Ein Meisterwerk aus Belgien

Kraft und Leid der Jugendzeit

„Kommst du eigentlich auch noch mal nach Hause?“ wird im Vorbeiradeln der 13-jährige Léo von seiner Familie gefragt, die seine Mithilfe bei der Arbeit auf ihren großen Blumenfeldern gut gebrauchen könnte. Der schickt lachend ein kurzes „Ich übernachte bei Rémi!“ zurück und radelt mit seinem Klassenkameraden und engsten Freund weiter zu dem Bauernhaus, in dem Rémi mit seiner liberal denkenden Mutter Sophie und deren Partner lebt. Die zwei Jungs sind die Hauptfiguren in „Close“, dem zweiten Spielfilm des 31 Jahre jungen Belgiers Lukas Dhont, und der vieldeutige Titel – „close“ kann „eng vertraut“, aber auch „verschlossen“ heißen – gibt der Beziehung der beiden eine Unbestimmtheit, die bis zum Schluss die Spannung hält.

Im kindlichen Spiel in einer verlassenen Hütte sehen sie sich im Kampf mit fremden Mächten, träumen von Rémis Weltkarriere als Oboist – natürlich mit Léo als seinem erfolgreichen Manager – und verbringen im Unterricht wie in der Freizeit möglichst jede Minute miteinander. Neugierige Fragen von Mitschülerinnen steckt der sensible Rémi stumm weg, Léo zeigt sich zunehmend genervt – bis der Übergang auf eine höhere Schule das Mobbingproblem dramatisch verschärft: Beim Klassenausflug ans Meer fehlt Rémi und bei der Rückkehr erfährt Léo von seiner weinenden Mutter Nathalie, was man den anderen in der Turnhalle sagt: Rémi hat sich umgebracht. Ein Schock, der manchen Kritikern in Cannes 2022 nach 45 Filmminuten offenbar die Stimme verschlagen hat; sie warfen den tränenreichen Bildern ein falsches Spiel mit Emotionen vor und würdigten die restliche Stunde keiner Zeile mehr.

Ähnlich wie 2018 für Dhonts Erstling „Girl“ war auch für „Close“ der Erfolg in Cannes nur der Beginn eines beispiellosen Preissegens; bis heute hat er 29 Preise weltweit gewonnen und gilt als heißer Anwärter auf den bevorstehenden Auslands-„Oscar“. Man könnte das als verdiente Auszeichnung deuten für die erstaunlichen Qualitäten von „Close“ auf allen Ebenen. Das Drehbuch, das Dhont wie für „Girl“ wieder mit Angelo Tijssens schrieb, besticht mit einer präzisen Figurenzeichnung und der kenntnisreichen Schilderung der belgischen Gesellschaft. Dazu kommt eine erfrischend neue Dramaturgie, die geschickt auch Wiederholungen einsetzt und in Frank van den Eedens kluger Bildgestaltung und der angemessen diskreten Musik von Valentin Hadjadj die passende Ergänzung findet. Aus der gelungenen Besetzung verdienen Léa Drucker als Léos Mutter Nathalie und Émilie Dequenne als Sophie besondere Erwähnung; in ihren Rollen spiegelt sich am Klarsten die unterschiedliche Sozialisation der beiden Familien – also jener Aspekt, der dem Suizidfall das Spektakuläre nimmt und ihn in die Alltäglichkeit des ländlichen Lebens zurückordnet.

In Erinnerung bleiben wird „Close“ aber vor allem wegen der Entdeckung zweier hochtalentierter Jungdarsteller, denen man schon jetzt eine große Karriere vorhersagen darf: Eden Dambrine als Léo und Gustave de Waele als Rémi. Wie die beiden so unterschiedlich veranlagten auf ihren Rädern durch Landschaft jagen, sich im Bett wie junge Hunde balgen, aber zugleich sich wortlos verstehen, bis den etwas bodenständigeren Léo die Lockungen der „Normalität“ einzufangen beginnen – das ist mit einer Genauigkeit und Überzeugungskraft gespielt, die so wohl nur aus nicht professionellen Darstellern zu gewinnen ist. Alles in allem ein sehr „europäischer“ Film – was seine „Oscar“-Chancen hoffentlich nicht schmälert.


Close
Regie: Lukas Dhont
Im Kino


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Über den Autor

Hans-Günther Dicks (Jahrgang 1941), Mathematiklehrer mit Berufsverbot, arbeitet seit 1968 als freier Film- und Medienkritiker für Zeitungen und Fachzeitschriften, für die UZ seit Jahrzehnten.

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"Kraft und Leid der Jugendzeit", UZ vom 27. Januar 2023



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