Auch sieben Monate nach der Parlamentswahl gibt es noch keine Regierung

Irak vor neuen ­Massenprotesten

Sandstürme, Trockenheit und Infektionskrankheiten plagen den Irak. Doch mehr als unter diesen biblischen Plagen leidet das Land unter dem Erbe der US-Besatzung, unter Korruption und der Aufteilung der Macht unter ethnische und religiöse Netzwerke. Dies führt immer wieder zu Problemen bei der Regierungsbildung. Und so ist auch jetzt, sieben Monate nach den Parlamentswahlen im Oktober 2021, der Irak noch immer ohne eine neue Regierung. Mitte Mai gab die stärkste Fraktion von Muqtada al-Sadr den Versuch auf, den Ministerpräsidenten zu stellen.

Das Wahlergebnis vom Oktober 2021 war lange Zeit umstritten. Ein neues Wahlrecht hatte nicht so sehr die Parteien mit dem größten Stimmenanteil bevorzugt, sondern diejenigen, die am besten organisiert waren und ihre Kandidaten gezielt aufstellen konnten. Wahlsieger waren vor allem die Strömung von al-Sadr, die 19 Sitze hinzugewann und damit über 73 Abgeordnete verfügt, sowie die kurdische KDP unter Masud Barzani, die 6 Sitze hinzugewann und 31 Abgeordnete stellt. Sie wollen eine Regierung bilden, die sich auf ihre Abgeordneten stützt.

Zu den Verlierern der Wahl gehören Parteien wie die Fatah-Allianz, die 31 Sitze verloren hat. Sie umfasst vor allem Gruppen, die sich auf Milizen der Volksmobilmachungskräfte stützen und dem Iran nahestehen. Sie streben eine Einheitsregierung an.

Für al-Sadr war es ein historisches Ergebnis: Nie zuvor seit der US-Invasion hatte eine Partei 73 Sitze gewonnen. Doch reichte auch dieses Ergebnis nicht, mit anderen Parteien zusammen die Hürden für die Wahl eines Ministerpräsidenten zu überspringen.

Jetzt soll eine Gruppe von rund 40 unabhängigen Abgeordneten eine Regierung bilden. Dieser Gruppe wird keine große Chance eingeräumt.

Solange es keine neue Regierung gibt, bleibt die bisherige Regierung im Amt. Al-Sadr und seine Verbündeten haben damit kein Problem. Ihr Einfluss im Parlament reicht aus, Gesetze zu verabschieden. Die Opposition ist lediglich in der Lage, über einen Boykott von Parlamentssitzungen Verzögerungen zu erreichen.

Al-Sadr und seine Organisation wollen ihre Position vor allem ausnutzen, um Posten in Parlament und Regierung neu zu besetzen und ihren Einfluss weiter zu stärken. Zwei Jahrzehnte lang, so der Vorwurf, hätten Kräfte, die vom Iran unterstützt werden, hochrangige Posten dominiert. Dies soll sich jetzt ändern.

Doch die Probleme bestehen weiter. Tausende Menschen müssen während der zunehmenden Sandstürme – seit Mitte April waren es acht – im Krankenhaus beatmet werden. Trockenheit und zu niedrige Wasserstände von Euphrat und Tigris bedrohen die Landwirtschaft, insbesondere den Reisanbau.

Einen kulturellen Lichtblick bietet eine Künstlerin wie Wijdan al-Majed, die im Auftrag des Bürgermeisters Wandgemälde auf Betonmauern in Bagdad anbringt und dabei Künstler und Dichter porträtiert – von der Architektin Zaha Hadid bis hin zum Soziologen Max Weber. Das Besondere dabei: Die konservative irakische Gesellschaft musste sich daran gewöhnen und die Arbeiten der Künstlerin akzeptieren.

Die Wahlen vom Oktober 2021 waren vorgezogen und ein Zugeständnis an die Protestbewegung von 2019. Damals gab es Massenproteste gegen Korruption und ein System, das über Milliarden US-Dollar an Öleinkünften verfügt, aber nicht fähig ist, eine funktionierende Infrastruktur zu schaffen.

Die UN-Gesandte für den Irak, Jeanine Hennis-Plasschaert, betonte am Rande einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats, die Verzögerung der Regierungsbildung könnte neue Massenproteste hervorrufen. Die Stimmung im Land sei kurz vor dem Überkochen.

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"Irak vor neuen ­Massenprotesten", UZ vom 27. Mai 2022



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