Anfang des Jahres 1908 begann Lenin die Arbeit an dem Buch, welches als sein philosophisches Hauptwerk bezeichnet wird: „Materialismus und Empiriokritizismus“. Dieses ist – wie viele grundlegende Schriften des Marxismus – aus der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit falschen Theorien entstanden. Lenins Gegenstand der Kritik war eine bürgerlich-philosophische Strömung, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand: der Empiriokritizismus. Es gab auch im damaligen Russland Anhänger dieser Philosophie, darunter einige, die behaupteten, Marxisten zu sein. Sie versuchten den Materialismus aus dem Marxismus zu entsorgen. Lenin bezichtigte sie, einen „Feldzug gegen die Philosophie des Marxismus“ zu unternehmen.
Der Empiriokritizismus kam modern daher, er warf mit neuen Begriffen um sich und erhob den Anspruch, eine Philosophie zu sein, die die alten philosophischen Streitigkeiten, ja gar die Gegensätze von Materialismus und Idealismus überwinden könne. Lenin ließ sich in der Auseinandersetzung mit dieser Neuauflage einer „schlechten Modephilosophie“ (Friedrich Engels) nicht darauf ein, ihre Erscheinung als ihr Wesen zu nehmen. Seine Methode ist lehrreich. Er betonte die „Verdunkelung des Wesentlichen“, die solcherlei Philosophen mit der Erfindung neuer philosophischer „Ismen“ betreiben, und wie wichtig es sei, „den Kampf der beiden fundamentalen erkenntnistheoretischen Richtungen zu begreifen und klar darzustellen“. Er legte zur Bewertung dieser Philosophie den Maßstab der Grundfrage der Philosophie an und wies nach, dass der Empiriokritizismus nichts als alter – idealistischer – Wein in neuen Schläuchen ist.
Die Grundfrage der Philosophie, schrieb Engels 1888 in seinem Werk in Auseinandersetzung mit dem Philosophen Ludwig Feuerbach, ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein. „Seit der sehr frühen Zeit, wo die Menschen, noch in gänzlicher Unwissenheit über ihren eigenen Körperbau und angeregt durch Traumerscheinungen, auf die Vorstellung kamen, ihr Denken und Empfinden sei nicht eine Tätigkeit ihres Körpers, sondern einer besonderen, in diesem Körper wohnenden und ihn beim Tode verlassenden Seele – seit dieser Zeit mussten sie über das Verhältnis dieser Seele zur äußeren Welt sich Gedanken machen.“ Engels merkt an, die „große Grundfrage“ habe zwei Seiten. Erstens: „Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur?“ Zweitens: „Wie verhalten sich unsere Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unseren Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild der Wirklichkeit zu erzeugen?“ Den Maßstab der Grundfrage an die „neue“ Philosophie anlegend, stellte Lenin fest: Der Empiriokritizismus beantwortet die Grundfrage der Philosophie idealistisch, er nimmt das menschliche Bewusstsein für das Primäre und die Materie für das Sekundäre. Vor diesem Hintergrund wandelte sich die Auseinandersetzung mit dieser „neuen“ Philosophie in den alten Kampf der beiden „fundamentalen erkenntnistheoretischen Richtungen“.
Der Arbeiterphilosoph Joseph Dietzgen (1828 bis 1888), der häufig von Lenin zitiert wurde, schrieb 1869 in seinem Buch „Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit“: „Denken ist eine Funktion des Gehirns.“ Für Engels waren „Denken und Bewusstsein“ – so formulierte er es 1878 im „Anti-Dühring“ – „Produkte des menschlichen Hirns“. Ein Produkt ist landläufig bekannt als Ergebnis eines Prozesses – es geht aus einer Entwicklung hervor. Das höchste Produkt eines unvorstellbar langen evolutionären Prozesses ist das menschliche Gehirn. Auf diesem naturwissenschaftlichen Standpunkt steht der Materialismus. Die Materie – das Sein – ist das Primäre, aus dem sich das Bewusstsein, das Sekundäre, entwickelt hat. Aber Lenin warnte: Die Gegenüberstellung von Geist und Materie dürfe nicht „übertrieben“ werden. Die Gegenüberstellung sei notwendig, um die „Richtung der erkenntnistheoretischen Forschungen“ zu bestimmen. Sobald man jedoch die Grenzen der Frage nach der philosophischen Grundrichtung verlassen habe, wäre es ein „gewaltiger Fehler“, dem Physischen das Psychische schlicht gegenüberzustellen. Ein Materialismus, der sich dialektisch nennt, hat die Aufgabe, das wechselwirkende Verhältnis beider zu bestimmen.
Für den Materialismus sind Sinneswahrnehmungen, Empfindungen, Bewusstsein und Denken Abbildungen oder Widerspiegelungen der objektiv existierenden Außenwelt. „Das Bewusstsein spiegelt überhaupt das Sein wider – das ist die allgemeine These des ganzen Materialismus“, schrieb Lenin. Diese Abbildtheorie ist eine „Grundthese des Materialismus“. Es wäre aber falsch und verkürzt, Sinneswahrnehmungen und Denken in einen Topf zu werfen, „Abbilder“ oder „Widerspiegelung“ auf den Topf zu schreiben und sie nicht weiter zu untersuchen. Beides sind besondere Formen der Widerspiegelung, die sich zueinander verhalten. In den Grenzen der Frage des Verhältnisses von Denken und Sein und vor dem Hintergrund der Abgrenzung zum Idealismus ist es aber zunächst ausreichend, Bewusstsein und Sinneswahrnehmung als Abbilder oder Widerspiegelungen zu bestimmen, ohne sie und das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen, weiter zu untersuchen. In „Materialismus und Empiriokritizismus“ hob Lenin hervor, dass es idealistische Philosophen gab, die – wie Hegel – die Erkennbarkeit der Welt bejahten, und andere – er nannte Kant und Hume –, die sie verneinten. Die Trennlinie zwischen Materialismus und Idealismus verläuft also nicht in der Frage der Erkennbarkeit der Welt. Diejenigen, die die Erkennbarkeit der Welt bestreiten, behaupten, es gebe hinter den Erscheinungen der unendlichen Vielfalt der Materie ein „Ding an sich“, das nicht erkennbar sei. Sie ziehen eine Trennlinie zwischen den Erscheinungen und dem Wesen der Dinge, das sie mystisch „jenseits“ der Erscheinungen verorten. Lenin hielt dagegen: „Zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich gibt es keinen prinzipiellen Unterschied und kann es einen solchen nicht geben. Einen Unterschied gibt es nur zwischen schon Erkanntem und noch nicht Erkanntem.“ Diese Unterscheidung zwischen Erkanntem und noch nicht Erkanntem ist die Anwendung der Dialektik auf das Gebiet der Erkenntnistheorie. Hier müsse man „ebenso wie auf allen anderen Gebieten der Wissenschaft dialektisch denken, das heißt, unsere Erkenntnis nicht für etwas Fertiges und Unveränderliches halten, sondern untersuchen, auf welche Weise das Wissen aus Nicht-Wissen entsteht, wie unvollkommenes, nicht exaktes Wissen zu vollkommenerem und exakterem Wissen wird“. Die Formulierungen „vollkommener“ und „exakter“ statt „vollkommen“ und „exakt“ sind wichtig. Sie weisen darauf hin, dass der dialektische Materialismus die menschlichen Erkenntnisse für relative Wahrheiten hält, die immer genauer werden. Aber trotz ihrer Relativität enthalten sie „ein Element der absoluten Wahrheit“. Die absolute Wahrheit wiederum ist kein fertiger Zustand, der irgendwann erreicht ist; die absolute Wahrheit „setzt sich aus der Summe der relativen Wahrheiten in ihrer Entwicklung zusammen“.
Was ist der Maßstab, mit dem es zu bestimmen gelingt, ob dem menschlichen Denken Wahrheit zukommt? Eine Antwort darauf gab der junge Karl Marx 1845 in seiner 2. Feuerbachthese:
„Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.“
Marx war es, der das Kriterium der Praxis in die materialistische Erkenntnistheorie einführte.
Von der Raumfahrt über die Chemiefabrik bis hin zum Gemüseanbau: Die Richtigkeit des menschlichen Denkens ist tagtäglich in vielen Bereichen zu beobachten. Würde unser Denken nicht mit der objektiven Realität übereinstimmen, wäre Juri Gagarin nicht der erste Mensch im All gewesen und es könnten aus chemischen Stoffen keine Medikamente hergestellt werden, die Krankheiten heilen. In der „Herrschaft über die Natur“ zeigt sich ein tiefgehendes Verständnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten. Von einer Herrschaft über die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Gesellschaften sind wir hierzulande weit entfernt. Das würde eine Abschaffung des Privateigentums und zentrale Planung voraussetzen.
Die Abbildtheorie und die Aussage, dass die Materie dem Denken vorausgeht, nannte Lenin das Abc des Materialismus. Sie sind kein Alleinstellungsmerkmal der marxistischen Philosophie. Marx und Engels haben den Materialismus weiterentwickelt und vorwärtsgetrieben. Sie verbanden die „Abc-Wahrheiten“ mit der Dialektik und führten das Kriterium der Praxis ein. Und: Die beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus haben sich, wie Lenin betonte, „nicht bei der Wiederholung bereits gelöster erkenntnistheoretischer Fragen aufgehalten, sondern den Materialismus konsequent durchgeführt“ – ihr Augenmerk war darauf gerichtet, ihn auf die menschliche Gesellschaft auszudehnen.