In der aktuellen Ausgabe der „Kommunistischen Arbeiterzeitung“ beantwortet Conny Renkl Fragen zu Lenins Imperialismustheorie. Der Text geht zurück auf eine Bildungsveranstaltung von DKP und SDAJ Stuttgart im April dieses Jahres, bei der Renkl referierte. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Text in redaktioneller Überarbeitung.
Frage: Welche Unterschiede gibt es zwischen dem Imperialismus von 1916 und dem aktuellen Imperialismus?
Bemerkenswert, dass der Begriff „Imperialismus“, dessen Zeitalter in bürgerlichen Geschichtsbüchern meist 1914 endet, inzwischen gehäuft von Leuten wie etwa dem ehemaligen Bundeskanzler Olaf Scholz verwendet wird, um nicht etwa deutsches Großmachtstreben, sondern um Russland zu charakterisieren, während „wir“ gleichzeitig „werte- und regelbasiert“, freiheitlich und demokratisch seien.
Bevor wir deshalb die Änderungen seit damals betrachten, wollen wir kurz festhalten, was unverändert, was strukturell gleich geblieben ist am Imperialismus.
- Die Basis des Imperialismus ist der Kapitalismus, das Privateigentum an Produktionsmitteln in der Hand von wenigen Kapitalisten, denen eine Masse von Arbeitern, Bauern und Kleinbürgertum gegenübersteht, die kein oder geringes Eigentum an Produktionsmitteln halten.
- Das Monopol ist das zentrale Produktionsverhältnis.
- Ökonomie und Politik werden durch das Finanzkapital/die Finanzoligarchie dominiert
- Die Welt ist unter die imperialistischen Großmächte aufgeteilt, der Kampf geht bei ungleichmäßiger Entwicklung der Monopole und Großmächte um die Neuaufteilung der Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Einflusssphären zur Sicherung von Monopolprofit.
Und nun eine Skizze der Änderungen im Imperialismus nach 1916.
Das Monopol als Produktionsverhältnis ist in neue Dimensionen gewachsen: Als Großbetrieb galt 1916, wer mehr als 50 Beschäftigte hatte – heute geht selbst die bürgerliche Statistik von mehr als 1.000 Beschäftigten aus. Weltweit sind heute drei bis vier Trusts dominant an der Spitze ihrer jeweiligen Branche.
Die Internationale Vergesellschaftung der Produktion und als Anpassung daran zur Sicherung der privaten Aneignung, zur Verteidigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, hat sich der staatsmonopolistische Kapitalismus mit flexibler Unterordnung des Staates unter die Monopole beziehungsweise die Monopolgruppen entwickelt.
Zur Aufteilung der Welt:
- Ausscheiden Russlands aus dem Kreis der imperialistischen Großmächte und über 70 Jahre Aufbau und Verteidigung des ersten sozialistischen Landes der Welt.
- Aufstieg des sozialistischen China trotz Isolierung durch Imperialismus und Sowjetunion (zwischen 1960 und 1985) auf der Grundlage des Kampfs gegen Revisionismus und Konterrevolution.
- US-Hegemonie gegenüber Frankreich und Britannien, Wiederaufstieg der besiegten imperialistischen Staaten Deutschland, Italien, Japan.
- Konterrevolution seit 1989 und Kollaps der Sowjetunion und der sozialistischen Länder in Europa.
- Aufteilung der ehemals sozialistischen Länder unter die imperialistischen Großmächte.
- Rekolonialisierungsbestrebungen durch die imperialistischen Großmächte (Golfkrieg, Jugoslawien, „War on Terror“)
- US-Hegemonie und Wegfall der Schranken für den Imperialismus („Globalisierung“) – Krisenhaftigkeit (2000, 2008), Terror, Kriege
- Entstehen von Gegenbewegungen im „Globalen Süden“ um den Kern der VR China und Russland.
- Kampf um die Neuaufteilung des „Wirtschaftsgebiets“, verschärft seit dem Konflikt in der Ukraine 2014.
Frage: Was sind die Ursachen des Krieges in der Ukraine und wie kann er beendet werden? Ist es ein gerechter und gleichzeitig ungerechter Krieg?
Der Ukraine-Krieg ist Ausdruck des Kampfs der imperialistischen Großmächte um die Hegemonie mit dem Ziel:
- Schwächung Russlands beziehungsweise Ausschaltung Russlands als starker Bündnispartner der VR China
- Aufteilung der Ukraine unter die imperialistischen Großmächte.
Russland ist kein imperialistisches Land, sondern ein postsozialistisches Land auf dem Weg der Transformation zu einem Land unter der Herrschaft einer neuen nationalen Bourgeoisie mit offenem Ausgang: kapitalistische Halbkolonie, imperialistische Großmacht oder wieder zurück zum Sozialismus.
Gerecht oder ungerecht? Es gilt immer zu fragen: von welcher Seite?
Russland führt einen gerechten Krieg. In der Ukraine besteht die Aufgabe der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten darin, das Kompradorenregime zu stürzen und die Imperialisten aus dem Land zu treiben.
Frage: Inwieweit ist der Imperialismus beziehungsweise sind die imperialistischen Eigenschaften von Ländern gebunden an ihre konkrete, historische Entwicklung (Überbau, Staat, politische Herrschaft)? Könnte etwa Brasilien imperialistisch werden?
Deutscher Imperialismus – dieser Begriff drückt einen Widerspruch aus. Der Imperialismus treibt aufgrund des Akkumulationszwangs der Monopole notwendig über die Nation hinaus (Waren- und Kapitalexport, Einflusssphären), insofern ist der deutsche Imperialismus auch nicht-deutsch, international.
So hat jede imperialistische Großmacht ihre besondere Prägung durch die nationale Herkunft. Der deutsche Imperialismus insbesondere: zu spät und zu kurz gekommen bei der Aufteilung der Welt im 19. Jahrhundert und geführt durch eine besonders feige, aber hochorganisierte Bourgeoisie und die erste Sozialdemokratie, die 1918/1919 eine Konterrevolution gegen die eigene Arbeiterklasse angeführt hat.
Die imperialistischen Großmächte sind seit dem Aufkommen von kapitalistischen Monopolen und Imperialismus relativ stabil. Gegenüber Lenins Aufzählung von sechs Großmächten war nach der Oktoberrevolution nur Russland ausgeschieden. Die restlichen sind heute zum Beispiel in den G7 versammelt (zusätzlich mit Italien und Kanada). Diese halten trotz relativ geringer Bevölkerung, Fläche und Rohstoffen Spitzenpositionen in der Weltwirtschaft.
Länder konnten und können zu imperialistischen Großmächten aufsteigen und aus dieser Liga absteigen – so zum Beispiel Frankreich nach der Besetzung durch Hitlerdeutschland 1940 oder Deutschland unter der Besatzung nach 1945-1949.
Die Führungsrolle der USA seit dem Zweiten Weltkrieg bezieht sich auf die Stellung gegenüber den anderen imperialistischen Großmächten und auf die Notwendigkeit der Niederhaltung der Sowjetunion und des Sozialismus. Nach der Niederlage 1989 sehen wir, wie die Großmächte über Russland und andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie die ehemaligen Volksdemokratien (einschließlich der DDR) herfallen. Es ist ein (ungeordneter, teilweise erbitterter) Kampf um die Neuaufteilung der Sowjetunion und Osteuropas.
Mit dem Aufstieg Chinas und der Konsolidierung Russlands ergeben sich aber auch neue Expansionsmöglichkeiten für den Imperialismus und neue Allianzen sind möglich.
Alle Länder, in denen kapitalistische Monopole entstehen, haben den Drang und den Zwang, über den nationalen Rahmen hinauszugehen (etwa die Konzerne Tata-Gruppe oder ArcelorMittal in indischem Besitz oder die brasilianische Konzerne Petrobras, Vale Inco, Grupo Votorantim, Novonor, Inbev mit engen Kartellabhängigkeiten bei Öl, Nickel, Bier) sind aber bis jetzt stets in Zaum gehalten worden von den Großmächten. Aus dieser Sicht sind die meisten Länder dieser Welt Halbkolonien, in denen eine oder mehrere der imperialistischen Großmächte allein oder gemeinsam die ökonomischen Grundlagen beherrschen. Sie stützen sich dabei auf Überreste der Feudalklasse und der Kompradorenbourgeoisie oder in ehemals sozialistischen Ländern auf zu „Oligarchen“ aufgestiegene ehemalige Kader zusammen mit wiederaufgetauchten Überresten der alten Klassen.
Ich halte es für falsch, leichtfertig den Begriff „imperialistisch“ auf Länder, die expansive Ziele verfolgen, anzuwenden, wie etwa die Türkei. Die Türkei ist meines Erachtens weiterhin eine Halbkolonie des Imperialismus unter gemeinsamer Vorherrschaft des US-, britischen und deutschen Imperialismus.
Frage: Was sind die Chancen und Risiken einer multipolaren Weltordnung?
Die „multipolare Weltordnung“ wird nicht nur von uns mit positiver Konnotation verwendet. Wir sollten uns aber im Klaren sein, dass dieser Begriff aus der bürgerlichen US-Politikwissenschaft des Kalten Kriegs stammt – auch wenn er von den Führungen in der VR China und der Russischen Föderation verwendet wird. Er „übergeht“ die Klassenfragen und die tatsächlichen Widersprüche zwischen den beteiligten Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung.
Das wird auch deutlich daran, wer sonst noch den Begriff Multipolarität verwendet:
An zentraler Stelle in der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ der BRD zum Beispiel heißt es: „Wir leben in einem Zeitalter wachsender Multipolarität.“ Im Vorwort stellt Scholz schlicht fest: „Neue Machtzentren entstehen, die Welt des 21. Jahrhunderts ist multipolar.“
Der Begriff wird auch bei der AfD verwendet. Auf dem Parteitag zur Europawahl sagte der Vorsitzende Tino Chrupalla: „Multipolarität bedeutet, nicht mehr eine einzige Weltmacht beherrscht die Welt, sondern mehrere gleichberechtigte Mächte setzen in ihren Regionen ihre Vorstellungen von Recht und Ordnung durch.“
Es geht also nicht darum, sich darüber zu freuen, dass der US-Imperialismus geschwächt wird, sondern darum, dass die Widersprüche im Imperialismus und zwischen den imperialistischen Staaten sich verschärfen und wie wir als deutsche Kommunisten dies nutzen können.
Die wirklichen Widersprüche in der Welt waren einmal in den Moskauer Beratungen von 1957 und 1960 so formuliert worden:
- Widersprüche zwischen dem sozialistischen (damals noch existenten) und dem imperialistischen Lager
- Widersprüche zwischen Proletariat und Bourgeoisie innerhalb der kapitalistischen Länder, insbesondere BRD
- Widersprüche zwischen unterjochten Nationen und Imperialismus
- Widersprüche zwischen den verschiedenen imperialistischen Staaten und Widersprüche zwischen den verschiedenen monopolkapitalistischen Gruppierungen.
Für unseren Kampf als Arbeiterklasse in einem imperialistischen Land ist es dabei wichtig, zu sehen:
- Das fortschrittliche, antiimperialistische Lager um die VR China soll nicht einem geschlossenen Block imperialistischer Mächte gegenüberstehen. Es sollen Möglichkeiten eigenständiger Entwicklung auf der Grundlage der Prinzipien der friedlichen Koexistenz geschaffen werden. Allerdings ist damit der Imperialismus in seinen ausbeuterischen Grundlagen bedroht und wird dadurch sogar aggressiver. Also: kein Frieden per se!
- Wenn der deutsche Imperialismus im Sinn von „Multipolarität“ in stärkere Konfrontation zu den anderen imperialistischen Mächten geht, muss er Zugeständnisse an die Arbeiteraristokratie machen – oder auf terroristischen Kurs gehen. Also: Auch nicht vorteilhaft per se!
- Wenn etwa der deutsche Imperialismus sich der VR China annähern würde, dann wäre das gut, weil dadurch der Sozialismus und sein Aufbau in China eine Atempause beziehungsweise zeitweilige Entspannung bekommt. Für uns bedeutet das: Die deutsche Bourgeoisie hat mit der VR ein Abkommen geschlossen, aber nicht mit der deutschen Arbeiterklasse. Das Joch der Ausbeutung bleibt. Also: Der Kampf geht weiter!
Summa: Durch Multipolarität alleine oder aktuell: durch Schwächung des US-Imperialismus alleine ist weder der Frieden noch der Fortschritt gesichert.
Entscheidend bleibt, dass die Arbeiterklasse Kraft gewinnt im Kampf gegen den eigenen Imperialismus, die eigenen Monopole, ihre Partei aufbaut, die Gewerkschaften stärkt in der Auseinandersetzung gegen den Sozialdemokratismus, gegen die Sozialpartnerschaft mit der Bourgeoisie.