Zu Christoph Heins Roman „Unterm Staub der Zeit“

Eine besondere Geschichte aus angespannten Zeiten

Im April ist Christoph Heins Roman „Unterm Staub der Zeit“ erschienen. Der Oberschüler Daniel geht Ende der fünfziger Jahre nach Westberlin, um dort das Abitur am Evangelischen Gymnasium abzulegen, das ihm in der DDR als Sohn eines Pfarrers erschwert wird. Dass es dafür Möglichkeiten gibt, erfährt er, nachdem ihm Westberlin nach dem 13. August 1961 verschlossen ist. Diesen Weg ist Christoph Hein gegangen, der Roman hat autobiografische Züge und setzt das frühere „Von allem Anfang an“ (1997) fort. – So wie dieser Roman – er umfasste die Zeit von 1956 bis 1958 – durch seinen stabreimenden Titel eine besondere philosophische Erwartung auslöste, so entsteht durch den Titel des neuen Romans – ihn bestimmen die Jahre von 1958 bis 1962 – mit dem mythisch anmutenden „Staub der Zeit“ zusätzliche Spannung.

Die Geschichte des jugendlichen Daniel wird schlicht und unaufgeregt erzählt; die erzählerische Präzision, eine Folge der zwiespältigen Erziehung, „anständig (zu) sein und höflich“, wird durch einzelne Stilbrüche wie Dialektanklänge oder vulgär-erotische Begriffe, aber auch durch ironisch-satirische Brechungen, erwartungsvoll gestört beziehungsweise erweitert wie beim Auftritt des wirren Baron vom Bromstein Haller, der eigentlich Kretschmar heißt. Sprachliche Überhöhungen in dem geradlinig erzählten Buch weisen auf Daniels Leidenschaft für Dichtung und Theater und die von ihm beschworene „Macht der Sprache“ hin. Die Leidenschaft für „Klang“ und „Wortgewalt“, zu der auch die unauffällige Verwendung klassischer Zitate gehört, zum Beispiel aus Shakespeares „Hamlet“, begründet Daniels Wunsch, Schriftsteller zu werden.

Heins biografische Vorgänge sind dem jugendlichen Daniel aufgelegt. Erzählt wird sachlich und unaufdringlich, berichtend mit reizvollen Zuspitzungen. Das Erzählen geht vom erwachsenen Daniel mit dem entsprechenden zeitlichen Abstand aus. Sein Name assoziiert den Propheten Daniel des Alten Testaments, der die Apokalypse, die Zerstörung der Bilder 167 vor unserer Zeit prophezeit. Damit reicht der Roman über Autobiografisches hinaus: Er wird zum zugespitzten Exempel eines Lebenslaufes in außergewöhnlichen Zeiten, bietet die Zuspitzung weltpolitischer Auseinandersetzung im Kaltem Krieg, konzentriert auf Berlin als Abbild nationaler Zustände und internationaler Spannungen.

Der allwissende Erwachsene, zu dem Daniel geworden ist, macht Ereignisse von 1958 bis 1962 mit seinem Wissen zur Chronik und nutzt diese von ihm bevorzugte Rolle, um den Ausschnitt zu analysieren, darzustellen und seine historische Bedeutung zu vermitteln. Um den Eindruck von Wahrhaftigkeit zu sichern, hat Hein kritikwürdige Verhaltensweisen der Hauptgestalt aufgenommen: Sein Held und Erzähler wird aus einem „anständigen“ Menschen in Guldenberg ein „gemischter“ Charakter, denn seine moralische Lauterkeit sieht sich konfrontiert mit Alkoholexzessen, Kriminellen, Diebstahl und erotischen Abenteuer. Das kontrastiert der Erzähler mit weltpolitischen Ereignissen: Die Zuspitzung des Kalten Krieges 1961 an die Grenzen eines „heißen“ Krieges spiegelt sich im Leben Daniels, das als symptomatisches Beispiel für ein Leben in Deutschland erscheint.

Die Geschichte ist eine besondere, aber keine ungewöhnliche: Der gesamte C-Zug in dem Gymnasium, der sich mit alten Sprachen beschäftigt, ist Kindern aus bestimmten Schichten der DDR – Pfarrern, Intellektuellen, Akademikern und so weiter – vorbehalten, wobei Hein darauf hinweist, dass das mit dem Viermächtestatus Berlins vereinbar war. Daniels Vater ist der irrigen Meinung, dass damit ihre Außenseiterposition vergangen sei; aber Daniel muss feststellen, sie herrscht in Schule und Internat wie im Osten. Das Bemerkenswerte ist, dass nicht Einzelne von den Westberlinern verachtet werden, „hier ist es der ganze C-Zweig“. Die Situation der Schüler aus der DDR wird aussichtslos, als am 13. August 1961 die Grenze zur BRD und in Berlin geschlossen wird.

Hein wird seinem grundsätzlichen Anspruch als Chronist gerecht. Der Chronist folgt dem Verlauf der Geschichte und beschreibt die Konflikte, indem er die Berechtigung aller Haltungen und die sachlichen Verläufe prüft, aber er nimmt keine historischen Wertungen im Sinne der Geschichtsschreibung vor. Entscheidende Auswirkungen hat diese Chronistenstellung auf die politisch brisanten Aussagen des Romans. Die entscheidende Zeit des Romans liegt um den 13. August 1961, den Bau der Mauer in Berlin. Der Vorrang wird historisch unterschiedlich gewertet. Seine Grundlagen werden im dadurch betonten mittleren Kapitel, dem achten von 16, „Dodge Royal“, genannt: Westberliner, die glauben, wegen „einer dickeren Brieftasche“ seien sie „was Besseres“, und Schüler aus der DDR bleiben sich fremd, die Fremden werden kontinuierlich beleidigt („Was stinkt hier so nach Russenzone?“ wird einem Schüler nachgerufen). Die Schüler aus dem Osten lernen den Kapitalismus in üblen Erscheinungen kennen und reagieren kritisch, wenn er sie in seinen Bann zu ziehen versucht, wie in Gestalt des Erweckungspredigers Billy Graham, „Verführer aus dem Lehrbuch der Verführungskünste, ebenso bewundernswert wie gefährlich“. Die Schüler sind einen Schritt weiter: „Das könnte ein lustiger Abend werden.“ Sie „belustigen“ sich über „das Maschinengewehr Gottes“ und erkennen in ihm den personifizierten Antikommunismus.

Der 13. August 1961 ist ein, wie es scheint, autarker Vorgang der DDR, von der Sowjetunion gestützt. Als sich Daniels Vater beim Oberkirchenrat fragt, wie die Westmächte auf die Schließung der Grenze reagieren werden, gibt dieser ihm einen Artikel: Der US-amerikanische Senator William Fulbright, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, hatte eine Woche zuvor erklärt, „die deutsche Krise könne man lösen, indem man Westberlin abriegle“. Als Berlins Regierender Bürgermeister Brandt in Washington zu Fulbright nachfragen lässt, wird nichts kommentiert oder zurückgenommen. Im Westberliner Senat heißt Fulbright nur noch Fulbricht, in Heins Roman steigt er in die Kapitelüberschrift „Fulbricht riegelt ab“ auf, treffend die Vielschichtigkeit des Vorgangs ebenso wie Heins zielsichere Ironie ausweisend.

Die Spannungen angemessen darzustellen fordert Chronistenpflicht; Hein wird ihr gerecht. Darin liegt die Besonderheit und Einmaligkeit seines Schaffens. Dieser Ausschnitt aus der Biografie Daniels schafft die Möglichkeit der Beobachtung beider Seiten zwischen den politischen Welten und gegensätzlichen Staaten. Einseitige politische Bewertungen werden vermieden.

Es wäre kein Roman Heins, wenn nicht über dieser linear erzählten, letztlich schlichten Geschichte Daniels und dem dazugehörigen zeitgeschichtlichen Geschehen eine überzeitliche Ebene anderer Dimension stünde: die Umrisse der Demokratie werden gesucht. Aus den Zwängen des Absolutismus kommend – Machiavelli ist ein großes Thema des Romans – ist bisher viel versäumt und verhindert worden beim Aufbau von Demokratie, der bisher zu „sehr fragilen und höchst gefährdeten Einrichtungen“ geführt hat. Die dazu in den Roman eingeführte Gestalt ist ein Adjunkt mit dem Spitznamen Faro – ein Betreuer der Abiturienten. In Heins Romanen hat alles seine Funktion. Welche hat dieser Name? Er wurde gewählt nach der südportugiesischen Stadt mit dem schaurigen Beinhaus der Karmeliterkirche Nossa Senhora do Camo, Menschheitsgeschichte assoziierend. Und ist es Zufall, dass auch an die Faro-Konvention gedacht werden kann, die nach Wegen für Erhalt und Verwendung des Kulturerbes sucht? So wird der autobiografisch-biografische Roman zu einem anregenden Ideenforum. Der Adjunkt Faro beschäftigt sich mit Staatstheorien, ihren Opfern in Vergangenheit und Gegenwart sowie Möglichkeiten in der Zukunft, die bisher nicht erkennbar sind, Ergänzung und Aufgabe zur aktuellen Geschichte. Die Staatstheorie Machiavellis in „Il Principe“ (Der Fürst), die auf der Suche nach der Staatstheorie von heute einbezogen wird, führt zur Alternative: Faro schreibt mit dem Wissen um Machiavelli – „in den Grundsätzen der Staatsraison (ist) in den letzten Jahrhunderten nichts Wesentliches dazugekommen“ – über Demokratie seine Dissertation „Il Democratico“, die die Weiterführung und Überwindung von Machiavellis Staatstheorie ebenso wie der heutigen Demokratien ist. Ob sie je abgeschlossen wird, wird nicht mitgeteilt.


Christoph Hein
Unterm Staub der Zeit
Suhrkamp Verlag, 223 Seiten, 24,- Euro


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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Eine besondere Geschichte aus angespannten Zeiten", UZ vom 23. Juni 2023



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