Dietmar Daths „Skyrmionen oder: A fucking Army“

Die Sprachlosigkeit des Kapitalismus

Manchmal greifen Rezensenten zu seltsamen Mitteln. Lars Weisbrod von der „Zeit“ zum Beispiel beschreibt das schiere Ausmaß unkonventionell mit „auf der Küchenwaage handabgewogene 1,252 Kilo“. Tobias Lehmkuhl fragt sich im „Deutschlandfunk“, wie er „innerhalb von 18 Minuten ein Buch zusammenfassen und bewerten soll, das 1000 Seiten umfasst, eng gesetzt und in kleiner Schrifttype, einen Roman, den vorzulesen mindestens 35 Stunden dauern würde, einen Roman mit Dutzenden, wenn nicht hunderten Figuren, von denen manche mehrere Namen, Identitäten, ja Dimensionen haben“. Florian Schmid rettet sich im „nd“ in ein schlichtes „Wird nicht verraten“. Und ich? Ich schreibe die Rezension zu einem Buch, das ich im Frühjahr erhalten habe, Ende November. Weil ich es gerade erst zu Ende gelesen habe. Und das, obwohl ich erklärtermaßen ein großer Fan des Autors bin (siehe unter anderem UZ vom 3. April 2020).

Rezensenten landauf und landab signalisieren also eins: Überforderung. Vielleicht planen wir auch ein geheimes Treffen, in dem wir auslosen, wer von uns dem Autoren mitteilen muss, dass wir nicht so schnell lesen können wie er schreibt.

Aber während wir alle brav unsere Überlastungsanzeige ausfüllen, sind wir vor allem eins: begeistert. Denn „Skyrmionen oder: A fucking Army“, der bei Erscheinen dieser Rezension nicht mehr ganz brandneue Roman von Dietmar Dath, ist absolut fantastisch.

Eine der ganz wichtigen Feststellungen in diesem Roman steckt erstaunlicherweise in einem untypisch kurzem Satz. Denn Dietmar Dath ist ein bekennender Freund von Schachtelsätzen. Zu Recht! Denn viel Gedanke braucht, um vermittelt zu werden, eben oftmals auch viel Satz. Und Dietmar Dath hat in „Skyrmionen“ verdammt viele Gedanken zu vermitteln.

Der vorhin erwähnte kurze Satz aber lautet. „Was in der Biosphäre die Verödung ist, ist in der Infosphäre die Verblödung.“ Was der Kapitalismus mit den natürlichen Lebensgrundlagen auf diesem Planeten macht, macht er auch mit der Wissenschaft, dem Wissen, unseren Gehirnen, der Sprache. Die verkümmert, um sie für Suchmaschinen fassbarer und dem, was man so übertrieben eine künstliche „Intelligenz“ nennt, das „Lernen“ leichter zu machen. Syntax? Zusammengesetzte Hauptwörter? Schachtelsätze? Alles demnächst (oder schon jetzt) falsch. Die Sprache zerfällt. „Der zertrümmerte Sprachrest soll fungibler werden, für jeden neuen, noch so dummen Zweck verwendbar; genau wie Menschen, die man in die elektronische Einsamkeit von nur noch maschinell vermittelten Sozialsurrogaten treibt.“ Doch auch das ist nur ein Symptom in einer langen Kette des Verfalls, der die Aussichten auf morgen trüb werden lässt. „Der Name für das, was geschieht, den ich vorschlagen will, lautet: Dekadenz.“ Die Dekadenz, mit der sich der Kapitalismus selber auffrisst, aber leider nicht ganz zerstört. Nur, in ihm zu leben ist unerträglich.

Die Sprache im Kapitalismus wird also immer simpler strukturiert, wird unpräziser, weniger zu gebrauchen. Und Renate Hofer hat sich aufgemacht, sie zu retten. Denn Renate baut die schönste Maschine, die je gebaut wurde. Und wehe, jemand kommt auf die Idee, sie mit so etwas Lahmem wie einem Computer zu vergleichen: „Diesen ganzen alten Dreck, Hardware, Software, Notwehr, das will ich hier nicht nochmal hören.“

Renate Hofer wächst als behütetes, aber ignoriertes Kind eines reichen Schweizer Kapitalisten überall auf der Welt auf, viel aber vor allem auf geheimen Serverfarmen, in denen der Vater Daten sammelt. Als Mädchen fällt sie (oder besser gesagt: springt sie) wie Obelix in den sprichwörtlichen Zaubertrank: Ein Abwasserbecken des gigantischen Datenspeichers, in dem sie lebt, angereichert mit allerlei Neurodings, das ihre Wahrnehmung, ihre Auffassungsgabe, ihren Verstand erweitert. Ob sie nur deswegen die Maschine bauen kann oder will? Man weiß es nicht. Als sie das erste Mal von zu Hause wegläuft, lernt sie einen jungen Mann kennen, der ein lebenslanger Freund werden soll. Als sie ihm von ihrem Plan für die Maschine erzählt, erwidert er (man befindet sich gerade in den USA) „But you‘re gonna need … well, basically, you‘re gonna need a fucking army.“ Und Renate nimmt das wörtlich. Sie baut sich keine verdammte Armee auf (später irgendwie schon), sexuelle Erfahrungen sollen ihr den Weg zur Maschine ebnen. Sie braucht keine fucking army, sondern eine fucking army.

Und sie arbeitet unter Zeitdruck, denn ist die Sprache erst mal hin, wird das nichts mehr mit der Maschine.

Renate Hofer ist keine Antiheldin, aber sie ist böse, verfolgt ihre Agenda unerbittlich, geht über Leichen, hat dabei aber einen komischen Moralkodex, der ihr sagt, dass sie sich beim Morden schon ab und an mal selbst die Hände schmutzig machen muss – und ist gleichzeitig voller Reue, Liebeskummer und anderer Normalogefühle. Aber nichts darf sich zwischen sie und die Maschine stellen. Noch nicht mal das eigene Glück.

Grob könnte man sagen, in der ersten Hälfte des Buches baut Renate Hofer die Maschine, in der zweiten leben Wesen darin. Genau: Wesen, nicht nur Menschen. Denn da gibt es noch die Diff, also die dx und dy, entweder Diffpersonen oder Diffpersonae – es ist kompliziert, aber die Menschen sind nicht die einzigen, die auf der Erde und später in der Maschine leben, und „vernetzen“ bekommt eine ganz andere Bedeutung als die langweilige, die mit dem Internet zu tun hat und die noch langweiligere, von der BWLer in hässlichen Anzügen faseln.

Es kommt sogar zu einer epischen Schlacht um die Maschine, fast wie in einer klassischen Science-Fiction-Erzählung, außer dass das Schlachtfeld, also die Maschine, eigene Pläne verfolgt. Über all das schreibt der sowohl von Renate Hofer als auch Cordula Späth engagierte Autor und FAZ-Redakteur Dietmar Dath.

Umgeben ist diese Grundgeschichte von einem Feuerwerk aus Physik, Mathematik, unglaublich viel Sex, Einsichten in und Ansichten über das Feuilleton, Pornografie (klassische und solche in Manga-Form), der Entwicklung des Sozialismus chinesischen Typs (nicht umsonst ist das Buch Zhou Enlai gewidmet), der Frage, was man beim Redigieren darf und was nicht, chinesischen Betrachtungen über den Westen und einigen unfassbar guten Ausflügen zum Thema Produktivkraftentwicklung und warum sie so geil ist. Die eingestreuten Songs und ihre Erschaffer reichen für mehrere Playlisten – und natürlich ist da noch Daths Werk: Da herrscht „Waffenwetter“, man blickt in „salzweiße Augen“, durch die von Krieg und Krise verheerte Welt stapfen die Zombotiker aus „Für immer in Honig“, es gibt Ausflüge zu „Gentzen. Oder betrunken Aufräumen“, über allem thront wie immer Cordula Späth, alles hängt mit allem zusammen und deswegen darf auch ein ganz wunderbarer Artikel Daths über die Produktivkraftentwicklung, geschrieben für diese Zeitung, nicht fehlen.

Und dann ist da noch der verdammte Krieg, der hier droht und in dem Roman Wirklichkeit wurde. Nicht umsonst steht Renates Maschine da, wo früher mal Berlin war.

4911 Skyrmionen Cover 1 - Die Sprachlosigkeit des Kapitalismus - Dietmar Dath, Kapitalismus, Matthes und Seitz - Kultur

Bei all dem beweist Dietmar Dath nicht nur sein Wissen von Physik über Popkultur bis Marxismus-Leninismus, sondern auch, dass er schreiben kann – und zwar nicht nur in einem Stil. Die Sprache passt sich der Szene an, ist beschwingt-beschreibend, wenn der wirkliche Autor Dath den Dath aus dem Roman von einem Bankett erzählen lässt, auf dem Renate Hofer ihre Maschine gegen den Verdacht verteidigt, eine Art Computer zu sein (und der Roman-Dath große Angst hat, sich unter den klugen Leuten zu blamieren, mit denen er am Tisch sitzt), wirkt fast ein bisschen trotzig, wenn Renates Kinderleben auf der Datenspeicherungsanlage beschrieben wird, geradezu unangenehm präzise in der Beschreibung von Folter und von Sexszenen, die die Leser noch lange verfolgen werden (nie wieder werde ich unbefangen durch die Frühstücksflockenabteilung eines Supermarkts spazieren können). Daths Sprache wechselt spielend ins Akkurat-Wissenschaftliche, wenn naturwissenschaftliche Zusammenhänge und Erkenntnisse erklärt werden, so sehr, dass man sich ein größeres Schriftbild herbeisehnt (und zur Belastungsanzeige noch der Wunsch nach einer neuen Lesebrille dazukommt), wird freundschaftlich, wenn ein chinesischer Wissenschaftler einen Brief an Renate Hofer schreibt, und schlägt einen uns nicht unbekannten Ton an, wenn er auf die Grundlagen unserer Weltanschauung und Analysen eingeht. Dabei schachteln die Sätze vor sich hin, wenn sie das müssen (und dass es eine Freude ist) und sind kurz und prägnant, wenn sie das können.

Alles in allem ist „Skyrmionen oder: A fucking Army“ nichts für Feiglinge. Es ist lang, es ist kompliziert, mit Rückenschmerzen, Erkältung, Kater oder ähnlichen Malessen des Lebens kann man Dietmar Dath und seiner Geschichte nicht folgen. Wer die 1.000 Seiten aber niederringt, wird belohnt werden. Mit einer Fülle an Wissen über die Art und Existenz der sehr realen Skyrmionen bis zu den sehr erfundenen Diff, über Sprache, Marxismus-Leninismus, Mathematik, NÖP und Produktivkraftentwicklung. Man verlässt dieses Leseabenteuer mit der erneuten Einsicht, dass es gut ist, die Gegenwart auch aus der Zukunft heraus zu verhandeln, und mit einem deutlich besser trainierten Dialektikmuskel. „Skyrmionen oder: A fucking Army“ eignet sich hervorragend als Weihnachtsgeschenk für Freunde, denen man was Gutes tun, oder Familienmitglieder, die man herausfordern will. Und im Zweifel kann man den Fans der Wiedereinführung der Wehrpflicht in der Verwandtschaft ganz vortrefflich damit auf den Kopf hauen.

Die Zukunft sieht im Moment (zumindest im Westen) düster aus. Der Imperialismus kämpft mit Zähnen und Klauen ums Überleben. Im nächsten Jahr werden US-amerikanische Enthauptungswaffen in unserem Land stationiert, die Jugend soll zum Kanonenfutter herangezogen werden, die Aktien sollen weiter steigen, die Proletarier fallen. Damit das gelingen kann, müssen die Menschen dumm sein. Die Sprache zerfällt nicht nur in unappetitliche, für Google und Co. leicht verdauliche Häppchen, sie verroht. Es wird wieder das Schwert gezückt und wo in der Nachrichtensendung von gestern die EU noch eine Grenze am östlichen Rand hatte, hat sie nun eine Flanke. Der Krieg ist gewollt. Und er kommt schnell. So wie es ist, kann es nicht bleiben. Doch das liegt zum Glück in unserer Hand. „Wenn die Lebenszusammenhänge der Menschen verblöden, liegt’s nicht an den Maschinen, mit denen diese Zusammenhänge produziert und reproduziert werden.“

Wir werden vermutlich keine Maschine bauen, die die Zukunft schöner machen kann. Und auch auf den Mond retten werden wir uns vermutlich nicht. Wie genau wir die Zukunft gestalten werden, mit welchen Mitteln und mit welcher Taktik, ist noch ungewiss. Sicher ist nur: So, wie es ist, bleibt es nicht.

Dietmar Dath
Skyrmionen oder: A fucking Army
Matthes und Seitz, 976 Seiten, 38,– Euro
Erhältlich im UZ-Shop

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"Die Sprachlosigkeit des Kapitalismus", UZ vom 5. Dezember 2025



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