Wenige Wochen nach dem Antritt wirkt die schwarz-rote Koalition immer mehr wie eine von böswilligen Karikaturisten geschaffene Provokation. Große Versprechen hat sie nicht zu bieten. Alles, was bleibt, ist eine bizarre Erzählung: Das Leben in Deutschland könnte so schön sein, wären da nicht der böse Russe, die gierigen Gewerkschaften und die faule Jugend.
„Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können“, hatte Bundeskanzler Friedrich Merz schon in seiner Antrittserklärung zum Besten gegeben. Wer will schon, dass das blöde Leben in die Quere kommt, wenn es doch so viel zu arbeiten gibt? Andersrum macht es mehr Spaß, weiß Kanzleramtschef Thorsten Frei. „Jeder, der Vollzeit arbeitet, hat so viel Geld, dass er davon leben kann“, sagte er in der vergangenen Woche bei „Maischberger“. Dass es trotzdem Menschen gibt, die noch einen Zweitjob haben, erklärte er sich damit, dass „sie gerne mehr arbeiten“, dann könne man sich auch mehr leisten. Womit das Merz-Wort bewiesen wäre: Leben und Wohlstand – das verträgt sich nicht.
Also müssen Abstriche gemacht werden, vor allem bei der Jugend. Die lebt ohnehin zu gerne und arbeitet zu wenig, wissen Experten wie der „Generationenforscher“ Rüdiger Maas, der im Fernsehsender „Sat.1“ ausführen durfte: „Es gibt immer weniger Räume, wo junge Menschen tatsächlich viel Leistung bringen müssen.“ Das ist mindestens so glaubwürdig wie die Propaganda vom bevorstehenden Sieg gegen Russland oder von der „Selbstverteidigung“ Israels. Junge Menschen arbeiten heute so viel wie seit Jahrzehnten nicht mehr, ermittelte eine Untersuchung der Bundesagentur für Arbeit schon im Februar.
Ihren Traumjobs gehen sie allerdings nur selten nach. Eine Pisa-Sonderauswertung stellte kürzlich „eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Berufserwartungen von Jugendlichen und dem Arbeitsmarkt“ fest. Schuld daran sei eine fehlorientierte Jugend, die keine Rücksicht auf den „Fachkräftemangel“ nehme. Die Realität: Seit Jahren gibt es freie Ausbildungsplätze vor allem für die Berufe, in denen die Bedingungen besonders schlecht und die Löhne besonders niedrig sind. Die Jugend will nicht nur zu viel leben, sondern auch noch falsch arbeiten. So kann das ja nix werden.
Und wo bleibt der Wohlstand aus der ganzen Plackerei? In den Taschen der Konzerne und Großaktionäre, derzeit vor allem in der Rüstungsindustrie. Was darüber hinaus an den Staat fällt, steckt er milliardenfach in Krieg und weitere Hochrüstung. So gehen „Leistungsbereitschaft“ und „Kriegstüchtigkeit“ Hand in Hand – und so hilft Mehrarbeit dabei, eine Maschinerie aufzubauen, die ihre Leistungsträger am Ende in die Schützengräben zwingt. „Wenn der Zeitpunkt kommen sollte, an dem wir mehr Kapazitäten zur Verfügung haben als freiwillige Meldungen, dann wird gegebenenfalls entschieden werden, dass wir verpflichtend einziehen“, erläuterte das Kriegsminister Boris Pistorius in der vergangenen Woche. Die Jugend soll diese Kapazitäten noch fleißig aufbauen, bevor sie an ihnen zugrunde geht.
Wieder stört der Wunsch nach Leben. Und weil das so ist, wird das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Ernstfall auf der Strecke bleiben. Der Bundesgerichtshof ermöglichte im Januar die Abschiebung eines ukrainischen Kriegsdienstverweigerers und gab nebenbei zu bedenken, dass die Aussetzung des Kriegsdienstverweigerungsrechts auch in Deutschland „prinzipiell nicht undenkbar“ sei. Den Schlüssel dafür, den Spannungs- oder Verteidigungsfall – in dem das „nicht undenkbar“ ist – auszulösen, haben die Kriegstreiber mit der geplanten Stationierung von US-Raketen in Deutschland auch noch selbst in der Hand.
Damit von „Work“ und „Life“ noch etwas übrigbleibt, ist also Widerstand gefragt. Gegen die verschärfte Ausbeutung zum Aufbau der Kriegswirtschaft, gegen Hochrüstung und Wehrpflicht und gegen die Stationierung neuer Raketen in Deutschland. Der Kampf für bessere Perspektiven muss gegen die geführt werden, die das Leben jenseits der Arbeit verachten, weil sie sich an seinem Verbrauch bereichern.