Arundhati Roys literarisches Mutterdenkmal „Meine Zuflucht und mein Sturm“

Ringen und wringen

Es sind Szenen wie diese, wegen denen man Arundhati Roy überall auf der Welt liest: „Als ich routinemäßig zur Mammographie ging, sagte der Arzt, als meine rechte Brust plattgedrückt zwischen den kalten Platten seiner Maschine feststeckte: ‚Ich fand ihr Buch „Kinder eines geringeren Gottes“ ziemlich langweilig.‘ Dann hielt er mir einen Vortrag, warum es notwendig war, Indien formell zu einer Hindu-Nation zu erklären und warum wir Atomwaffen brauchten.“ Arundhati Roy, im südindischen Kerala aufgewachsene Autorin keines Werks mit dem Titel „Kinder eines geringeren Gottes“, sondern des Romans „Der Gott der kleinen Dinge“ („The God of Small Things“, 1997), zieht ihre Schlüsse: „Die Welt war zu lächerlich, als dass ich zu lange zu traurig sein konnte.“

Wie schon im „Gott der kleinen Dinge“, findet sich in Roys neuem Buch, dem stark an der eigenen Vita entlang geschriebenen „Meine Zuflucht und mein Sturm“ (im Original: „Mother Mary Comes to Me“), alles mitsammen: das Traurige und das Lächerliche einer von Kasten und Klassen, religiösem Fanatismus und frauenverachtender Vergewaltigungskultur dominierten Gesellschaft – aber auch die Haltung, sich von alldem nicht unterbuttern zu lassen. Roy wringt das Groteske aus den Zuständen und ringt ihnen mehr ab als das blanke Entsetzen: „Meine Mutter wälzte die Last der Streitigkeiten und der täglich zu ertragenden Dosis Demütigung auf meinen Bruder und mich ab.“ Schlimm genug, Roy aber lässt es nicht dabei bewenden, sie sucht und findet ein literarisches Bild, das erst dadurch gelingt, indem es übereinandergepauscht und eigentlich zu viel ist, damit aber die emotionale Gemengelage widerspiegelt: „Es fühlte sich an, als hätte sie mich – meine Gestalt – mit einer scharfen Schere aus einem Bilderbuch ausgeschnitten und dann zerrissen.“

Der Tod der Mutter ist der Schreibanlass für Roy. „Mrs. Roy“, wie sie von ihrer Tochter und ihren Schülerinnen und Schülern genannt wurde, war eine feministische Matriarchin, die Arundhatis Bruder „für jeden kleinen Fehler oder jedes winzige Missgeschick ein chauvinistisches Schwein“ nannte, da war er „erst sechs oder sieben Jahre alt“. „Wie sie ihn behandelte, hat meine Ansichten zum Feminismus für immer unterlaufen und verkompliziert, sie mit Vorbehalten erfüllt.“ Mrs. Roy setzt vor Gericht durch, dass sie als Frau das Familienerbe antreten darf; sie gründet eine Schule und nimmt Opfer häuslicher Gewalt auf, ganz ohne Barmherzigkeit oder Mitleid, wie man es von einem Mitglied der syrisch-orthodoxen Gemeinde vielleicht erwarten mochte, sondern aus Selbstverständnis und mit strenger Hand gegenüber jenen, denen sie half. Sie organisierte Lesungen der Tochter, nur um die Veranstaltungen höchstselbst zu torpedieren.

Arundhati Roy geht mit 16 fort und bricht für Jahre den Kontakt zur Mutter ab. Auf das Architekturstudium folgt eine kurze Karriere als Schauspielerin und Drehbuchautorin. Internationale Bekanntheit erlangte sie – völlig zu Recht – ab 1997 mit „The God of Small Things“, für den man ihr den britischen Booker Prize verlieh. In Indien wurde sie wiederholt vor Gericht gezerrt und Hindunationalisten bringen ihre Gewaltfantasien über sie zum Ausdruck, auch weil Roy sich für den Schutz der muslimischen und anderen Minderheiten ausspricht. Selbst keine Kommunistin – als diese jedoch von Mal zu Mal verschrien –, begleitete sie die maoistischen Naxaliten bei ihrem Guerillakampf – „Walking with the Comrades“ („Wanderung mit den Genossen: Mit den Guerillas im Dschungel Zentralindiens“) erschien 2011. Es lässt sich schwer behaupten, Arundhati Roy knicke ein oder pflücke nur die am niedrigsten hängenden Früchte. Das Leben mit Mrs. Roy hat die Autorin darauf vorbereitet, nichts einfacher zu nehmen als es ist.

Auch wenn im Vergleich zum „Gott der kleinen Dinge“ Arundhati Roy bei „Meine Zuflucht und mein Sturm“ sparsamer mit sprachlichen Bildern gearbeitet ist und man diese vor allem gegen Ende schmerzlich vermisst, ist das Buch nicht nur eine indische Weltreise über eine Strecke von sechs Jahrzehnten. Sie ist auch der rare Versuch, eine Mutter-Tochter-Beziehung zu Papier zu bringen, ohne sie dabei zu plätten und ihr das Komplexe auszutreiben. Man muss das Buch lesen, alles andere wäre gar zu lächerlich.

Arundhati Roy
Meine Zuflucht und mein Sturm
Verlag S. Fischer, 368 Seiten, 26 Euro
Erhältlich unter uzshop.de

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Ringen und wringen", UZ vom 12. Dezember 2025



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol LKW.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit