Finanzmärkte ziehen eurokritische Regierung in Rom einem Anti-EU-Wahlkampf vor

Mattarellas taktischer Fehler

Von Lucas Zeise

Die Finanzmärkte wurden nervös, als das Regierungsprogramm veröffentlicht wurde. Sie wurden noch nervöser, als der Ministerpräsident der beiden populistischen Parteien, ein gewisser Giuseppe Conte, von Staatspräsident Sergio Mattarella akzeptiert worden war. Als es Mattarella aber ablehnte, den von Conte vorgeschlagenen Finanzminister, den bekannten Eurokritiker Paolo Savona, zu akzeptieren und als Conte den Auftrag zur Regierungsbildung sofort zurückgab, explodierten die Zinsen auf italienische Staatsanleihen. Der Konflikt um die Mitgliedschaft Italiens in der Eurozone und EU wurde von diesem Moment an offen geführt. Die „Fünf-Sterne-Bewegung“ warf dem Staatspräsidenten vor, den Finanzministerkandidaten der zu bildenden Regierung aus politischen Gründen abzulehnen, dem Wunsch der Euro-Mächtigen gegen den erklärten Willen der italienischen Wählerschaft und des gewählten Parlamentes zu widersprechen, damit seine Kompetenzen zu überschreiten. Neuwahlen wären das Resultat, bei denen der Verbleib Italiens in der EU zum beherrschenden Thema werden würde. Das war der GAU – der größte anzunehmende Unfall. Das wäre mehr als nur eine Eurokrise. Das könnte den Austritt Italiens, Gründungsmitglied der EU und (nach dem Austritt Britanniens) ihre drittgrößte Volkswirtschaft, aus der Eurozone bedeuten. Der Beginn des Endspiels um den Euro schien eingeläutet.

Die Märkte würden die Italiener lehren, bei der nächsten Wahl keine Populisten mehr zu wählen, sagte Haushaltskommissar Günther Oettinger. Er könnte recht haben. Zunächst aber brachten die Märkte Mattarella bei, dass er einen Fauxpas begangen hatte. Der erfahrene Politiker aus dem „Partito Democratico“ bemerkte, dass sein „überparteilicher“ Kandidat Carlo Cottarelli für das Amt des Ministerpräsidenten, ein jahrelanger Mitarbeiter und Ex-Direktor des IWF, eine „entschieden europäische“ Regierung nicht zustandebekommen und schon gar nicht einen Haushalt vom Parlament bestätigt bekommen würde, und widerrief deshalb seine Ablehnung des Herrn Savona. Der EU-Gegner sollte nun nicht mehr Finanzminister werden, sondern den neu geschaffenen Ministerposten des „Europaministers“ im Kabinettsrang erhalten. Die Parteiführer der „Lega“, Matteo Salvini, und der „Fünf Sterne“, Luigi di Maio, stimmten zu. Sie erhielten plötzlich den Segen Mattarellas als Minister für „Inneres“ und „Soziales“ und machten sich zusammen mit Professor Conte an die Regierungsbildung, die rasant gelang und den Präsidentensegen erhielt. Siehe da, die Aktien- und Anleihemärkte erholten sich. Aus Sicht der Finanzkapitalisten ist eine Regierung in Italien, die die EU ändern will, weit besser als ein Wahlkampf in Italien, in dem das Volk zum Ausdruck bringen kann, dass es die Eurozone, von Savona als „deutscher Käfig“ bezeichnet, verlassen will.

Die italienische Bourgeoisie hat viele Jahre lang die EU samt ihren neoliberalen Reformen begeistert mitgetragen. Der große, sich immer wieder erweiternde Binnenmarkt der EU war für viele Groß- und Kleinunternehmen Nord- und Mittelitaliens ein grandioses Absatzgebiet. Auch die gemeinsame Währung Euro wurde begrüßt. Die Einführung des Euro brachte den weiteren Vorteil günstiger, niedriger Zinsen. Die italienischen Kapitalisten nutzten außerdem den von Deutschland ausgehenden Druck in Richtung eines neoliberal schlank gemachten Staatshaushaltes, um wie anderswo in der EU die Sozialleistungen zu kürzen, die Löhne zu senken und damit die Kosten zu minimieren. Erst seit der großen internationalen Finanzkrise und Rezession 2007/08 wurden die italienischen Besonderheiten zum Hemmschuh. Die sehr aktiven, aber unterkapitalisierten Banken und der höher als anderswo verschuldete Staat wurden im von Deutschland aufgezwungenen Regime der Schuldenbremse und des Stabilitätspaktes zu Fesseln. Im staatsmonopolistischen System ist ein ökonomisch schwacher Staat für die Großbourgeoisie dieses Landes ein erheblicher Nachteil. Dass das über Jahrzehnte hinweg dominierende Industrieimperium Fiat der Familie Agnelli seit 2014 seinen steuerlichen Hauptsitz in Amsterdam und seine Verwaltung in London hat, ist außerdem mehr als nur ein symbolisches Auflösungszeichen der italienischen Großbourgeoisie.

Die Bürger und Wähler Italiens waren früher überzeugte Befürworter der EU und auch des Euro. Das hat sich in der Krise seit 2008 dramatisch geändert. Die Arbeiterklasse und ihre Gewerkschaften haben erfahren, dass die vom „Partito Democratico“ gestützten Regierungen explizit den Anweisungen aus Brüssel bei den „Reformen“ folgten. Im November 2011 ersetzten die EU-Granden den damaligen Ministerpräsidenten Italiens Silvio Berlusconi, der sich – aus typisch populistischen Gründen – weigerte, die Kürzung der Renten und andere antisoziale Maßnahmen sofort durchzuziehen, durch den Wirtschaftsprofessor Mario Monti. Die Begeisterung für Euro und EU ist der italienischen Bourgeoisie und übrigen Bevölkerung ausgetrieben worden. Sie hat offensichtlich keine Lust mehr darauf, von Berlin, Frankfurt und Brüssel aus regiert zu werden. Die Niederlage der „Demokraten“ und der Wahlsieg der Anti-EU-Parteien „Fünf Sterne“ und „Lega“ bei der Parlamentswahl im März waren die Konsequenz.

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"Mattarellas taktischer Fehler", UZ vom 8. Juni 2018



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