Christiane Reymanns Rede am 2. August am Brandenburger Tor

Russland ist nicht unser Feind!

Christiane Reymann

„Gemeinsam für Frieden“, titelte die UZ am 15. August. Neben weiteren Aktivitäten der Friedensbewegung zählten wir darin auch eine Kundgebung am 2. August vor dem Brandenburger Tor auf. Sie fand mit mehr als 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern unter dem Motto „Weltfrieden – Für ein Leben in Frieden und Freiheit“ statt. Aufgerufen hatten das Berliner Bündnis „Wir sind viele“ und Gruppen aus dem Querdenken-Spektrum. Zu den Rednerinnen und Rednern gehörte auch die Journalistin Christiane Reymann, die sich unter anderem treffend zur „Bedrohungslüge“ durch Russland äußerte. Wir dokumentieren im Folgenden ihre Rede. Mitglieder der Berliner Friedenskoordination sammelten auf der Kundgebung Unterschriften unter den Berliner Appell. Zu den Teilnehmern gehörte auch Alexander King vom Berliner BSW. Er schrieb einen Offenen Brief an seine Gewerkschaft ver.di, die zu Protesten gegen die Kundgebung aufgerufen hatte, der hier nachgelesen werden kann.

Es macht im Moment eine Redewendung die Runde: Wir schlaftaumeln in den dritten Weltkrieg. Aber wir schlaftaumeln überhaupt nicht. Alles ist doch völlig offensichtlich. Alles liegt klar auf dem Tisch.

Die NATO hat einen „Ernstfallplan“ für Kaliningrad erstellt. Die Exklave Kaliningrad soll abgeschottet werden. Dabei kommen mir in letzter Zeit öfter historische Parallelen in den Kopf. Ich denke an Leningrad. Leningrader Blockade. Hitler 1941 – Hitler hat von St. Petersburg gesprochen –: „Das Giftnest Petersburg, aus dem so viele Jahre asiatisches Gift in die Ostsee quoll, muss endgültig verschwinden.“ Sein Befehl: Einkesseln, Bombardieren, Aushungern! Über eine Million Menschen sind in Leningrad verhungert. Daran muss man sich doch erinnern!

Eine solche Parallele heißt nicht: Wir hätten heute Faschismus. Nein, wir haben heute keinen Faschismus in Deutschland. Aber als deutscher Politiker und auch als deutsche Bürgerin gibt es doch unsere Geschichte, die man im Hinterkopf hat. Und da gibt es Gedanken, die man sich verbietet. Die gehen überhaupt nicht.

Noch vier Sommer – Eine kurze Frist

Schlafwandeln? Nein, wir schlafwandeln nicht. Das Datum wird ja schon von unserem Kriegsminister genannt: Deutschland ist nicht vor 2029 kriegstüchtig. Das heißt: Danach kann es losgehen. Das sind vier Jahre. Vier Sommer noch. Vier Weihnachten in Frieden. Das ist eine kurze Frist.

Und schon wieder kommt mir eine Analogie in den Sinn: Hitlers Vierjahresplan, um die deutsche Wirtschaft und deutsche Gesellschaft „kriegstüchtig“ zu machen, wie es damals hieß. Kriegstüchtig. 1936 beschlossen, sollte Deutschland in vier Jahren kriegstüchtig sein. Etwas vorfristig begannen der Überfall auf Polen und der Zweite Weltkrieg. 1941 dann der ganz große Krieg, Plan Barbarossa, Krieg gegen die Sowjetunion. So etwas darf sich nie, niemals wiederholen.

Das Geld für die deutsche Kriegsfähigkeit nehmen sie von den Renten, von Kultur und Bildung, es fehlt den Städten und Gemeinden. Sie können sich nicht zu liebens- und lebenswerten Orten entwickeln. Dieses Wegnehmen hat System. Denn Menschen, die satt und zufrieden sind, die sind für den Krieg nicht zu haben. Dafür sind Menschen, die verängstigt sind und verarmen, viel besser geeignet.

