Im Dezember 1905 erreichte die russische Revolution, die am 9. Januar (nach heute gültigem Kalender am 22. Januar) 1905 mit dem „Blutsonntag“ in St. Petersburg begonnen hatte, im bewaffneten Aufstand in Moskau ihren Höhe- und Wendepunkt.
Auslöser für die Ereignisse war die Verhaftung von mehr als 250 Deputierten des im Oktober 1905 gebildeten St.-Petersburger Sowjets am 3. Dezember, darunter fast das gesamte Exekutivkomitee und der Vorsitzende Leo Trotzki. Am folgenden Tag beschlossen die 250 Delegierten des Moskauer Sowjets der Arbeiterdeputierten einen Aufruf zum politischen Generalstreik. Einige unter ihnen erklärten: „Dieser Streik wird keine Probe mehr sein. Der Streik muss in den bewaffneten Volksaufstand übergehen.“ Menschewiki und Sozialrevolutionäre sagten zunächst einem isolierten Arbeiteraufstand eine sichere Niederlage voraus, auch die Bolschewiki äußerten Skepsis, stimmten aber schließlich ebenso wie die beiden anderen Fraktionen für die Erhebung. Am 6. Dezember proklamierte der Sowjet den Generalstreik sowie den Kampf für eine Verfassunggebende Versammlung (Konstituante) und für eine demokratische Republik. Das bedeutete bewaffneten Kampf.
Moskau steht still
Der Streik legte Moskau, das große Metall- und Textilwerke beherbergte, lahm und griff auf andere Gebiete über. Der Bahnverkehr brach – mit Ausnahme der Verbindung nach St. Petersburg – zusammen. Am 9. Dezember befanden sich mehr als 80.000 Arbeiter im Ausstand.
Die zaristische Staatsmacht zog Militär zusammen und ging zur Offensive über. Es gelang ihr, schwankende Teile der Moskauer Garnison, die Anfang Dezember gemeutert und für einige Tage sogar den ersten Soldatensowjet geschaffen hatte, zu isolieren. Da die Führung des Moskauer Sowjets zudem nicht offensiv auf die Soldaten einwirkte, sondern auf deren spontane Sympathie hoffte, blieben die Truppen zwar für das Regime unzuverlässig, letztlich aber – anders als 1917 – unter reaktionärem Kommando.
Den bewaffneten Kampf begann die zaristische Staatsmacht, nicht der Sowjet, das heißt, der Aufstand begann defensiv, als Antwort auf Verhaftungen und Polizeiangriffe auf Arbeiterversammlungen. Am 10. Dezember begannen Zehntausende Helfer den Bau von an die 1.000 Barrikaden rund um das Stadtzentrum. Die Kampfgruppen griffen aber die Machtzentren nicht an. Sie verfügten über etwa 2.000 bewaffnete Arbeiter, den Kern bildeten Kampfgruppen der Bolschewiki, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, insgesamt etwa 450 Kämpfer. Hinzu kamen rund 4.000 Revolutionäre als Reserven. Der Kampf zog sich neun Tage hin. Maxim Gorki war ein Augenzeuge und schrieb: „Ich bin eben von draußen gekommen. Bei den Sandunow-Bädern, am Nikolaus-Bahnhof, auf dem Smolensker Markt, in Kudrino wird gekämpft. Sie schlagen sich gut … Auf den Straßen werden überall Gendarmen und Polizisten entwaffnet … Die Arbeiter sind einfach großartig!“
Das Zögern zu Beginn hatte jedoch der Reaktion Zeit verschafft. Zu den schon vor den Kämpfen Verhafteten gehörten auch die zwei wichtigsten Mitglieder des Moskauer Stadtkomitees der Bolschewiki, Wirgili Schanzer und Michail Wassiljew-Jushin. Damit war eine einheitliche Führung des Aufstands, die der Stadtsowjet übernehmen sollte, unmöglich geworden. Die Leitung lag bei den Sowjets der Stadtbezirke.
Weiße Rache
Der Aufstand erregte aufgrund seines Umfangs sofort international Aufsehen, denn die Grundfesten der größten Monarchie der Welt schienen erschüttert. Auch die Regierung war der Auffassung, dass es diesmal um die Existenz des Zarenregimes ging, führte starke Truppenverbände mit Artillerie heran und veränderte so das Kräfteverhältnis zugunsten der Konterrevolution. Der Moskauer Aufstand wuchs nicht in einen landesweiten Aufstand hinüber. Die Menschewiki forderten bereits am 14. Dezember, den bewaffneten Kampf einzustellen, das Moskauer Komitee der Bolschewiki und der Sowjet riefen auf, am 19. Dezember die Waffen niederzulegen.
Die Rache des Zaren fiel brutal aus und brachte ihm den Beinamen „Nikolaus der Blutige“ ein. Er hatte am 12. Dezember – einen Tag nach Verkündung des Gesetzes zur Wahl der ersten Duma – Gardetruppen nach Moskau entsandt, die ab dem 15. Dezember tagelang die Straßen der Arbeiterbezirke, insbesondere das „Rote Presnja“, durchkämmten, Fabriken in Brand setzten und Anwohner ermordeten oder verschleppten. Insgesamt, so der Historiker Manfred Hildermeier, „fielen in den Dezemberkämpfen etwa 700 Revolutionäre und Zivilisten, 2.000 wurden verwundet, und über 1.000 Nichtkombattanten mussten in den Krankenhäusern behandelt werden – die allermeisten sicherlich infolge der eisernen Befriedung vom 17./18. Dezember.“ Es sei „ein Akt maßloser Vergeltung“ gewesen.
Funke springt über …
Die barbarischen Aktionen waren offenbar nötig. Denn der Aufstand in Moskau löste auch in anderen Arbeiterstädten Revolten aus. Es kam unter anderem in Rostow, Noworossisk, Charkow, aber auch in den baltischen Provinzen und in Polen zu Streiks und bewaffneten Kämpfen. Doch alle Aktionen blieben regional isoliert, das führende Zentrum fehlte.
Das betraf insbesondere St. Petersburg. Die Hauptstadt war im Januar 1905 Ausgangspunkt der Revolution gewesen und mindestens viermal hatten die Petersburger Arbeiter im Verlauf des Jahres oft wochenlang gestreikt. Hier war der erste Sowjet als Führungsorgan entstanden, hatten die Parteien ihre stärksten Organisationen. Doch hier hatte auch der Zar seine stärksten Regimenter. Als die Arbeiter der Hauptstadt per Beschluss des Sowjets in allen Betrieben den Achtstundentag einführten, antworteten die Unternehmer mit Aussperrung. Als die Staatsmacht Anfang Dezember den Sowjet verhaftete, war die durch Streiks und Aussperrung geschwächte Arbeiterklasse der Stadt nicht mehr in der Lage, ihren Widerstand zu steigern. Damit fiel ein wichtiges Zentrum aus.
… zündet aber nicht
So wurde der Moskauer Aufstand auch zum Wendepunkt der Revolution. Hatten Teile des Bürgertums im Oktober noch mit dem Boykott der Duma sympathisiert und die Fortsetzung des Kampfes um eine Verfassunggebende Versammlung befürwortet, setzte es nun auf einen Kompromiss mit dem Zarismus, auf Reformen im Rahmen der vom Zar angekündigten Duma. Der hatte im Oktober unter dem Druck der Massenstreiks zwar keiner Verfassung, aber der Festschreibung wichtiger Grundrechte zugestimmt. Das Wahlgesetz vom Dezember zeigte allerdings, wie wenig er daran dachte, auch nur eine geringfügige Einschränkung seiner Macht zuzulassen.
Die Wahlen zur Duma begannen am 26. März 1906 und dauerten bis zum 20. April. Gewählt wurden Wahlmänner in getrennten „Kurien“. Auf 2.000 Großgrundbesitzer entfiel ein Wahlmann. Stadtbürger benötigten 9.000, Bauern 30.000 und Arbeiter 90.000 Stimmen, um jeweils einen Wahlmann zu bestimmen. Das gegenüber den Arbeitern dreifache Stimmrecht der Bauern zielte darauf ab, deren Zarengläubigkeit zu nutzen. Das erwies sich allerdings schon in der ersten Duma als Fehlkalkulation: Als die Bauern eine eigene Fraktion bildeten und ihre Forderungen gegen den Großgrundbesitz einbrachten, wurde das Parlament am 8. Juli aufgelöst.
Angesichts der trotz massiven Terrors anhaltenden Volksbewegung hatten die Bolschewiki auf eine neue Zuspitzung gehofft und riefen wie Menschewiki und Sozialrevolutionäre zum Wahlboykott auf. Doch der Höhepunkt der Revolution war überschritten, auch wenn ihre Ausläufer noch zwei Jahre lang die Entwicklung Russlands beeinflussten.
