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