Die Befreiung Vietnams • Teil 1 von 4

Die Ära der Revolution

Marius André Käch

Vor 80 Jahren erhob sich Vietnam mit der Augustrevolution aus der kolonialen Unterdrückung. Seither hat die Sozialistische Republik in der Praxis bewiesen, dass Weltmächte bezwungen und neue Produktivkräfte in den Diensten der werktätigen Klassen geschaffen werden können. Diese Serie aus vier Beiträgen nimmt das Jubiläum zum Anlass, die vietnamesische Sicht auf die eigene Geschichte zugänglich zu machen. Grundlage ist dafür die Analyse, Perspektive und Dokumentation der Kommunistischen Partei Vietnams, die die Revolution und den Aufbau des Landes als Einheit von nationaler Befreiung und sozialistischer Entwicklung begreift. Ziel ist es, die letzten acht Jahrzehnte in ihren Etappen verständlich zu machen und aus marxistisch-leninistischer Perspektive einzuordnen.

1945 stand Vietnam am Abgrund: Hungersnot, faschistische Besatzung, Millionen Tote. Unter Führung von Hồ Chí Minh und der Kommunistischen Partei erhob sich das Volk zum allgemeinen Aufstand und begann mit dem Aufbau des ersten Arbeiter- und Bauernstaates in Südostasien.

Ein fast 100-jähriger Kampf um Nationale Unabhängigkeit begann für Vietnam mit der Landung tausender französischer Soldaten in der Hafenstadt Đà Nẵng im August 1858. Mit sich brachten sie den französischen Kolonialismus durch die Gründung von Indochina, mitsamt Ausbeutung und Elend durch das Einführen von Großgrundbesitz und Plünderung von Ressourcen, ausgerichtet auf den wirtschaftlichen Nutzen für Frankreich. In Kombination des hiesigen Asiatischen Modus’ der Produktion, also des kollektiven Anbaus von Nassreiskulturen und dessen Bewässerungssystem sowie der strengen und nicht minder korrupten Kontrolle und Besteuerung der Mandarine der Nguyen-Dynastie, blieb jeglicher wirtschaftlicher Fortschritt verwehrt. In Armut, Stagnation und Ohnmacht kam es über die Jahrzehnte immer wieder zu spontanen Erhebungen und Befreiungsbewegungen. Aber ohne eine gemeinsame Vision und nationale Organisation konnte kein Weg aus dem kolonialen Joch gefunden werden.

Gründung der Kommunistischen Partei

Auf der Suche nach einem Weg, die Nation im Widerstand zu vereinen, begab sich Hồ Chí Minh 1911 mit nur 21 Jahren auf eine Weltreise. Nach wenigen Jahren schloss er sich in Paris Revolutionären an und las Lenins „Thesen zur Nationalen und Kolonialen Frage“. Darin fand er die Lösung für die nationale und soziale Frage Vietnams. Fest entschlossen, mit dem Marxismus-Leninismus das Volk zu vereinen, begründete er die Kommunistische Partei Frankreichs mit. Schon 1923 wurde er zum Studium in die Sowjetunion berufen, wo er sich der Komintern anschloss. In deren Auftrag arbeitete er von 1924 an in Asien daran, den antikolonialen Widerstand für ganz Indochina zu organisieren. Schließlich wurde unter seiner Führung die Kommunistische Partei gegründet, der Grundstein für die kommende Revolution. Von Anfang an wurde nationale Befreiung eng mit der sozialen Frage verbunden: Vertreibung der Kolonialherren, Land für die Bauern, Ende der feudalen Abhängigkeiten. Das alte System wurde frontal herausgefordert. Angesichts der desolaten Lage der Bevölkerung erhielt die Partei trotz Repression Zuspruch im ganzen Land und organisierte sich im Untergrund von den Städten bis in die abgelegensten Bergdörfer.

Augustrevolution

Wie für viele Länder brachte der Zweite Weltkrieg auch für Vietnam Tod und Verderben. Das faschistische Japan besetze das Land 1941 kurzerhand und beutete es für seine Kriegswirtschaft aus. Mit brutaler Repression wurden Unmengen Reis für die Front konfisziert, Ernten von Lebensmittel auf Rohstoffe zwangsumgestellt und jeglicher Widerstand zerschlagen. Das Vorgehen der Faschisten resultierte in einer Hungernot mit über zwei Millionen Opfern. Fast 10 Prozent der Bevölkerung starben in weniger als einem Jahr. Angesichts dieser desolaten Lage erklärte die Kommunistische Partei die Unabhängigkeit als absolute Priorität und gründete 1941 die Việt Minh, die parteiübergreifende und bewaffnete Liga für die Unabhängigkeit Vietnams, bestehend aus allen Teilen der vietnamesischen Gesellschaft. Mit der Kapitulation Japans 1945 wurde im August 1945 der „allgemeine Aufstand“ ausgerufen. Im ganzen Land ergriffen die Việt Minh die Macht, etablierten Volkskomitees und verteilten den Reis aus den japanischen Speichern unter den Hungernden. Innerhalb weniger Tage wurde eine provisorische Regierung eingesetzt, die den Weg zur Freiheit eröffnete.

Unabhängigkeitsdeklaration

Am 2. September 1945 war die Geburtsstunde der Demokratischen Republik Vietnam. Vor einer halben Million Menschen verlas Hồ Chí Minh auf dem Ba-Đình-Platz in Hanoi die Unabhängigkeitserklärung: „Alle Völker auf der Welt sind gleich geschaffen; jedes Volk hat das Recht, frei und unabhängig zu sein.“ Ganz bewusst wurde dabei auf die Unabhängigkeitsdeklaration der USA und der Bürgerrechtsdeklaration Frankreichs verwiesen, um die Legitimität des eigenen Staats auch gegenüber imperialistischen Ländern zu unterstreichen. Zum ersten Mal konnten alle Menschen in Vietnam, ob Männer oder Frauen, mittels Wahlen die Geschicke ihres Landes selbst in die Hand nehmen. Mit großer Mehrheit zogen die Việt Minh ins Parlament ein, und Hồ Chí Minh wurde mit nahezu 100 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Der Aufbau des ersten Arbeiter- und Bauernstaates in Südostasien hatte begonnen.

Drei Fronten

Bereits zu Beginn stand das Projekt, den Sozialismus in Vietnam aufzubauen, vor schier unlösbaren Aufgaben. Mit der Kampagne der „Drei Kämpfe“ versuchte man, der größten Probleme Herr zu werden. Denn noch immer grassierte der Hunger. Solidaritätsfonds wurden eröffnet, Haushalte zu freiwilligen Lebensmittelspenden aufgerufen und Essen angebaut, wo irgend möglich. In Gärten, auf Balkonen, sogar auf Gehwegen und an Straßenrändern. Ziel war es, das niemand jemals wieder hungern müsse. Der zweite Kampf galt dem Analphabetismus. Die vietnamesische Nationalschrift, basierend auf dem lateinischen Alphabet, wurde nun offiziell eingeführt, und mit Bildungskampagnen bis in die abgelegensten Dörfer versuchte man, den Menschen Lesen und Schreiben beizubringen und somit gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Der dritte Kampf galt den Invasoren. Denn kaum hatte sich Vietnam die Unabhängigkeit erkämpft, verlangte Frankreich seine ehemalige Kolonie zurück.

Ein Neuanfang

Nach fast einem Jahrhundert unter kolonialem Joch hatte es das vietamesische Volk unter der Führung von Hồ Chí Minh und der Kommunistischen Partei abgeworfen. Trotz enormer Herausforderungen hatte man es geschafft, einen neuen Weg zu beschreiten, der bis dahin als unmöglich galt. Die Revolution begann in einem armen Land, das noch von halb feudalen, halb kolonialen Strukturen geprägt war. Der lange Weg zum Sozialismus bedeutete daher auch die Überwindung dieser Rückständigkeit. Erst Jahrzehnte später, mit den Reformen von Đổi Mới, wird diese historische Ausgangslage auf eine neue Entwicklungsstufe gehoben. Doch bevor man die Chance hatte, sich um wirtschaftliche Möglichkeiten zu kümmern, stand die französische Fremdenlegion vor den Toren, und mit sich brachte sie 30 Jahre erbittertsten Krieges.

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