Die erste Frau im Kosmos war eine Sowjetbürgerin

Flieg, Möwe, flieg!

Bis Ende 2020 waren seit Beginn der bemannten Raumfahrt 1961 – laut Büro der Vereinten Nationen für Weltraumfragen in Wien, das sich unter anderem dafür einsetzt, dass Frauen und Mädchen eine aktive und gleichberechtigte Rolle in der Weltraumwissenschaft, -technologie, -innovation und -erkundung spielen – bereits 560 Männer im Weltraum, jedoch nur 62 Frauen: als Pilotinnen, Ingenieurinnen, Wissenschaftlerinnen – und auch Touristinnen. Die große Mehrheit kam aus den USA. Dabei flog bereits im Juni 1963, vor bald 60 Jahren, eine Sowjetbürgerin ins All: zwei Jahre und zwei Monate nach Juri Gagarin. Walentina Tereschkowa, Rufzeichen „Tschaika“ („Möwe“), umkreiste in der „Wostok 6“-Raumkapsel 48 Mal die Erde. Erst 19 Jahre später startete wieder eine Frau in den Weltraum: Swetlana Sawizkaja. Die erste US-Bürgerin, die Physikerin Sally Ride, flog 1983 mit dem zweiten Flug des „Challenger“-Spaceshuttles ins All.

Arbeiterin und Studentin

Walentina (Walja) Tereschkowa wurde im Frühjahr 1937 im Dorf Bolschoje Maslennikowo in der Nähe der Stadt Jaroslawl, die nordöstlich von Moskau liegt, geboren. Ihr Vater, Wladimir Aksenowitsch, war Traktorist und arbeitete in einer Kolchose. Er fiel 1940 im sowjetisch-finnischen Krieg. Die Mutter musste also die Kinder – mit staatlicher Unterstützung – allein aufziehen und zog mit ihnen nach Jaroslawl, um Arbeit zu finden.

1945, im Alter von acht Jahren, kurz nach dem Sieg über den deutschen Faschismus, wurde Walja eingeschult. Ob sie eine gute Schülerin war? In Biografien wird das verneint, aber sie war offenbar mutig und sehr hartnäckig, angesehen bei den Mitschülerinnen und -schülern. Nach Abschluss der siebenjährigen Schule wechselte sie auf eine Abendschule, damit sie während des Tages in einer Reifenfabrik arbeiten und Geld für die Familie mitverdienen konnte. Danach absolvierte sie ein Fernstudium an einer Fachhochschule für Leichtindustrie, um Produktionstechnikerin zu werden, und arbeitete tagsüber mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Ljudmila in der Textilfabrik „Krasny Perekop“. Wie damals viele junge Leute arbeitete die Komsomolzin am Tag und studierte am Abend, um sich fortzubilden. 1960 erhielt sie ihr Technikerdiplom.

Seit 1955 war sie begeisterte Fallschirmspringerin – ein Fakt, der ihr weiteres Leben mitbestimmen sollte.

Die erste Kosmonautin

Als der Chefkonstrukteur und Raumfahrtpionier Sergej Koroljow, der unter anderem für den ersten bemannten Weltraumstart verantwortlich war, beauftragt wurde, eine Gruppe von Raumfahrt-Kandidatinnen zusammenzustellen, war Tereschkowa unter den Freiwilligen, alles Fallschirmspringerinnen. Bei den Männern hatte man zuvor auf Düsenjetpiloten gesetzt. Kurz nach Gagarins Flug habe sie, wie sie 2013 bei einem Besuch in Wien erzählte, ihre Bewerbung für einen Raumflug abgeschickt, so sehr habe die Raumfahrt sie fasziniert. Mit ihr wurden 400 weitere Bewerberinnen in die engere Auswahl gezogen. Nur fünf wurden ausgewählt: Neben Walentina waren dies Tatjana Kusnezowa, Irina Solowjowa, Schanna Jerkina und Walentina Ponomarjowa.

Die Ausbildung in der Sternenstadt begann. Ende 1962 bestand Walentina alle Abschlussprüfungen der Raumfahrtausbildung. Ursprünglich sollten zwei weibliche Besatzungen ins All geschickt werden, doch dann wurde beschlossen, nur eine Kosmonautin zu entsenden. „Warum wurde Tereschkowa ausgewählt? Diese Frage haben sowjetische Kosmonautikforscher immer wieder gestellt. Sie war weder die sportlichste der fünf noch die am besten ausgebildete. (…) Die glaubwürdigste Version, warum Tereschkowa ins All flog, wurde einst von Nikolai Kamanin, dem Leiter der Kosmonautengruppe, geäußert: ‚Solowjowa wie Ponomarjowa hätten auch auf den ersten Flug geschickt werden können. Ich bin sicher, dass sie den Flug nicht schlechter und sogar besser gemacht hätten als Tereschkowa, aber nach dem Flug hätten sie nur als Kosmonauten eingesetzt werden können (…) Tereschkowa kann und sollte nicht nur die erste Kosmonautin sein. Sie ist intelligent, sie hat einen Willen, sie macht auf alle einen sehr guten Eindruck und sie wird die Sowjetunion auf jedem internationalen Forum vertreten.“

Am 14. Juni 1963 startete Waleri Bykowski mit der „Wostok 5“ – Missionsziel war ein Gruppenflug. Zwei Tage später folgte Tereschkowa mit der „Wostok 6“ Bykowski ins All.