Wir wollen den Menschen Mut machen, Mut zum Widerstand. Auch das ist unser Beitrag gegen die deutsche Kriegsfähigkeit. Zunächst aber wird die Bevölkerung noch mental zugerichtet. Denn wer kriegsfähig sein will, der muss erst einmal Menschen dazu bringen, andere Menschen töten zu können und töten zu wollen. Die erste Maßgabe für eine Kriegsfähigkeit ist eine Brutalisierung der Gesellschaft, eine Enthumanisierung der Gesellschaft, eine Gesellschaft ohne Mitgefühl. Das machen wir nicht mit. Wir wollen keine Monster ohne Mitgefühl sein.

Wenn wir über Frieden reden, müssen wir über Russland reden. Denn ausgerechnet Russland soll ja unser Feind sein. Aber was hat uns Russland angetan?

Was soll „der Russe“ in Berlin?

Deutschland hat Russland in den letzten 200 Jahren dreimal überfallen, Russland uns kein einziges Mal. Was soll Russland von Deutschland eigentlich wollen? Russland ist das größte Land der Erde. Russland hat alles. Sie haben Gas, sie haben Kohlen, Erdöl, sie haben Gold und Diamanten. Was sollen sie in Deutschland finden? Warum sollen sie herkommen? Um marode Brücken zu besichtigen? Um sich ein Bahnsystem anzutun, das völlig kaputt gespart ist? Um niedergehende Industrie anzugucken? Das macht überhaupt keinen Sinn.

Uns die Westausdehnung Russlands weiszumachen, macht nur Sinn für diejenigen, die uns auf Krieg vorbereiten wollen. Diesen Unsinn lehnen wir komplett ab. Und wir können ihn widerlegen. Man kann die russische Politik kritisieren. Man kann den Ukraine-Krieg für falsch halten. Aber Feindschaft mit Russland ist eine andere Nummer.

Russland wird immer unser europäischer Nachbar sein. Wir können das Land nicht einfach ins Meer kippen. Das geht nicht. Wir sagen von hier aus: Russland ist nicht unser Feind! Wir wollen gute Nachbarn sein.

Die Menschen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und in Russland hätten allen Grund, Deutschland und Deutsche über Generationen zu verachten. Ich erinnere an den Hungerplan, den die deutsche Wehrmachtsführung schon vor dem Überfall auf die Sowjetunion aufgestellt hat. Demnach sollten 30 Millionen Menschen nach dem Überfall Hungers sterben. Das war geplant. Deutsche haben Russen und die Völker der Sowjetunion als slawische Untermenschen bezeichnet, als jüdische Bolschewisten. Dort, wo der Fuß deutscher Soldaten oder der SS hintrat, haben sie Häuser und Fabriken in Schutt und Asche gelegt, haben sie gemordet, Frauen vergewaltigt, da wurde Vieh erschossen, da wurden Ernten vernichtet, da herrschte reinste Brutalität. Selbst auf ihrem Rückzug, als die deutsche Wehrmacht geschlagen zurückzog, hat sie noch den Befehl erfüllt, nur verbrannte Erde zu hinterlassen.

Wir haben verziehen, nicht vergessen

Über diesen Teil der Geschichte hat neulich Maria Sacharowa, sie ist Sprecherin des russischen Außenministeriums, nachgedacht. Ich möchte das vorlesen, was sie gesagt hat. Maria Sacharowa: „Wir haben historisch alles Mögliche getan, damit sich das Verhältnis zu einem friedlichen und wohlhabenden Deutschland auf der Grundlage gegenseitigen Respekts entwickelt. Wir haben das verziehen, was weder ein Mensch noch ein Volk verzeihen kann.

