Waldai-Club diskutiert neue Prinzipien internationaler Beziehungen

Konzepte für eine multipolare Zukunft

Das 20. Jahrestreffen des Waldai-Clubs vom 2. bis 5. Oktober in Sotschi war eine viertägige geoökonomische und geopolitische Großveranstaltung, an der 140 Fachleute, Politiker und Diplomaten aus 42 Ländern teilnahmen. Der Waldai-Club begreift sich als Stätte des internationalen Meinungsaustausches. In den Worten Wladimir Putins: „Die Waldai-Diskussionen haben stets die wichtigsten globalen politischen Prozesse in ihrer Gänze und Komplexität reflektiert.“

Wie immer kam der größte Teil der Teilnehmer aus dem Ausland. Unter der Überschrift „Faire Multipolarität: Wie ist Sicherheit und Entwicklung für jeden zu gewährleisten“ waren zahlreiche Fachbeiträge (Waldai-Papers) von internationalen Autoren verfasst worden, gab es eine breite Palette von Foren und Diskussionsgruppen, an denen hochrangige Experten wie Außenminister Sergej Lawrow, Energiefachmann Alexander Nowak, Eurasien- und BRICS-Experte Alexei Overchuk oder Präsidentenberater Maxim Oreschkin teilnahmen. Schließlich, gewissermaßen als Höhepunkt, erläuterte Russlands Präsident, Wladimir Putin, die Sicht des Kreml auf die weitere Entwicklung.

Putin rekapitulierte noch einmal die Entwicklung der letzten 20 Jahre, die in etwa auch der Dauer seiner Regierungszeit entspricht. Seine Versuche, sich mit dem Westen ins Benehmen zu setzen – und sein Scheitern bei diesem Unterfangen. Ein Scheitern, welches letztlich in den vom Westen ausgelösten hybriden Krieg über das volle Spektrum mündete. Putin machte noch einmal den mühsamen Lernprozess der russischen Führung deutlich, die erst langsam begreifen musste, dass es hier nicht um vergangene ideologische Positionierungen geht, sondern um geopolitische Hegemonie. Dass Russland, aber auch China und zunehmend selbst Europa für die USA zum Gegner, ja sogar zum Feind geworden sind, weil sie den Herrschaftsinteressen Washingtons im Wege stehen.

Die Dialektik des Ukraine-Konflikts hat eine rapide Beschleunigung einer Gegenbewegung zu den Unterwerfungsansprüchen und zur Kriegspolitik der US- und NATO-Kräfte eingeleitet. Vor allem im BRICS-Aufbau- und Erweiterungsprozess zeigt sich die hohe Attraktivität alternativer, von den Kommandos Washingtons unabhängiger internationaler Strukturen. Das Waldai-Motto wirft die entscheidende und enorm komplizierte Fragestellung auf, vor der die Staaten Eurasiens und des Globalen Südens stehen: Wie können Sicherheit und Entwicklung für alle gewährleistet werden? Man hat einen mutigen Schritt getan und begonnen, sich aus den Fesseln des US-Imperiums zu lösen. Damit ist es allerdings nicht getan – hier ist Neuland zu beackern. Widersprüche, Konflikte, Rückschläge sind nahezu unvermeidlich. Putin und die Teilnehmer der Waldai-Diskussion versuchten, Prinzipien zu diskutieren, anhand derer „faire Multipolarität“ gelingen könnte.

Am 15. März hatte Chinas Präsident Xi Jinping die „drei großen Initiativen“ vorgestellt, die den Prozess der Belt and Road Initiative gewissermaßen erweitern und vertiefen sollen: die globalen Initiativen für Zivilisation, für Entwicklung und für Sicherheit. Wladimir Putin, die Waldai-Diskussion, so scheint es, haben nun das Thema Zivilisierung aufgenommen und zu einem eigenen Konzeptansatz entwickelt.

Im von Putin ausgedrückten Verständnis gibt es viele Zivilisationen. Keine sei der anderen über- oder unterlegen. Sie seien gleichwertig, da jede ein eigener Ausdruck der Kultur, der Traditionen und des Strebens ihrer Menschen sei. Eine in staatliche Strukturen gefasste Zivilisation umfasse – gewissermaßen als Schlüsselkomponenten – Diversität und Selbstständigkeit. Jeder Staat und jede Gesellschaft strebe danach, ihren eigenen Entwicklungsweg zu erarbeiten, der in Kultur und Traditionen verwurzelt sei und geprägt von der Geografie und den historischen Erfahrungen, sowohl den alten als auch den modernen Werten, sowie auch von denen, die von seinen Menschen bewahrt würden.

Putins (wie auch Xis) Ansätze, die hier naturgemäß nur angedeutet werden können, erlauben nicht nur einen pragmatischen Umgang miteinander im Sinne einer Abkehr von der „wertebasierten“ Repressionspolitik des US- und NATO-Blocks, sondern es lässt sich mit ihnen auch ein großer zivilisatorischer Gewinn von historischen Dimensionen entdecken und entwickeln. Nach 500 Jahren europäisch-nordamerikanischen Überlegenheits- und Dominanzstrebens nun ein friedliches, respektvolles Miteinander, das Diversität als Bereicherung begreift – ein geradezu revolutionärer Gedanke. Inwieweit er in einer Welt, die von der Profitmaximierung des Großen Geldes beherrscht wird, Bestand haben kann, wird man sehen müssen.

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"Konzepte für eine multipolare Zukunft", UZ vom 13. Oktober 2023



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