Da hängt Hitler! Eindeutig zu erkennen baumelt er neben Mussolini, Göring, dem japanischen Kaiser Hirohito und Pierre Laval, dem Regierungschef des französischen Vichy-Regimes. Der Galgen der Faschisten ist ein riesiger Füllfederhalter. Ein Mann trägt ihn lässig wie eine Angel über der Schulter. Dieser Mann mit Brille, Zeichenmappe und dem verschmitzten Lächeln eines „tapferen Schneiderleins“ ist der Zeichner selbst: Walter Trier. Zu sehen ist die beschriebene Karikatur auf Seite 29 eines 2023 erschienenen Sammelbändchens von Triers „Karikaturen gegen die Nazis“ mit dem Titel „V FOR VICTORY“. Es zeigt den berühmten Illustrator von Erich Kästners Kinderbüchern von einer unbekannten und ungeahnten Seite – nämlich als Meister der antifaschistischen Kriegspropaganda.
Der Kinderbuch-Trier und Kriegspropaganda? Wie passt das zusammen? Ist das überhaupt vorstellbar? Wer Walter Trier nur von „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“, dem „Fliegenden Klassenzimmer“ oder dem „Doppelten Lottchen“ kennt, kann sich auf eine Überraschung gefasst machen: „V FOR VICTORY“ beweist Schwarz auf Weiß und in Farbe: Walter Trier konnte nicht nur Kinderbücher bebildern, und er war auch mehr als nur Erich Kästners kongeniales Alter Ego. Trier konnte es auch ohne Kästner mit den Nazis aufnehmen! Der nach dem Krieg mit dem Titel „The pen is mightier“ erschienene Sammelband seiner antifaschistischen Karikaturen wurde zu Unrecht vergessen.
Wer nun einen ganz anderen Trier erwartet, wird wieder verblüfft sein: Der Karikaturist Trier bleibt seinem Kinderbuchstil treu. Der unbeschwerte flotte Strich, das luftige Kolorit – alles ist typisch Trier. Der Unterschied ist „nur“, dass Trier hier keine heilen Kinderbuchwelten hervorzaubert, sondern die Nazigrößen entzaubert – wie der Witz, dass die arische Herrenrasse blond wie Hitler, schlank wie Göring und groß wie Goebbels sein soll. Der Flüsterwitz schreit nach einem Bild. Trier hat es realisiert („Der arische Typus“, S. 45). Die Botschaft ist ebenso simpel wie tiefsinnig: Der Rassenwahn ist Wahn! Das sieht jedes Kind auf den ersten Blick – nur völlig verblendete Erwachsene können das verkennen.
Trier wechselt nicht den Stil, sondern die Perspektive. Er blickt mit den Kinderaugen der Kinderbücher auf die unheilvollen „Heilsbringer“ der verblendeten Erwachsenen. Diesem Kinderblick imponiert kein Imponiergehabe. Für ihn ist der aufgetakeltste Nazibonze ebenso nackt wie der Kaiser in „Des Kaisers neue Kleider“. Unverkennbar zum Vorschein kommt dieser Blick in der „Anziehpuppe Göring“ auf Seite 55. Mit Marschallstab posiert sie in Unterwäsche, umgeben von prunkvollen Uniformen und Kostümen sowie einer grotesken Anzahl von Orden.

Triers Nazigrößen sind Witzfiguren, die dem eigenen Größenwahn nicht ansatzweise gewachsen sind. Mit ihren verzweifelten Versuchen, dem eigenen Wahn gerecht zu werden, machen sie sich selbst nur noch mehr zum Gespött. Von ihnen wollte sich Trier seinen Humor am allerwenigsten nehmen lassen. Seine Karikaturen sind Siege – nicht zuletzt auch über die eigene Verbitterung und Verzweiflung. Wahre Größe gesteht Trier den Nazis niemals zu – nicht einmal in ihren Verbrechen. Auch Brecht hat sich geweigert, Hitler einen „großen Verbrecher“ zu nennen und sprach stattdessen von einem „Verüber großer Verbrechen“. Er fürchtete die falsche kleinbürgerliche Ehrfurcht vor „der Größe“, die auch im negativen Führerkult weiterlebt.
Wahre Größe schafft Zufriedenheit. Der faschistische Größenwahn ist unersättlich. Den Spiegel dieser Unersättlichkeit hält Trier 1942 dem „größten Feldherrn aller Zeiten“ vor – mit der Karikatur „Hitler träumt von England“ (S. 45). Sie zeigt den mit verschlungenen Ländern heillos überfressenen Hitler, wie er vom eigenen Riesenbauch hilflos in den Sessel gedrückt wird. Der winzige Kopf über diesem Bauch blickt bange auf die über ihm schwebende britische Insel. Der Karikatur-Hitler ahnt offensichtlich, was der echte Hitler nicht wahrhaben will: Dieser „Nachtisch“ ist für ihn viel zu mächtig!
Der faschistische Größenwahn wäre ein einziger Witz, wenn er nicht unermessliches Unheil über die Welt gebracht hätte. Kann die Karikatur dieses Unheil in den Blick nehmen, ohne jeglichen Witz einzubüßen? Trier gelingt auch das – am besten in einer Karikatur auf Seite 52. Sie zeigt den Feldherrn Hitler mit einem vom eigenen Scheitel überschatteten Auge, der auf ein endloses Heer von Grabkreuzen blickt. Das Bild trifft ins Schwarze. Aber wo ist der Witz? Er hat sich in den Untertitel geflüchtet: „Lebensraum im Osten“.
Triers Karikaturen gegen die Nazis waren nicht nur im übertragenen Sinn Waffen. Sie waren Bestandteil der vom britischen „Informationsministerium“ gesteuerten psychologischen Kriegsführung gegen Nazi-Deutschland. Ihr Ziel war die Schwächung des Feindes durch Demoralisierung. Für diese eigenartige Kriegführung wurde sogar ein eigener Bombentyp entwickelt: die „Monroe-Bombe“. Sie war ein Behälter mit einem barometrischen Zünder, der kurz vor dem Aufprall detonierte, so dass sich das Propagandamaterial über dem anvisierten Ort verteilen konnte. Vielleicht war auch Triers V-Flyer dabei, dem „V FOR VICTORY“ Titel und Titelbild verdankt. Der als Nachdruck in Originalgröße beigelegte Leporello wurde wahrscheinlich 1941 produziert. Sicher ist nur, dass er gedruckt wurde. Er ist unverkennbar Triers Beitrag zur britischen V(ictory)-Kampagne.
Das V avancierte 1941 zum Markenzeichen der britischen Kriegspropaganda. Sie setzte nun voll auf „Sieg“. Die Gewissensappelle an die „guten Deutschen“ hatten ausgedient. Das V wurde allgegenwärtig – von Churchills gespreizten Fingern bis zur Erkennungsmelodie der BBC-Programme: den ersten vier Klängen von Beethovens fünfter Symphonie. Kurz – kurz – kurz – lang ist das V im Morsealphabet. Am 14. Januar 1941 hatte der ehemalige belgische Justizminister Victor de Lavaleye im BBC-Sender „Radio Belgique“ den Buchstaben V als gemeinsamen Code für das französische „Victoire“ und das flämische „Vrijheid“ propagiert. Er forderte seine Landsleute auf, das V überall hinzuschreiben. Denn „der Besatzer, wenn er dieses immer gleiche, unendlich wiederholte Zeichen sieht, versteht, dass er von einer Masse von Bürgern umringt ist, die ungeduldig auf seinen ersten Moment der Schwäche, seinen ersten Fehler wartet.“

Triers V-Flyer führt diese Demoralisierungsstrategie bilderbuchmäßig in zehn Bildern vor Augen. Der hier vom V verfolgte „Besatzer“ ist Hitler selbst. Die wiederholte Konfrontation mit dem V treibt ihn regelrecht in den Verfolgungswahn. Im dritten Bild sieht er das V bereits in jedem fliegenden Vogel. Trier braucht drei Bilder, um den furchtbaren Führer als fürchterlichen Angsthasen vorzuführen. Schon hier zeigt sich der Meister des Bildwitzes. Aber Trier ist noch lange nicht am Ende. Er beherrschte die angelsächsische Kunst des „stair joke“, des Treppenwitzes. Und so geht es weiter: Hitler versucht seinen V-Wahn mit Humor zu nehmen und zeigt Göring belustigt das V in seiner Gesäßfalte. Doch schon im nächsten Bild vergeht ihm das Lachen, als ihm der erboste Göring das V auf seinem Rücken zeigt. Im sechsten Bild wird der verstörte Führer sogar bei Tisch in der Anordnung des Bestecks, der Blumen und der Würstchen vom V heimgesucht. Anders als im dritten Bild mit den Vögeln spielt ihm hier nicht nur seine Einbildung einen Streich. Die V-Tischdekoration dürfte kein Zufall sein. Die Wirklichkeit hat sich dem Verfolgungswahn schon bedrohlich angenähert.
In den nächsten drei Bildern ist diese Nähe schon so groß, dass die Unterscheidung zwischen Wahn und Wirklichkeit unwichtig geworden ist. Was soll die V-Formation der britischen Bomber, die Hitler von seinem Fenster aus betrachtet, bedeuten? Die Frage ist müßig angesichts der Bomben, die sie abwerfen. Von Panik ergriffen rennt Hitler in den Luftschutzkeller. Sieht er das V an der Wand und am Pfeil, der nach unten zeigt? Die Frage kann offen bleiben. Im neunten Bild sitzt Hitler völlig verzweifelt auf seiner Pritsche im Bunker. Er hält sich die Ohren zu und stiert auf den Boden. Er sieht nicht die dicken V-Balken, die bedrohlich von der Decke ragen und auch nicht ihre Schatten an der Wand. Die Demoralisierung ist perfekt. Aber Trier kann sie immer noch steigern.
Erst im zehnten Bild ist Schluss mit lustig. Die massiven V-Balken sind vom bedrohlichen Vorzeichen zum echten Verhängnis geworden. Sie haben nun einen Haken. Und an diesem Haken – da hängt Hitler!
Walter Trier
V for Victory
Favoritenpresse, 86 Seiten plus Leporello, 15 Euro
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