Erinnerung an Dora Wentscher

Nach außen muss es wirken

Paul Sielaff

Dora Wentscher, geboren am 6. November 1883 in Berlin, war in vielen Berufen tätig. Sie war Schauspielerin, Bildhauerin, Malerin und Schriftstellerin. Nur schwer sind heutzutage Leben und Lebenswerk dieser Frau zu erschließen, die seit 1929 der KPD angehörte, die nach Prag und Moskau emigrieren musste und 1946 nach Deutschland zurückkehrte. In jenen späten Jahren, sie lebte dann in Weimar, erschien ein Großteil ihres literarischen Werkes.

Dora Wentscher stammt aus einer bürgerlichen Künstlerfamilie, und so mag es nicht ungewöhnlich erscheinen, dass sie sich für den Beruf einer Schauspielerin entschied. In dem weitgehend autobiographischen Roman „Barbara Velten“, der 1920 erschien, beschreibt sie diese Jahre, die sie auf die Bretter führten, die die Welt bedeuten.

„Ein geordnetes Auskommen, nein, das ist nichts für dich“, bemängelt Barbaras Mutter in dem Roman. Denn es waren nur Provinztheater, die von den stets reisenden Schauspielergruppen, zu denen Barbara gehörte, aufgesucht wurden. Doch Barbara, wie auch Dora, waren von dem Gedanken beseelt, vor einem Publikum zu wirken. „Nach außen muss es, Luft muss es sich schaffen.“ Aber das unstete Leben in immer wieder anderen Städten, der ausbleibende Erfolg, an große Bühnen gerufen zu werden, lassen die Schauspielerin verzweifeln. „Die Hände müssen es tun“, sagt Barbara schließlich. Ganz schlüssig ist diese geplante Veränderung, nun Bildhauerin zu werden, in dem Roman allerdings nicht dargestellt.

Dora WentscherTante Tina Novellen - Nach außen muss es wirken - DDR-Literatur, Dora Wentscher - Kultur
Dora Wentscher, „Tante Tina“

Die Faschisten kommen an die Macht, und über Prag gelangt Dora Wentscher 1935 nach Moskau. Als Kritikerin, Übersetzerin und Schriftstellerin ist sie fortan tätig. Nach der Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1946 lebt sie in Thüringen, verheiratet mit dem Schriftsteller Johannes Nohl. In kurzer Folge erscheinen nun einige ihrer Erzählungen im Thüringer Volksverlag, die den Faschismus und den Überfall auf die Sowjetunion zum Thema haben.

Was waren das für Menschen, die grausame Verbrechen begangen haben? Was waren das für Menschen, die sich ihnen in den Weg stellten? Auch diese Gedanken „mussten nach außen“ und wurden von Dora Wentscher in einigen Geschichten aufgegriffen.

In „Tante Tina“ schreibt die Autorin über die Hinrichtung der 61-jährigen Berliner Gasthausbesitzerin Tina Kerndl im Herbst 1937. „Die Tage von 1933, in blutiges Licht getaucht, standen aus der halben Vergessenheit wieder auf: Wehrlose überfallen und hinmachen, das konnten die Nazi. Nach vier Jahren fast ständiger Einzelhaft der Prozess. Der Mörder ist der Richter.“ In der Geschichte „Der Typ“ trifft eine Malerin in den Bergen auf einen „stattlichen Touristen“. Beim Betrachten eines Gipfels bekennt dieser: „Die großartigsten Momente des Lebens, wirklich, kommen einem da wieder hoch.“ Es ist eine Begebenheit aus dem Ersten Weltkrieg, die in ihm hochkommt, und zwar das Quälen und Töten von Gefangenen. Die Malerin überlegt, dass es sich immerhin „auf der Insel der Kunst“ unbekümmert leben ließe. Doch Jahre später muss sie feststellen, dass „die zweibeinigen Bestien“ wieder losgelassen werden.

Solch einer „Bestie“ begegnet der Leser auch in der Erzählung „Das Parallelepiped des Leutnants“. Dieser deutsche Leutnant lässt während des Zweiten Weltkriegs Einwohner eines sowjetischen Dorfes erschießen. Wie groß muss ein Massengrab ausgeschachtet werden, um alle Opfer aufnehmen zu können? Ein gruseliges Gedankenspiel dieses Leutnants folgt, in dem er die Maße für Länge, Breite und Tiefe schätzt.

Zu erinnern ist auch an das Lesedrama „Heinrich Kleist“. Es ist ein umfangreiches Werk, das mehrfach bearbeitet wurde und schließlich 1956 erscheint. Zuletzt veröffentlicht Dora Wentscher 1962 das Buch „Flößstelle Iskitim“, das den Untertitel „Sibirisches Tagebuch 1941/42“ trägt.

Am 3. September 1964 stirbt Dora Wentscher in Erfurt. Immerhin ist sie in das Lexikon „Schriftsteller der DDR“ (VEB Bibliographisches Institut Leipzig) aufgenommen worden. Sonst würden sich ihre Spuren irgendwann gänzlich verlieren.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Nach außen muss es wirken", UZ vom 17. November 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit