Mesut Bayraktar zur deutschen Beteiligung an Israels Genozid

Die Wahrheit ist erschütternd

Seit einigen Tagen sind in den sozialen Medien Bilder von abgemagerten Kindern und Menschen aus Gaza zu sehen, erschöpfte Körper aus Gerippe und Haut, kurz vor dem Tod. Wenige Zeitungen drucken diese Bilder und schreiben darüber. Sie machen klar, dass in Palästina keine „Hungerkatastrophe“ herrscht, sondern dass Palästina von der israelischen Politik und dem Militär ausgehungert wird – dass Hunger als Kriegswaffe gegen ein Volk eingesetzt wird. Diese Bilder werden in die Geschichte eingehen. Sie sind erschütternd. Die Wahrheit ist erschütternd, aber die Wahrheit ist die Wahrheit. Selbst wenn man sie ignoriert, macht sie etwas mit einem. Das macht die Wahrheit aus. Sie entfesselt in der Geschichte Revolutionen.

Hinter diesen Bildern stecken verantwortliche Personen und Gruppen, und ein ökonomisches System der Menschenvernichtung. Anfang Juli hat die italienische Rechtswissenschaftlerin und UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese einen Bericht zu der Situation der Menschenrechte in den besetzten Gebieten Palästinas vorgelegt. Unter dem Titel „Von der Ökonomie der Besatzung zu der Ökonomie des Genozids“ untersucht sie „die unternehmerische Maschinerie, die das israelische siedlerkoloniale Projekt der Vertreibung und den Austausch der Palästinenser in den besetzten Gebieten aufrechterhält“. Unerschrocken und mit detaillierter Schärfe verbindet Albanese Israels Vertreibung, Besatzung und Völkermord mit dem staatsmonopolistischen Kapitalismus und dem Imperialismus des Westens und zeigt, warum die Börsenwerte in Tel Aviv in den vergangenen 21 Monaten um 213 Prozent an Wert zulegen konnten. Für Berufsintellektuelle im Dienst der deutschen Staatsräson wäre das ein Tabubruch. Man könne über Kriege, könne über humanitäre Krisen, ja, könne vielleicht sogar mal über Apartheid und Kapitalismus sprechen, aber alle Komplexe als inneren Zusammenhang des Kapitalismus zu diskutieren, nein – das sei „antisemitisch“ und müsse mit Zensur beantwortet werden.

Staatsräson hin, Staatsräson her, auch der deutsche Kapitalismus und die Bundesregierung sind verantwortlich für die Bilder von getöteten Kindern in Gaza. Nicht etwa durch Unterlassen, sondern durch direkte Teilnahme und Unterstützung. Das Land mit den meisten von der Besatzung profitierenden Unternehmen sind nämlich laut der unabhängigen israelischen Forschungseinrichtung Who Profits die USA, gefolgt von Deutschland. Aufgeführt sind Unternehmen wie Axel Springer, Siemens, Volkswagen oder Thyssenkrupp. Zur Erinnerung: Die letzten drei stiegen im deutschen Faschismus zwischen 1933 und 1945 zu großen Monopolen auf.

Noch eine Zahl ist wichtig: 66 Prozent der Waffenlieferungen nach Israel kommen aus den USA, 33 Prozent aus der Bundesrepublik Deutschland. Wenn Albanese also die „Ökonomie des Genozids“ in ihrem Bericht durchleuchtet und anprangert, dann bedeutet das, dass die Kapitalistenklasse aus der BRD Komplize des israelischen Genozids ist.

Worte zu finden für den israelischen Völkermord an Palästinensern, der in den sozialen Medien in Echtzeit zu sehen ist, ist unmöglich. Vor den Augen der Welt versucht die israelische Politik und das Militär mit allen Mitteln, systematisch ein Volk auszurotten – und die herrschende Klasse in diesem Land, die sich immer noch an der „Schwarzen Milch der Frühe“ satt säuft, jetzt auf Kosten der Geschlagenen von ihr einst Geschlagener, ist Mittäter. Das ist schwer zu ertragen. Das ist Teil der Wahrheit hinter den Bildern – und manchmal verschlägt das Grauen einem die Sprache, raubt einem jede Hoffnung.

Dennoch, wenn ich protestierende Hafenarbeiter in Europa ihre Stirn gegen die Rüstungsindustrie bieten sehe, wenn ich den Einspruch der unterdrückten Völker gegen diese unfassbaren Gräuel und Schrecken höre, wenn ich am Widerstand der internationalen Arbeiterklasse auch in den Straßen meiner Stadt gegen dieses unbeschreibliche Verbrechen und diese von Kapital und auch deutschen Unternehmern angetriebene siedlerkoloniale, mörderische Gewalt teilnehme, dann muss ich es mir sagen, und ich kann es mir sagen und will es dir sagen: Wenn du denkst, du kannst nichts tun, dann entwaffnest du dich selbst, dann gewinnen sie und ihre abscheulichen Lügen. Lass dich nicht entwaffnen! Du hast deine Stimme, du hast einen Stift. Du bist nicht ohnmächtig. Du musst es nicht sein.

Die Stunde schlägt. Gestern war gestern. Morgen wird nicht mehr heute sein. Die Kinder müssen leben. Palästina wird leben. Die Wahrheit wird siegen.

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