Nachrevolutionäre Depression
Die sozialdemokratischen Abgeordneten der zweiten Duma, die von Februar 1907 bis Juni 1907 tagte, stellten zwar die Mehrheit, wurden aber kurzerhand verhaftet und verbannt, die Duma erneut aufgelöst. Das folgende Wahlgesetz sicherte den Vertretern der Gutsbesitzer und den vermögenden Bürgern automatisch eine Dreiviertelmehrheit im Parlament. Das war ein Ausdruck des tiefen Niedergangs der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften. Diese zählten 1907 noch fast 250.000 Mitglieder, 1909 weniger als 14.000. Erst 1912 begann ein neuer Aufschwung der Streikbewegung.
In den Jahren bis dahin entwickelte sich der russische Imperialismus rasch. In fast allen Industriezweigen herrschten Monopole, zwölf Großbanken vereinten 80 Prozent aller Mittel der Bankgesellschaften auf sich, der Zustrom ausländischen Kapitals war stark. 1914 gehörten etwa ein Drittel des Grundkapitals der Aktiengesellschaften in der Industrie und mehr als 40 Prozent des Grundkapitals der großen russischen Banken der westeuropäischen Bourgeoisie. Parallelen zur Abhängigkeit Russlands von EU- und US-Kapital nach dem Ende der Sowjetunion in den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts sind nicht zufällig.
Die Agrarreformen des Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin leiteten zugleich den Übergang zu kapitalistischen Formen der Gutswirtschaft ein und ermöglichten einem kleinen Teil der wohlhabendsten Bauern, aus der traditionellen Dorfgemeinde auszuscheiden und privaten Bodenbesitz zu erwerben. Der Zarismus hoffte, sich mit diesen Kulaken eine systemfreundliche Basis auf dem Land zu schaffen. Die Revolution und die Angst vor ihrer Wiederholung bewirkten so enorme soziale Veränderungen.
Generalprobe
Auch unter Arbeitern und Bauern blieb die Erinnerung an die Revolution von 1905 bis 1907 wach: Der Sturz des Zarismus und die Beseitigung der halbfeudalen Ordnung waren greifbar geworden. Lenin fasste diese Massenerfahrung 1919 so zusammen: „Ohne eine solche ‚Generalprobe‘ wie im Jahre 1905 wären im Jahre 1917 sowohl die bürgerliche Februarrevolution als auch die proletarische Oktoberrevolution unmöglich gewesen.“
Diese „Generalprobe“ war die erste Volksrevolution im entstehenden Imperialismus. Rosa Luxemburg, die im Dezember 1905 ins russisch besetzte Warschau eilte und sich nach einigen Wochen Haft bis September 1906 in Russland aufhielt, wo sie sich mit Lenin traf, berichtete, „dass jene Monate, die ich in Russland zubrachte, die glücklichsten meines Lebens sind. Bei uns ist die Revolution eine ganz andere Erscheinung als es die Märzrevolution in Deutschland und die Große Französische Revolution waren. Wohl kämpft man in Russland um dieselben bürgerlichen Freiheiten, (…) aber heute steht bei uns nicht das aufstrebende Bürgertum an der Spitze der Bewegung, sondern es ist das Proletariat, welches die führende Rolle im Kampf übernommen hat.“
Strahlkraft
Unter diesen Vorzeichen hatte die Revolution eine enorme Ausstrahlung auf die internationale Arbeiterbewegung und die antikolonialen Befreiungsbewegungen. Die chinesische Revolution begann 1906 und führte 1911 unter Sun Yat-sen zum Erfolg, 1905 wurde Persien von einer Revolution erfasst, die erst 1911 durch eine gemeinsame Intervention Russlands und Englands zerschlagen wurde. In der Türkei setzte die Bewegung der Jungtürken 1908 in Mazedonien eine Verfassung durch und auch die Revolution in Mexiko von 1910 bis 1917 gehörte zu den Auswirkungen von 1905.
Die russische Revolution hatte zudem gezeigt: Die militärische Niederlage des eigenen Imperialismus – Russland hatte den Krieg von 1904/1905 gegen Japan verloren (übrigens kam der Friedensschluss durch US-Vermittlung zustande) – kann genutzt werden, um das angeschlagene Regime ins Wanken zu bringen. Diese Erfahrung führte auf dem Kongress der II. Internationale in Stuttgart 1907 zu einem Beschluss, der die Haltung der Sozialisten gegen imperialistische Kriege präzisierte. Durch das Auftreten der russischen Delegation mit Lenin, Martow und Rosa Luxemburg – sie gehörte als Vertreterin der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen zur russischen Delegation – wurde die allgemeine Verpflichtung zum Kampf gegen die Kriegsgefahr durch die Bestimmung ergänzt, „die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen“. Lenin und Luxemburg hielten sich daran.









