Wer in der EU über die Geldverteilung entscheidet

Gegenseitige Erpressung

Mal wieder eine kleine EU-Krise. Die ehrenwerten Regierungen Polens und Ungarns wehren sich gegen einen Erpressungstrick der EU mit Erpressungsmanövern ihrerseits. Das unschöne Wort Erpressung wird zwar von den Oberen in Brüssel und Berlin nicht in den Mund genommen. Aber die ihnen nach dem Mund redenden Presseorgane schreiben es. Erpressung ist einerseits ein krimineller Tatbestand, andererseits aber ein allseits übliches politisches Manöver. Auch dann, wenn es um hehre Absichten geht. Diese Ziele sind in diesem Fall der „Rechtsstaat“ auf der Seite von Frau Merkel, Frau von der Leyen, Ratspräsident Michel und der braven Mehrheit des EU-Parlaments und die „Unabhängigkeit“ auf der Seite der Regierungen Polens und Ungarns.

Lucas Zeise
Lucas Zeise

Streitpunkt ist die Verteilung von viel Geld. Der Haushaltsrahmen der EU für sieben Jahre bis 2027 (von etwa 1 Billion Euro) soll verabschiedet werden. Dazu kommen etwa 750 Milliarden Euro Corona-Hilfen. Unterhändler des EU-Parlaments und der 27 Mitgliedstaaten hatten sich vor zwei Wochen vorläufig darauf geeinigt, bei der Verteilung einen „Rechtsstaatsmechanismus“ einzubauen. Danach soll Geld nur an diejenigen Mitgliedsländer fließen, die den rechtsstaatlichen Prinzipien der EU gehorchen. Der elegante „Mechanismus“ ergab sich wiederum aus dem Streit darum, ob über die Verwendung der Corona-Hilfen die Empfängerländer (vorwiegend im Süden und Osten der EU) oder die reichsten Geberländer (vorwiegend Deutschland sowie die Mitte und der Norden) entscheiden sollten. Die Aushandlung des entsprechend neuen Regelwerks bot Letzteren eine gute Gelegenheit, den Rechtsstaatsmechanismus in die Haushaltsberatung einzuführen, die Südländer Italien, Spanien und so weiter zu gewinnen und so die Kontrolle über die aufmüpfigen EU-Mitglieder zu gewinnen.

Bei der Beratung des Haushaltsrahmens gilt auch heute noch Einstimmigkeit. Jedes Mitgliedsland hat also beim Geld ein Vetorecht, was ihm die Möglichkeit bietet, seine Interessen in begrenztem Rahmen auch auf anderen Gebieten durch Lästigfallen zu wahren. Der Rechtsstaatsmechanismus selbst kann mit der üblichen qualifizierten Mehrheit (Zustimmung von mindestens 15 Staaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren) beschlossen werden. Das wertvolle Veto wird durch den eingebauten Mechanismus also ausgehebelt. Sollte der Mechanismus Bestandteil des Haushaltsrahmens werden, kündigten am Montag vergangener Woche die Regierungschefs Ungarns und Polens, Orbán und Morawiecki, ihr Veto an. Eine EU-Gipfelkonferenz per Video am vergangenen Donnerstag verlief ergebnislos.

So widerlich die Politik der rechtsnationalistischen Regierungsparteien Fidesz in Ungarn und PiS (steht für Recht und Gerechtigkeit) in Polen auch sein mögen, der trickreiche Versuch des EU-Machtapparats, seine Kontrolle über die Mittelvergabe in der Peripherie durchzusetzen, ist noch widerlicher. Der schillernde Begriff Rechtsstaat dient den Mächtigen in der EU, in Deutschland und anderswo zur Durchsetzung der Interessen der mächtigsten EU-Kapitale.

Wahrscheinlich wird sich ein Kompromiss in der Nähe der Position der EU-Zentralmächte finden. Dafür spricht, dass die Groß- und Kleinkapitalisten Polens und Ungarns großes Interesse an der Mitgliedschaft in der EU einschließlich der Nettozuflüsse aus dem Haushalt haben. Wenn alle Stricke reißen, bleibt als Ersatzlösung die während der Eurokrise bewährte Methode: Der „Wiederaufbaufonds“ von 750 Milliarden Euro würde von einer Koalition der Willigen beschlossen, finanziert und das Geld unter ihren Bedingungen vergeben. Verglichen mit dem brutalen Diktat über Griechenland, Portugal, Zypern, Spanien und Italien vor einigen Jahren sind die gegenwärtigen EU-Regeln fast noch demokratisch.

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Über den Autor

Lucas Zeise (Jahrgang 1944) ist Finanzjournalist und ehemaliger Chefredakteur der UZ. Er arbeitete unter anderem für das japanische Wirtschaftsministerium, die Frankfurter „Börsen-Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“. Da er nicht offen als Kommunist auftreten konnte, schrieb er für die UZ und die Marxistischen Blättern lange unter den Pseudonymen Margit Antesberger und Manfred Szameitat.

2008 veröffentlichte er mit „Ende der Party“ eine kompakte Beschreibung der fortwährenden Krise. Sein aktuelles Buch „Finanzkapital“ ist in der Reihe Basiswissen 2019 bei PapyRossa erschienen.

Zeise veröffentlicht in der UZ monatlich eine Kolumne mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspolitik.

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"Gegenseitige Erpressung", UZ vom 27. November 2020



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