Geschichtsbücher werden von den Siegern geschrieben. Sie handeln von Monarchen, von Politikern, von Kirchenfürsten und Generälen. Bertolt Brecht ließ seinen lesenden Arbeiter danach fragen, wer das siebentorige Theben gebaut habe: „In den Büchern stehen die Namen von Königen./Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?“ Die Geschichtsbücher sind voll mit denen, die die Früchte der Arbeit anderer an sich reißen, sie vermitteln ihre Weltsicht und sie unterschlagen oder verfälschen, was der herrschenden Klasse nicht passt. Und doch hält sich die Geschichtswissenschaft für eine neutrale – schließlich sei man ja den Quellen verpflichtet und zitiere streng genau.
Als vor 45 Jahren die erste Ausgabe von Howard Zinns „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ erschien, war die Aufregung in der Zunft der Historiker und im darüber berichtenden Feuilleton daher groß. Denn Zinn bekannte unumwunden, dass seine Geschichtsschreibung parteilich ist. Er spricht der Geschichtswissenschaft per se ab, neutral sein zu können. Nicht umsonst heißt seine Autobiografie „You can‘t be neutral on a moving train“ (Man kann in einem fahrenden Zug nicht neutral sein).
Mit „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“, das in diesem Jahr in einer Neuübersetzung im März-Verlag wiederaufgelegt wurde, forderte Zinn nicht nur die Geschichtswissenschaft heraus, sondern auch die große US-amerikanische Erzählung des „Land of the free and home of the brave“: „Meine Einstellung zur Darstellung der Geschichte der Vereinigten Staaten ist eine andere: dass wir die Erinnerung der Staaten nicht als unsere eigene hinnehmen dürfen. Nationen sind keine Gemeinschaften und waren es noch nie. Die Geschichte jedes Landes, die uns als Geschichte einer Familie präsentiert wird, verbirgt bittere Interessenkonflikte (die manchmal ausbrechen, meistens aber unterdrückt werden) zwischen Eroberern und Eroberten, Herren und Sklaven, Kapitalisten und Arbeitern, aufgrund von Herkunft oder Geschlecht Dominierten und Dominierenden. Und in einer solchen Welt der Konflikte, einer Welt von Opfern und Henkern, ist es, wie Albert Camus gesagt hat, die Aufgabe der denkenden Menschen, nicht auf der Seite der Henker zu stehen.“
Und so zeichnet Zinn nicht die Geschichte des großen Seefahrers Kolumbus, der Amerika „entdeckte“, sondern erzählt, wie es für die Menschen war, die in dem Gebiet lebten, das wir heute als USA kennen, als die europäischen Kolonialisten den Fuß auf ihr Land setzten, benennt die Massaker und zeigt, was Geschichtsbücher sonst weichzeichnen oder gleich ganz verschweigen.
Was Howard Zinns „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ so besonders macht, ist aber nicht nur seine klare Haltung, seine Positionierung an der Seite der Unterdrückten, sondern die Perspektive, die er einnimmt. Bisher handelten Geschichtsbücher nicht nur von den Mächtigen, sondern sie nahmen auch ihren Blickwinkel ein. Bei Zinn ist das anders. „Angesichts der Unvermeidlichkeit, Partei zu ergreifen, die durch Auswahl und Schwerpunkt in der Geschichtsschreibung entsteht, ziehe ich es deshalb vor, zu versuchen, die Geschichte der Entdeckung Amerikas aus der Perspektive der Arawak zu erzählen, die der Verfassung vom Standpunkt der Sklaven aus, von Andrew Jackson aus der Sicht der Cherokee, vom Bürgerkrieg aus der Sicht der Iren von New York, vom Mexikanischen Krieg aus der Sicht der desertierenden Soldaten der schottischen Armee, vom Aufstieg der Industrialisierung aus der Sicht der Frauen in den Textilmanufakturen, vom spanisch-amerikanischen Krieg aus der Sicht der Kubaner, von der Eroberung der Philippinen aus der Sicht der schwarzen Soldaten auf Luzon, vom Goldenen Zeitalter aus der Sicht der Farmer im Süden, vom Ersten Weltkrieg aus der Sicht von Sozialisten, vom Zweiten Weltkrieg aus der Sicht von Pazifisten, vom New Deal aus der Sicht der Schwarzen in Harlem, vom amerikanischen Nachkriegsimperium aus der Sicht der Landarbeiter in Lateinamerika.“
Diese Haltung und diese Perspektive brachten Zinn und seinem immer wieder erweiterten Buch großen Erfolg ein. Bis zu seinem Tod erhielt er tausende Briefe begeisterter High-School-Schüler, die das erste Mal verstanden, dass Geschichte etwas mit ihnen zu tun hat, „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ wurde immer wieder aufgelegt und in viele Sprache übersetzt. Und in „Good Will Hunting“ schaut Matt Damon auf das Bücherregal seines von Robin Williams gespielten Therapeuten, verzieht angewidert das Gesicht, als er die da stehenden Bücher sieht, und empfiehlt ihm sehr nachdrücklich, „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ zu lesen.
Sonja Bonin hat den Text von Howard Zinn neu übersetzt und ihn an ein heutiges Sprachempfinden angepasst. Augenmerk hat sie dabei auf eine rassismuskritische Sprache gelegt, Indianer durch Native Americans oder Indigene ersetzt, Rasse durch Race und so weiter. Es ist ein großer Verdienst des März-Verlags, „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ wieder auf den Markt gebracht zu haben – dass ein deutscher Verlag dem Buch einer Ikone der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung eine Einlassung voranstellt, man habe das Buch weniger rassistisch klingen lassen, aber ist befremdlich.
Wenigstens das generische Maskulinum wurde nicht angetastet und so stellen sich nur im Vorwort Schreibweisen zwischen den Leser und die Erkenntnis. Denn das ist das, was neben Haltung und Perspektive Zinns Buch so großartig macht: Er ist nicht nur ein Geschichtsschreiber, sondern auch ein Geschichtenerzähler. „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ hat eine klare Sprache, kommt ohne Fachjargon aus, ist spannend geschrieben und lässt sich lesen wie einen Roman. Es ist nicht nur Geschichtsschreibung über das Volk, sondern für das Volk. Es gehört in jedes Bücherregal. Also, wer noch Platz auf dem Wunschzettel hat, schreibe es drauf!
Howard Zinn
Eine Geschichte des amerikanischen Volkes
März Verlag, 927 Seiten, 48 Euro
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