Wir haben dutzende Millionen Tote verziehen. Wir haben niedergebrannte Städte und Dörfer sowie vernichtete Museen verziehen. Wir haben verziehen, dass sie uns nicht nur als Menschen zweiter Klasse behandelt haben, sondern als jene, die kein Recht auf Leben haben. Wir haben alles verziehen (…) Wir haben nicht vergessen, aber verziehen und erneut die Hand im Zeichen der Freundschaft, gegenseitigen Respekts und Zusammenarbeit ausgestreckt.“

Und sie fragt: „Was haben wir erhalten?“ Ihre Antwort: „Wir haben das Allerschlimmste erhalten.“ Deutschland sei von völliger Amnesie, das heißt: Geschichtsvergessenheit, gegenüber den eigenen Fehlern, völliger Amnesie in Bezug auf seine jüngere Geschichte befallen. Soweit Maria Sacharowa.

Diese bittere Wahrheit trifft auf die tonangebenden Eliten in Deutschland zu. Wir aber, wir wollen Versöhnung mit Russland. Wir wollen Wahrheit, denn die geht der Versöhnung voraus. Wir wollen genau hinschauen, auch wenn es wehtut. Wir wollen nichts vergessen und niemanden vergessen.

Ich möchte noch kurz einen Blick werfen auf die westlichen Krieger und den Krieg in der Ukraine. Die Menschen dort sind den westlichen Kriegern genauso egal, wie wir ihnen egal sind. Unser Glück haben die ja auch nicht auf dem Zettel. Wir sind denen völlig gleichgültig. Sie benutzen vielmehr den Krieg in der Ukraine für ihre Interessen, für ihre Vormachtstellung in der Welt, denn die bröckelt. Sie bröckelt, weil ehemals abhängige, unterdrückte, koloniale Länder aufstehen. Sie wollen sich vom Dollarimperialismus lösen, sie wollen ihren eigenen Weg gehen.

Krieg gegen eine neue Weltordnung

Das Inbild dafür sind die BRICS geworden, der Verbund von Ländern des globalen Südens, immer noch ein relativ lockerer Verbund. Ich denke, dass der NATO-Stellvertreterkrieg gegen Russland auch ein Krieg gegen diese andere Möglichkeit ist, die Welt zu ordnen. Eine Welt ohne Krieg, in der wir von Gleichen zu Gleichen überall leben und verhandeln. Wir alle sind Gleiche, ob als Menschen oder als Staaten.

Ich denke auch, dass der Krieg gegen den Iran – der Iran ist BRICS-Mitglied – ein Krieg gegen die BRICS war. Auch die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens – heute sprechen wir von Westasien – im Interesse der USA und Israels, die jetzt geschieht, soll die Idee der Gleichheit schwächen.

Dieser Krieg wird in verschiedenen Teilen der Welt und mit den modernsten Mitteln der Militärtechnik und Information geführt, aber seinem Inhalt nach ist es ein Krieg um die uralte Vorherrschaft, die uralte Suprematie des Westens gegenüber anderen. Er führt uns zurück in ein dumpfes, blutiges Zeitalter, von dem wir doch meinten, dass wir es in einem neuen Jahrtausend hinter uns gelassen hätten. Die wesentlichen Kräfte, die sich dagegen auflehnen, sind im globalen Süden. Dessen Stärke ist das antikoloniale Gedächtnis: Die Länder des globalen Südens wollen unter sich keine Sklaven sehen und über sich keine Herrn.

Wir können uns an ihre Seite stellen. Wir sind nicht allein. Aber wir können unsere Hoffnung nicht auf sie delegieren. Wir selbst müssen unsere Hoffnung sein. Und das schaffen wir auch. Denn wir gehen den aufrechten Gang. Und wir gehen Hand in Hand mit allen Menschen, die Frieden, die endlich Frieden wollen auf dieser Welt. So können wir den kollektiven Selbstmord verhindern und das Leben feiern! Das Leben feiern für alle Menschen in der Welt: Für Russland, für die Ukraine, für die USA, für Brasilien, China, unser Land nicht zu vergessen, für Deutschland, und vor allem aktuell, uns alle so bedrängend und bedrückend, auch für ein Leben, für ein Überleben und ein Leben in Würde in Gaza.

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