Offiziell verlief ihr Flug reibungslos: Sie verbrachte fast drei Tage im erdnahen Weltraum, die Landung war erfolgreich. Erst später wurde bekannt, dass Tereschkowa eine Reihe von Forschungsaufgaben nicht erfüllen konnte. Sie hatte offenbar die Raumkrankheit, wie Kamanin später in seinen Tagebüchern berichtete: Ihr war ständig übel, sie litt unter Schwindel und Erbrechen. Zeitweise meldete sie sich nicht. Zudem hatte sie Probleme mit der Steuerung des Raumschiffs: Es war ein Fehler in der Verkabelung, der glücklicherweise keine schlimmen Folgen hatte. Überdies erwies sich der Landefallschirm als nicht kontrollierbar. Die Kosmonautin schlug deshalb bei der Landung mit dem Gesicht hart gegen ihren Helm. Schließlich nahm sie nach der Landung von den Einheimischen, bei denen sie gelandet war, alle angebotenen Mahlzeiten an – und so konnten die Wissenschaftler die Veränderungen in ihrem Magen-Darm-Trakt während des Aufenthalts im All nicht untersuchen.

Koroljow soll übrigens über die vermeintlichen Verstöße der „Tschaika“ sehr empört gewesen sein und wollte angeblich keine Frauen mehr im Weltraum sehen: Offenbar wusste man damals noch nicht, dass Menschen die Bedingungen der Schwerelosigkeit unterschiedlich vertragen.

Trotzdem war und blieb Tereschkowas Flug im Juni 1963 eine Sensation. Er bewies, dass auch Frauen den Belastungen eines Weltraumflugs gewachsen sind: des Starts, der Schwerelosigkeit und der sonstigen Bedingungen. „Sie wurde weltberühmt – und flog niemals wieder in den Weltraum. Ihr Tätigkeitsgebiet hat sich, wie von Nikolai Kamanin vorausgesagt, auf öffentliche Aktivitäten und den stolzen Titel der ersten weiblichen Kosmonautin der Welt mit all der damit verbundenen Verantwortung reduziert.“

Tereschkowa heiratete 1963 den Kosmonauten Adrijan Nikolajew. 1964 wurde ihre Tochter geboren.

Die Zweite im All

Es dauerte bis Anfang der 1980er Jahre, ehe in der Sowjetunion wieder Frauen für einen Flug ins All trainierten. Unmittelbarer Anlass für die Entscheidung der sowjetischen Stellen war offenbar die Ankündigung der USA, Frauen für den Flug in den Weltraum auszubilden. Tereschkowa erklärte bei ihrem Besuch in Wien im Jahr 2013, dass in der Sowjetunion bereits Anfang der 1970er Jahre durchaus weitere Missionen mit weiblicher Besatzung vorgesehen waren. Doch der Tod dreier Kosmonauten bei der Mission „Sojus 11“ im Jahr 1971 habe dieses Vorhaben beeinflusst: Frauen sollten erst dann wieder fliegen, wenn die Raumschiffe sicherer seien.

1012 03 Tereschkowa - Flieg, Möwe, flieg! - Kosmonautin, Swetlana Sawizkaja, Tschaika, Walentina Tereschkowa - Hintergrund
Im Sommer 1963 flog Walentina Tereschkowa als erste Frau in den Weltraum. (Foto: RIA Novosti)

Und so kam es dazu, dass die nächste Frau erst 1982 in den Weltraum startete.

Die 1948 in Moskau geborene Swetlana Sawizkaja war – seit dem Alter von 16 Jahren – als Fallschirmspringerin aktiv und wurde später Fluglehrerin und Testpilotin. Sie stellte vor ihrer Weltraummission zwei Weltrekorde im Stratosphärensprung und 18 Flugzeug­rekorde auf. Ihr Vater war im Großen Vaterländischen Krieg Jagdflieger, später Marschall der Sowjetunion und stellvertretender Oberkommandierender der sowjetischen Luftverteidigung. Sie betonte später, dass sie nicht davon geträumt habe, Flugzeugpilotin zu werden. Ihr Vorbild war German Titow, der zweite Mensch im All.

Als Sawizkaja 1979 davon erfuhr, dass ihr Land wieder Kosmonautinnen ausbilden wolle, rief sie sofort Walentin Gluschko an, der damals für das Raumfahrt-Trainingsprogramm verantwortlich war. Es gelang ihr, Gluschko zu einem Treffen zu überreden. 1980 wurde sie in die Gruppe der Bewerber für die Raumfahrt aufgenommen.

1982 wurde Sawizkajas Traum vom Weltraumflug wahr. Ab Dezember 1981 bereitete sie sich auf ihren ersten Raumflug vor – ein Kurzzeitflug zur Raumstation „Saljut 7“. Kommandant der Mission war Leonid Popow, Bordingenieur Alexander Serebrow, der wie Sawizkaja zum ersten Mal ins All flog. Sawizkaja hatte medizinische und biologische Experimente durchzuführen. 1984 flog sie als Flugingenieurin mit dem Raumschiff „Sojus T-12“ zur Raumstation. Dringend benötigte Werkzeuge mussten dorthin gebracht werden. Während der Mission war sie die erste Frau, die – erfolgreich – Außenarbeiten durchführte.

Ein weiterer Flug mit einer dreiköpfigen weiblichen Besatzung und Sawizkaja als Kommandantin kam – wie weitere später geplante Missionen – nicht mehr zustande. Nach der Geburt ihres Sohnes schloss Sawizkaja ein Studium der technischen Wissenschaften an der Moskauer Staatlichen Technischen Universität Baumann ab und schied im Oktober 1993 im Rang eines Majors endgültig aus dem Kosmonautenkorps aus.

Nach dem Ende der Sowjetunion gab und gibt es in Russland offenbar deutlichen Widerstand gegen den Flug von Frauen in den Weltraum. Seit 1990 sind lediglich vier russische Frauen in den Weltraum geflogen – darunter eine Schauspielerin für Filmaufnahmen auf der Internationalen Raumstation ISS. Raumfahrt sei nur etwas für Männer, meinen einige. Von Bewerberinnen wurde zudem lange die Erfüllung von Männerstandards bei der Ausbildung gefordert, statt die Standards anzupassen. Auch in jüngerer Zeit scheiterten daran viele Bewerberinnen. Eigentlich verkündet die Verfassung Russlands das Prinzip der Gleichstellung der Geschlechter, wirklich gleichberechtigt sind die Frauen aber in nicht wenigen Bereichen nicht.

Unterschiedliche Wege

Beide Frauen, Tereschkowa wie Sawizkaja, wurden in der Sowjetunion hochgeehrt: Sie wurden als „Held(in) der Sowjetunion“ (Sawizkaja zweimal) und mit anderen hohen Orden ausgezeichnet, in den Obersten Sowjet der UdSSR gewählt (Tereschkowa 1974, Sawizkaja 1989) und waren zuzeiten der Sowjetunion Mitglieder der KPdSU.

Während Sawizkaja die Möglichkeit hatte, ein zweites Mal in den Weltraum zu fliegen und nach ihrer aktiven Zeit unter anderem als wissenschaftliche Dozentin tätig war, wurde Tereschkowa – wie vorgesehen – nach ihrem Premierenflug zur „Botschafterin“ ihres Landes. Offiziell galt sie zunächst als Kosmonauten-Instrukteurin und absolvierte ein Fernstudium an der Nikolai-Schukowski-Militärakademie für Flugzeugbau. Sie reiste in viele Länder – so auch in die DDR (Oktober 1963, gemeinsam mit Juri Gagarin) – und traf sich mit Staatsoberhäuptern, die persönlich mit der ersten Frau im Weltall sprechen wollten. Im Laufe der Jahre wurde die Kosmonautin mit vielen Orden und Medaillen ausgezeichnet, nicht nur von ihrem eigenen Land. Im Mai 1968 wurde sie Vorsitzende des Komitees der Sowjetfrauen, 1971 Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU. Ab 1974 war sie im Präsidium des Obersten Sowjets und ab 1976 stellvertretende Vorsitzende der „Kommission für Erziehung, Wissenschaft und Kultur“ des Unionssowjets. 1994 wurde sie von der damaligen russischen Regierung zur Leiterin des „Russischen Zentrums für internationale kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit“ ernannt – in dieser Funktion war sie bis 2004 tätig.

Tereschkowa engagierte sich seit 2008 bei der Partei „Einiges Russland“ (nach Engagements in der Partei „Unsere Heimat ist Russland“ und der „Partei des Lebens“). Für die Partei „Einiges Russland“ war sie Abgeordnete in der regionalen Duma im Oblast Jaroslawl und wurde 2011 Abgeordnete der Staatsduma. Am 10. März 2020 beantragte sie dort – mit Erfolg – eine Verfassungsänderung zur „Lockerung“ der Amtszeitbegrenzung des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Dagegen blieb Sawizkaja auch nach 1990 Mitglied der Kommunistischen Partei (KPRF). Sie wurde mehrfach für ihre Partei in die Staatsduma gewählt. 2021 stand sie hinter dem Vorsitzenden der KPRF auf dem zweiten Platz der Landesliste der Partei für die Wahlen zur Staatsduma. Ihr „nahe“ kam ich am 7. November 2007 in Moskau. Sie sprach – neben Gennadi Sjuganow und anderen – auf einer Kundgebung der KPRF, die nach einer Demonstration anlässlich des 90. Jahrestags der Oktoberrevolution auf dem Theaterplatz nahe dem Bolschoi-Theater stattfand.

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Flieg, Möwe, flieg!", UZ vom 10. März 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Schlüssel.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit