Zum aktuellen Umgang des Nordens mit den Reichtümern und den Arbeitskräften des Südens

Lumumbas Ideen wirken nach

Gerd Schumann

In der Reihe „Basiswissen“ des PapyRossa Verlags erschien im März der Band „Patrice Lumumba“ von Gerd Schumann. Der Autor zeichnet darin den Lebensweg des kongolesischen Freiheitskämpfers nach und schildert an dessen Beispiel die bis heute wirkende Geschichte von Kolonialismus, nationalen Befreiungsversuchen und Neokolonialismus. Lumumbas Partei gewann die ersten freien Wahlen im Kongo im Mai 1960. Er wurde Ministerpräsident des einen Monat später in die Unabhängigkeit entlassenen Landes. Den alten Kolonialherren gingen Lumumbas Vorstellungen zu weit. Sie wollten die Kontrolle über die kongolesischen Rohstoffe behalten. Die CIA organisierte den Putsch, belgische Kolonialtruppe ermordeten Lumumba im Januar 1961 bestialisch. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags drucken wir – redaktionell geringfügig bearbeitet – das letzte Kapitel des Buchs ab.

Was bleibt außer Trauer, Wut, herausgebrochenen Goldzähnen und den kaum fassbaren Konsequenzen der Ereignisse um Patrice Lumumba? Einige Denkmäler erinnern an den großen Afrikaner. In Kinshasa-Limete steht seit 2002 eine Lumumba-Statue, errichtet nahe dem Nationaldenkmal „Tour de l’Échangeur“. In der Leipziger Lumumbastraße 4, vor dem Herder-Institut, in dem ausländische Studierende auf ein Fachstudium in der DDR vorbereitet wurden, wurde 1961 eine Büste für den kongolesischen Nationalhelden aufgestellt. 1997 von Unbekannten zerstört, entstand 2010 ein neues Denkmal, finanziert mit privaten Spenden. Die ehemalige Lumumba-Universität in Moskau wurde 1992 in Universität der Völkerfreundschaft zurückbenannt, bleibt aber im Gedächtnis. Zahlreiche Straßen in aller Welt tragen seinen Namen.

Vor allem bleibt aber hoffentlich das Werk des Ermordeten und manchmal auch der hypothetische, hoch spannende Gedanke, was aus dem Kongo und aus Afrika hätte werden können, wenn Patrice Lumumba erfolgreich hätte sein dürfen. Dazu kam es nicht. Stattdessen hat ihn sein Martyrium zum Symbol des globalen antikolonialen Widerstands gemacht. Auch nach Jahrzehnten ist er Inspiration für all jene, die für eine gerechte Welt und also gegen den Imperialismus kämpfen. So viel – und das ist sehr viel – bleibt.

Was ist inzwischen aus dem Kongo und Lumumbas Afrika geworden? Einerseits hat sich vor allem international manches getan. Schien zunächst nach 1990 alles auf eine unipolare Weltordnung zu deuten, so relativierte sich die Vormachtstellung des Imperiums inzwischen wieder stark, eine Art neue Systemkonkurrenz formierte sich nach dem Ende des für manche Befreiungsbewegung so wichtigen europäischen Sozialismus und fördert heutzutage antikoloniale Tendenzen.

Reiches Land …

Die Rohstoffe des Kontinents werden immer wichtiger. Wie seit Langem die begehrten Vorkommen an Öl, Gas, Kupfer, Uran, Diamanten, Gold, so seit einiger Zeit besonders jene für Hightech unverzichtbaren Stoffe Lithium und Coltan (Kobalt), Columbit-Tantalit, ein kostbarer Stoff, ohne den Handys und Spielkonsolen nicht denkbar sind und die gesamte Raumfahrt nebst Satellitenwesen nicht möglich wäre. Zudem lagern in Afrika die weltweit größten Vorkommen an Platin, neue Ölfelder wurden vor den Küsten Kongos und Namibias entdeckt. Anders ausgedrückt: Das industrielle Wachstum im Norden würde ohne Afrika und sein Zentrum, die Große-Seen-Region, nicht funktionieren, und das Selbstbewusstsein derjenigen, die darüber verfügen, wächst.

… ärmliche Verhältnisse

Andererseits: Coltan beispielsweise wird gefördert unter erbärmlichen Bedingungen, die ein Licht werfen auf den altbekannten, ekligen Zustand der kolonialen und neokolonialen Gesellschaft aus Bereicherung, Korruption, Verslumung, Hunger, Naturkatastrophen und sonstigem Elend. Das Erz wird in der nordöstlichen Region mit der Stadt Bunia als Zentrum von zehntausend oder mehr schwarzen Sklavenarbeitern abgebaut und in alle Welt verkauft. Der von ruandisch-gestützten Militärs und bewaffneten Banden geführte Krieg im Osten hält nun schon seit den 1990er Jahren an. Eine hohe Zahl an Binnenvertriebenen belastet das Land ebenso wie die wachsende Ernährungsunsicherheit.

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Ein Kind spielt in einem Lager für Binnenflüchtlinge in der Provinz Nord-Kivu im Osten Kongos. Hier toben seit Jahrzehnten Kriege, hier lagern auch wichtige Rohstoffe wie Coltan und Gold. (Foto: © UNHCR/Blaise Sanyila)

Zugleich stehen Regierungen und Konzerne Schlange vor der Schatzkammer. Deren afrikanische Schlüsselbesitzer haben sich – bei allen sozialen Gegensätzen und geografischen Unterschieden – auch vor diesem Hintergrund zunehmend darauf eingestellt, trägt der globale Wettkampf um Einflusssphären doch die Möglichkeit in sich, überkommenen Diktaten kolonialen Charakters zu entgehen. Vor allem China seit Langem, Russland zunehmend und neuerdings auch die Türkei geben international den Takt vor, indem sie Kooperationen zu gegenseitigem Nutzen anbieten und eben nicht zur Profitmaximierung und Selbstbereicherung einzelner: Rohstoffe gegen Know-how, gegen Infrastruktur in sozialen und verkehrstechnischen Bereichen, sowie perspektivisch – noch zurückhaltend – für eine industrielle Weiterverarbeitung vor Ort.

Neue Akteure

Auch wenn Versuche der ehemaligen Kolonialmächte und der großen westlichen Gesellschaften zu beobachten sind, sich nicht geschlagen zu geben, ähnliche Schritte zu machen und also den Pfad der autoritären Bevormundung zu verlassen: Die historischen Erfahrungen Afrikas mit dem Kolonialismus wirken sich – offensichtlich zunehmend – negativ auf das Verhältnis des Südens insgesamt zum Norden aus. Das herrschende antiwestliche Misstrauen befördert eigenständiges Handeln der Postkolonialen in Ökonomie und Politik und stärkt Souveränitätsbestrebungen als Grundhaltung.

Der neue, globale „Scramble for Africa“, in Anlehnung an den kolonialen Wettlauf im Kontext der Berliner Konferenz 1884/85, ermöglicht dem Zielkontinent neue Bedingungen bei der Partnerwahl. Die internationalen Zusammenschlüsse der Länder des Südens, deutlich erkennbar in den expandierenden Wirtschaftsbündnissen BRICS und der „Gruppe der 77“, in deren 134 Mitgliedstaaten nahezu 80 Prozent der Weltbevölkerung leben, widersetzen sich recht erfolgreich dem angeschlagenen unipolaren Herrschaftskonzept.

Der Norden scheint dem kein adäquates Mittel entgegensetzen zu können. Mit den USA als Führungsmacht eskaliert er im Gegenteil daraus erwachsende Konflikte. Als Konsequenz rüstet er militärisch in bisher ungeahnten Maßstäben auf – Ausgang offen wie auch die Frage, ob der Imperialismus als aggressives Profitsystem grundsätzlich überhaupt dazu in der Lage ist, globale Beziehungen auf Augenhöhe zu praktizieren. Sämtliche staatlich ausgerichteten Entwicklungskonzepte der Vergangenheit wie das jahrzehntelang großspurig propagierte Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“ oder andere Projekte der „Entwicklungshilfe“ zumindest sind unter neokolonialen, paternalistischen Vorzeichen kläglich gescheitert.

140 Jahre Unterdrückung

In Lumumbas reichem Land am Kongo-Fluss, das mit seiner Kolonisierung vor über 140 Jahren ins Verderben geschleudert wurde, leben heute annähernd 100 Millionen Menschen. Zwei Drittel von ihnen oder mehr kämpfen jeden Tag ums Überleben. Für sie sind Hunger, Armut, Bildungslosigkeit, Unsicherheit, Zukunftslosigkeit Alltag. Ihr Durchschnittseinkommen liegt bei täglich zwei Dollar. Warum gehört eines der reichsten Länder der Erde zu den weltweit zwölf ärmsten? Warum hat das wasserreichste Land Afrikas kaum Wasser?

Die vormaligen Kolonialstaaten behaupten wie einst Baudouin I. in seiner fatalen Rede 1960 in Élisa­beth­ville, der Kolonialismus sei nunmehr historisch. Sie selbst seien keine kolonialen Mächte, sondern hätten dem Globalen Süden die Unabhängigkeit gewährt. Wenn überhaupt, seien die Verhältnisse „postkolonial“. Im selben Atemzug bedienen sich „die Ehemaligen“ weiter ungeniert in jenen nun „unabhängigen“ Ländern oder vermarkten dort ihre subventionierten Waren und holen sich, weiterhin in den Fußstapfen ihrer Großväter, die Reichtümer aus dem in Armut verharrenden Süden. Derweil häufen sie unvorstellbare Reichtümer an, die jeden Menschen, der Zahlen lesen kann, vor allem deswegen erschaudern lassen, weil sich hinter der ungleichen Verteilung der Güter – Jahrhunderte nach der Idee von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – ein unfassbares Maß an Unrecht verbirgt.

Neuer Aufbruch

Ein selbstbewusst gewordener Kontinent befindet sich in einer neuen Phase der Wende weg von der neokolonialen Unterdrückung. Gerade von dieser aber profitieren immer noch und allzu oft, wie bereits während Lumumbas Wendeversuch 1960, Firmenimperien nördlich des Mittelmeers und westlich des Atlantiks, unterstützt meist von korrupten nationalen Eliten in den betroffenen Ländern.

Vor Ort erzeugen sie zudem immer deutlicher sichtbar werdende ökologische Schäden in gigantischem Umfang. Dieser Zustand wiederum erzeugt Fluchtbewegungen von Süd nach Nord, die längst zu einem Kennzeichen der derzeitigen Übergangsepoche geworden sind. Der Norden gedenkt sie militärisch zu bewältigen – und nicht etwa, wie es vernünftig wäre, durch eine echte Anerkennung des Rechts der Völker, über sich selbst zu bestimmen und ihre Potenzen frei zu entwickeln. Neben den kollektiv gemachten negativen Erfahrungen des Südens mit dem Norden gab es auch phasenweise gegenteilige Erlebnisse: So wirken die Erinnerungen an die Zeiten der Blockkonfrontation und die von einem solidarischen Grundgedanken gespeisten Bemühungen des europäischen und chinesischen Realsozialismus der Jahrzehnte vor 1990 nach. Nicht vergessen ist vor allem dessen Unterstützung der Befreiungsbewegungen.

Nach seinem Tod, nach seiner Ermordung,

wird Lumumba für die Kolonialisten eine größere Gefahr bedeuten als zu seinen Lebzeiten.

Aimé Césaire

„Die modernen Beziehungen“, so Cobus van Staden vom South African Institute of International Affairs (SAIIA), „gehen auf den antikolonialen Kampf Afrikas und die Bildung der blockfreien Bewegung in Bandung (Indonesien) im Jahr 1955 zurück.“ So sei Peking ein wichtiger Lieferant von Infrastruktur, unter anderem Bahnanlagen, für Afrika gewesen. „Und sie gab einen Vorgeschmack auf Chinas Selbstverständnis als eine Macht mit einer globalen Agenda – eine, die Afrika mit einbezieht.“ Im Jahr 2000 wurde die Beziehung durch das Forum für die Zusammenarbeit zwischen China und Afrika (FOCAC) formalisiert. „China wurde schnell zu einem wichtigen Infrastrukturbetreiber auf dem Kontinent und 2009 zu seinem größten Handelspartner.“

Ein Megadeal

Trotzdem liegen bei den Investitionen die USA (45 Milliarden US-Dollar) sowie die drei europäischen Ex-Kolonialstaaten Britannien, Frankreich und die Niederlande im Ranking vorn. „Firmen und Investoren aus dem Vereinigten Königreich investierten 60 Milliarden US-Dollar, französische und niederländische Firmen und Investoren kamen jeweils auf 54 Milliarden US-Dollar.“ Auch wenn folglich Peking weniger investieren mag, wirkt allein schon die Existenz verschiedener Pole in der Weltpolitik wegen des Konkurrenzverhältnisses der Bewerber und vor allem wegen deren gegensätzlichen Konzepten anregend.

Spektakulärstes Beispiel dafür, mit welcher Macht unter anderem der Internationale Währungsfonds (IWF) als globaler Wirtschaftslenker des Kapitals gegensteuert, ist die Demokratische Republik Kongo (DRK). So war im Herbst 2007 der Megadeal zwischen ihr und der Volksrepublik China bereits nahezu unter Dach und Fach, als der IWF seine Daumenschrauben anlegte und ein bis dahin einmaliges Joint Venture stoppte. Beteiligt daran waren drei chinesische Firmen mit 68 Prozent und das kongolesische Minenunternehmen Gécamines mit 32 Prozent.

Das Geschäft umfasste die Förderung von zehn Millionen Tonnen Kupfer und 600.000 Tonnen Kobalt einerseits. Dafür würde die neue Gesellschaft neun Milliarden US-Dollar in die Infrastruktur investieren: ein Drittel zur Wiederherstellung der Minen, zwei Drittel in Verkehrswege – Straßen- und Eisenbahnnetz, Flughäfen – sowie die Errichtung von 31 Krankenhäusern, 145 Gesundheitszentren, 5.000 Sozialwohnungskomplexen, zwei Wasserkraftwerken und zwei Universitäten. China würde das benötigte Geld zunächst einmal vorstrecken, so dass das Projekt direkt hätte in Angriff genommen werden können.

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Der Kongo ist eines der rohstoffreichsten, aber auch ärmsten Länder der Welt. Wolframit in der Hand eines Bergarbeiters. (Foto: Julien Harneis / Wikipedia / CC BY-SA 2.0 Deed / Bearb.: UZ)

Der Vertrag sei das wichtigste Dokument für den Kongo seit Langem, hieß es, und in Folge würde das Land zu einer riesigen Baustelle werden, wobei alle Beteiligten profitieren würden. Der damalige Präsident Joseph Kabila hätte damit der durch anderthalb Jahrzehnte Krieg geschundenen und ausgemergelten Bevölkerung demonstrieren können, dass ihr der Reichtum an Bodenschätzen entgegen allen bisherigen Erfahrungen tatsächlich zugutekäme – anders als in den Jahrzehnten der Herrschaft von Mobutu Sese Seko (1965 bis 1997), dem „Leopardenmützenmann“, der als Handlanger westlicher Konzerne Land und Leute bis aufs Hemd ausgeplündert und im Laufe seiner Herrschaft die vorhandene Infrastruktur in allen Bereichen heruntergewirtschaftet und das Erbe Lumumbas mit Füßen getreten hatte. Der Kongo war wie eine Zitrone ausgepresst worden. 13 Milliarden US-Dollar Schulden hatten sich während der Mobutu-Diktatur im Norden angehäuft – auf die ebenfalls genannten vier Milliarden Dollar schätzte die CIA bereits Ende der 1980er Jahre das Privatvermögen des „Königs der Diebe“. Jean Ziegler meinte 1997, allein auf Schweizer Konten hätte der Mobutu-Clan vier Milliarden US-Dollar gebunkert.

Die alten Herren

Nun aber stieg China ein, wollte zwar auch an die Schätze in den Provinzen Katanga und Kivu, versprach dafür jedoch offenbar sinnvolle Entwicklung. Mit dem Deal war Peking zugleich auf gutem Wege, eine politökonomische Konzeption für die Beziehungen zum afrikanischen Kontinent insgesamt zu etablieren, die für den Bruch mit den neokolonialen Abhängigkeiten hätte stehen können. Folgerichtig gerieten die prowestlich ausgerichteten Organisationen IWF und Weltbank in Panik und veranstalteten einen Kassensturz, dessen Ergebnis dazu diente, den kongolesisch-chinesischen Vertrag auszuhebeln.

Der IWF führte gegenüber Kinshasa nun die Auslandsschulden, über ein Jahrzehnt nach Sturz ihres Verursachers Mobutu, ins Feld und sicherte sich so seinen Einfluss auf das an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gedrängte Land: Neun der 13 Milliarden Dollar könnten gestrichen werden, wenn – so eine der Bedingungen – der Vertrag mit China revidiert würde. Kinshasa blieb keine Wahl. Ein neues Abkommen von wesentlich geringerem Umfang wurde mit Peking ausgehandelt. Der Nutzen hielt sich in Grenzen.

Westliche Werte

Heute ist der Kongo weiter ein instabiles Land, wie eh und je bedient sich eine parasitäre Schicht selbst, und ein ganz kleiner Teil der Elite lebt in Luxus. Trotz Wahlen, wechselnder Personen in der politischen Führung im parlamentarischen System des Landes sowie vollmundig ausgerufener Reformvorhaben hat sich, im Gegensatz zu antikolonialen Tendenzen in anderen Teilen des Kontinents, wenig Positives getan. 27 Millionen der rund 100 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner sind nach Angaben der Vereinten Nationen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mehr als sechs Millionen Menschen waren Mitte 2023 innerhalb des Kongo auf der Flucht. Ob die MNC als Partei Lumumbas, unter Mobutu verboten, 1992 neu gegründet und heute unter Leitung von Patrice Lumumbas ältestem Sohn, eine wichtigere Rolle einnehmen kann und unter welchen programmatischen Inhalten, lässt sich nicht vorhersagen.

Als 2022 in Brüssel Lumumbas Goldzahn seinen Nachkommen überreicht wurde, war dem grotesken Vorgang eine heuchlerische Zurschaustellung kolonialer Schuld vorausgegangen: Belgiens König Philippe brachte zwar „tiefstes Bedauern über diese Wunden der Vergangenheit“ zum Ausdruck, ging aber nicht so weit, sich formell zu entschuldigen. Er bot auch keine Reparationen für die Verwüstungen an, die Belgien im Kongo angerichtet hat. Deutlich wurde lediglich, „dass die ehemaligen Unterdrücker den Kongo trotz angeblicher ‚Dekolonialisierung‘ noch immer fest im Griff haben“, so das Magazin „Jacobin“.

Nachwirkungen

Die Einflussnahme reduziert sich keinesfalls auf aktualisierte Relikte und deren Ableger aus vergangenen Zeiten. Die Herrschaft hat weitere Formen entwickelt, mit denen sie auftritt: einerseits in bewährter, in ein postkoloniales Gewand gekleideter Gestalt als Ausplünderer der Schatzkammern und als Ausbeuter der Menschen, die ihr die Schätze heben. Andererseits als seit Langem verantwortlicher Umwelttäter, der seine Allmacht seit Beginn der Industrialisierung auf eine Produktionsweise baut, die zerstörerisch auf die Natur wirkt. Deren ökologische Folgen treffen mit dem Globalen Süden jene Regionen der Erde besonders, die sie nicht verursacht haben. In der Klimakrise, deren zukünftige Folgen noch unabsehbar sind, sich aber gehäuft andeuten, befinden sich zwar, frei nach Greta Thunberg, alle im Sturm, aber nicht alle im selben Boot. Thunberg auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos im Januar 2019: „Einige Leute, einige Unternehmen, vor allem einige Entscheidungsträger haben genau gewusst, welchen unbezahlbaren Wert sie opfern, um weiterhin unvorstellbare Mengen Geld zu verdienen. Und ich glaube, viele von Ihnen, die heute hier sind, gehören zu dieser Gruppe Menschen.“

Wie schon in der Vergangenheit der Kolonialreiche, als die Arbeiter in den Werkstätten der kapitalistischen Industrie die im Süden geraubten Güter zwar veredeln durften, aber nicht von ihrer Arbeit profitierten und sich häufig auch viele der geraubten Kolonialwaren nicht leisten konnten, wuchsen die Vermögen der Herrschenden ins Unermessliche. Die Grenzen verliefen schon damals nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Arm und Reich.

Zugleich lebt der Globale Norden – also im Wesentlichen die ehemaligen Kolonialstaaten – auch ökologisch auf Kosten des Südens, der heute die schwersten Folgen des Klimawandels trägt. Die Länder mit den niedrigsten Werten von Treibhausgasen leiden am stärksten unter den Folgen der schädlichen Emissionen. Überkommene, als Neokolonialismus fortgesetzte Abhängigkeiten des Südens erweitern sich um die ökologische Variante. Die neuen kolonialen Grenzen der Ökologie verlaufen nicht nur zwischen Nord und Süd, Kontinenten und Klimazonen, sondern auch zwischen Betroffenen und weniger Betroffenen. Zudem sind die Betuchten unter den weniger Betroffenen materiell privilegiert und können sich von den Folgen wie Hitze, Waldbrände, Dürre, Orkane, Hurrikans, Monsune, Starkregen, Überflutungen, Polschmelze individuell freikaufen.

Lasten des Nordens

Die von Menschen gemachte, von der kapitalistischen Produktionsweise herausgeforderte Klimakrise ist überall spürbar – mit fatalen Auswirkungen auf die Ernährungslage, insbesondere in Ländern des Globalen Südens. Bis zu 828 Millionen Menschen hungern weltweit. Die Folgen der Klimakrise sind zu zentralen Ursachen für Hunger und Armut geworden. Die Zahl der Naturkatastrophen hat sich, bedingt durch den Klimawandel, seit 1990 mehr als verdoppelt. Die Anzahl der Menschen, die hungern, könnte aufgrund der Klimakrise bis zum Jahr 2080 noch um weitere 600 Millionen steigen.
Besserung ist nicht in Sicht: Prognostiziert wird unter anderem eine Verdoppelung der Zahl der Hungernden in Afrika und im Nahen Osten. Langfristig drohen auch immer dramatischere Folgen des Klimawandels für die Landwirtschaft, was den unerlässlichen Ausbau von Nothilfe erschwert.

Die Schäden durch Klimakatastrophen sind nicht nur für die Menschen und ihre Existenz verheerend, sondern verursachen auch erhebliche Kosten. Der individuelle Wasserstoffverbrauch im Süden ist um ein Vielfaches geringer als im Norden. Und innerhalb des Nordens ist der Fußabdruck des Einzelnen zwar relativ hoch, doch gibt es bei den Betroffenen weitere Differenzierungen: Manche sind, frei nach George Orwell, gleicher als andere.

Notwendige Umwälzung

Ökologie und Ökonomie sind eineiige Zwillinge. Der Globale Süden ist das Opfer einer untragbaren Weltordnung. Deren Verfasstheit erzeugt milliardenfaches Unrecht und verlangt nach Änderung: Patrice Lumumba geriet seinerzeit mitten in die Turbulenzen einer historischen Umbruchsituation. Es ging nicht mehr so weiter wie bisher, die unten wollten nicht mehr, die oben konnten nicht. Vorbereitet darauf waren beide nicht, und die oben zudem nicht bereit, die dringend notwendige Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse zuzulassen. Indem sie sich, ausgehend von den Brüsseler Runden Tischen 1960, an ihre Vergangenheit klammerten und nach Wegen suchten, für sich zu retten, was zu retten war, egal mit welchen Methoden, verbauten sie den Weg zu einer gerechten Ordnung – ökonomisch wie ökologisch.

Niemand weiß, wie der Kongo ausgesehen hätte, hätte sich Lumumba gegen seine übermächtigen Gegner durchgesetzt. Nach dem, was folgte und heute – mit fürchterlichen Konsequenzen für die gesamte Menschheit – fortgesetzt wird, ist lediglich eines klar: Lumumbas Gedanken sind aktueller denn je.

Gerd Schumann
Patrice Lumumba
Reihe Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie
PapyRossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, 12 Euro
Erhältlich unter uzshop.de

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"Lumumbas Ideen wirken nach", UZ vom 15. März 2024



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