Vor 50 Jahren mussten die US-Truppen und ihre Marionetten aus Vietnam fliehen. Die Welt jubelte, der Krieg war vorbei • Von Katja Schnitter

Saigon ist frei

Es ist eines der berühmtesten Fotos des 20. Jahrhunderts: Am Abend des 29. April 1975 startet der letzte Hubschrauber vom Dach der US-Botschaft in Saigon. Unzählige Menschen, Kollaborateure der nordamerikanischen Armee und von Washingtons Marionettenregime in Südvietnam, versuchen in letzter Minute zu fliehen. Nur Stunden später, am 30. April 1975, ziehen die Soldaten der Nationalen Befreiungsfront in Saigon ein. Auch das eine der legendären Aufnahmen jener Stunden: Ein Panzer der Volksarmee walzt das Tor zum Präsidentenpalast nieder, auf dem Balkon wird die rot-blaue Fahne mit dem gelben Stern gehisst. Der Vietnamkrieg ist zu Ende. Weltweit jubeln die Menschen, in Berlin singt der Oktoberklub: „Alle auf die Straße, rot ist der Mai – alle auf die Straße, Saigon ist frei!“

117 Jahre Befreiungskampf

Gegenüber ausländischen Journalisten erinnert General Tran Văn Trà, der die Saigon befreienden Truppen befehligt hatte, wenige Tage später daran, dass der Kampf um die nun endlich erreichte Unabhängigkeit Vietnam insgesamt mehr als 117 Jahre gedauert habe. 1858 hatten französische Truppen Indochina – das Gebiet des heutigen Vietnam, Laos und Kambodscha – okkupiert und unter ihre Kolonialherrschaft gezwungen. Sie hielten das Land besetzt und plünderten es aus, bis im Zweiten Weltkrieg das japanische Kaiserreich die Region unter seine Herrschaft zwang. Der Widerstand hielt an. 1941 wurde die „Liga für die Unabhängigkeit Vietnams“ (Viet Minh) gegründet, die gegen die japanischen Besatzer und die mit den Japanern kollaborierende französische Kolonialmacht kämpfte. Am 2. September 1945 proklamierte Ho Chi Minh in Hanoi die Unabhängigkeit des Landes und rief die Demokratische Republik Vietnam (DRV) aus. Am 6. Januar 1946 fanden die ersten Wahlen zur Nationalversammlung statt, die von der Viet Minh klar gewonnen wurde. Ho Chi Minh wurde der Präsident der DRV und blieb dies bis zu seinem Tod am 2. September 1969. Der 1890 in einem kleinen Dorf in Zentralvietnam als Nguyen Sinh Cung geborene Ho Chi Minh hatte 1930 in Hongkong zu den Gründern der Kommunistischen Partei Indochinas gehört, aus der später die KP Vietnams hervorging, und ist bis heute die zentrale Identifikationsfigur für Vietnam und seine Geschichte.

Doch die Proklamation der Demokratischen Republik Vietnam war nur ein Schritt zur Befreiung des Volkes. Paris war entschlossen, sein Kolonialreich zu erhalten und zurückzugewinnen. Mit britischer Unterstützung kehrte die französische Kolonialmacht ab 1945 zurück, besetzte den Süden Vietnams und versuchte, auch den Norden wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Dagegen wehrte sich die Volksarmee. Der Indochinakrieg dauerte bis zum entscheidenden Sieg der Freiheitskämpfer bei Dien Bien Phu, Frankreich musste gegenüber den Vietnamesen kapitulieren. Bei einer Friedenskonferenz in Genf musste Paris seine Ansprüche aufgeben. Laos und Kambodscha erhielten ihre staatliche Unabhängigkeit, Vietnam wurde zwischen dem von den Viet Minh regierten Norden und dem von Kaiser Bao Dai kontrollierten Süden aufgeteilt. Die Aufteilung sollte nur für maximal zwei Jahre gelten, spätestens 1956 sollten die Vietnamesen frei über ihre Zukunft entscheiden können.

Doch dazu kam es nicht. Mit Unterstützung der USA putschte sich im Oktober 1955 Ngo Dinh Diem an die Macht und rief die „Republik Vietnam“ aus, deren Präsidentschaft er selbst übernahm. Es ging in erster Linie darum, die geplanten freien Wahlen zu verhindern, da diese mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem Sieg der Viet Minh und der Kommunisten ausgegangen wären. Washington befürchtete, dass in der Folge der gesamte Südosten Asiens „rot“ werden würde. Da stellte man sich lieber auf die Seite eines bis in die Knochen korrupten Marionettenregimes, das vollkommen von den Geldzahlungen Washingtons abhängig war. Die USA finanzierten das Regime in Saigon, bis zu 70 Prozent des Staatshaushaltes wurden von ihnen gedeckt. Diem errichtete eine brutale Terrorherrschaft. Zehntausende Menschen wurden inhaftiert oder ermordet. Darüber hinaus kontrollierte das Regime den Opiumhandel. Jeder Widerstand wurde grausam unterdrückt, doch das konnte das Erstarken der Nationalen Befreiungsfront nicht verhindern.

Kriegslügen

Als das südvietnamesische Regime immer stärker unter Druck geriet, inszenierte Washington im August 1964 den sogenannten Tonkin-Zwischenfall. Angeblich hätten nordvietnamesische Schnellboote mehrfach und ohne Grund zwei US-Kriegsschiffe angegriffen, hieß es. Tatsächlich hat es diese Attacken nie gegeben – die USA hatten lediglich einen Vorwand gebraucht, um direkt in Vietnam zu intervenieren. US-Präsident Lyndon Johnson gab der Luftwaffe Befehl, Häfen und Luftabwehrstellungen in Nordvietnam zu bombardieren.

Die USA ließen den Krieg in den folgenden Jahren immer weiter eskalieren. Über Nordvietnam wurden mehr Bomben abgeworfen als während des gesamten Zweiten Weltkriegs über Europa. Das erklärte Ziel war, das Land in die Steinzeit zurückzuwerfen. Doch Vietnam war nicht alleine. Die So­wjet­union und die Volksrepublik China stellten sich solidarisch an die Seite des angegriffenen Volkes und halfen mit Geld, Waffen und anderen Formen der Unterstützung. Kubas Präsident Fidel Castro besuchte 1973 trotz der laufenden Angriffe der US-Truppen das von der Befreiungsfront kontrollierte Gebiet in Südvietnam und eröffnete dort demonstrativ eine Botschaft seines Landes. Weltweit gingen Millionen Menschen gegen den Krieg der USA auf die Straße, auch in den USA selbst wurde der Protest gegen die Aggression zu einer Massenbewegung.

Rot ist der Mai

Doch erst 1973 unterzeichnete Washington ein Waffenstillstandsabkommen mit Nordvietnam und zog alle seine Truppen aus dem Süden ab. Im Gegenzug ließ die Demokratische Republik Vietnam alle nordamerikanischen Kriegsgefangenen frei. Ohne die US-Armee an ihrer Seite hatte das südvietnamesische Regime der Befreiungsfront nichts mehr entgegenzusetzen. Als sich im Verlauf einer Ende 1974 begonnenen Offensive der Freiheitskämpfer zeigte, dass sie nicht mehr aufzuhalten war, entschied man sich zum Vormarsch auf die Hauptstadt Saigon. Am Vorabend des 1. Mai 1975 war der Krieg beendet, Vietnam war frei. Ein Jahr später vereinigten sich der Norden und der Süden zur Sozialistischen Republik Vietnam mit der Hauptstadt Hanoi, Saigon erhielt den Namen Ho-Chi-Minh-Stadt.

Die Freiheit war teuer erkauft. Das Land war zerstört, bis zu drei Millionen Vietnamesinnen und Vietnamesen starben im Krieg. Das von den USA als Entlaubungsmittel eingesetzte Giftgas Agent Orange forderte noch bis weit nach Kriegsende mehr als eine Million vietnamesische Opfer, noch Generationen später brachten Mütter als Folge der Vergiftungen behinderte Kinder zur Welt. Auf Seiten der USA und ihrer Verbündeten wurden mehr als 60.000 Soldaten getötet.

„Generationen von Vietnamesen werden für immer an die großen Opfer derjenigen erinnern, die ihr Blut und ihr Leben für das Überleben und die Entwicklung der Nation geopfert haben“, sagte Anfang April 2025 der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Vietnams, To Lam, bei einem Treffen mit Kriegsveteranen. Der Sieg im Frühjahr 1975 sei nicht nur für das vietnamesische Volk von historischer Bedeutung, sondern habe auch Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt ermutigt und gestärkt.

Entwicklung mit Widersprüchen

Die Zeitung der Vietnamesischen Volksarmee, „Quan Doi Nhan Dan“, schrieb am 17. April in einem Leitartikel: „Mit Stolz auf die glorreiche Geschichte und Respekt für die Opfer früherer Generationen verfolgt die heutige junge Generation Vietnams eine große Mission: Sie tritt in die Fußstapfen ihrer Vorfahren und baut das Land zu einem immer reicheren, zivilisierteren Land auf, das auf Augenhöhe mit den Weltmächten steht.“ Doch das geht nicht ohne Widersprüche ab. Man müsse sich noch immer vielen Schwierigkeiten und Herausforderungen stellen, räumte Vietnams Staatspräsident Luong Cuong in einem Mitte April von den staatlichen vietnamesischen Medien veröffentlichten Artikel ein: „Es treten neue komplizierte Probleme auf, insbesondere Einschränkungen, Schwächen und Konflikte in der Gesellschaft, die noch nicht vollständig gelöst sind. Feindliche Kräfte haben ihre Sabotageakte verstärkt, die Führungsrolle der Partei geleugnet und die Streitkräfte ‚entpolitisiert‘. Diese Situation erfordert die Aufrechterhaltung und Stärkung der absoluten, direkten Führung der Partei in allen Bereichen, die zentralisierte, einheitliche Leitung und Verwaltung der Volksarmee durch den Staat und die Sache der Landesverteidigung, der Sicherheit und des Schutzes des Vaterlandes, die im Prozess der Entwicklung, des Wachstums, des Kampfes und des Sieges der Volksarmee noch dringlicher und entscheidender wird.“

Angesichts der auch aus der Sicht Hanois immer schwerer einzuschätzenden Politik der USA sucht man inzwischen wieder die Annäherung an China. Das Verhältnis zwischen den beiden sozialistischen Staaten war immer wieder von Spannungen und sogar bewaffnet ausgetragenen Konflikten geprägt. Trotzdem demonstrierten beide Länder beim Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Hanoi Mitte April ihre Verbundenheit. Offizieller Anlass war der 75. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern. Vietnam hatte 1950 als erstes Land Südostasiens diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China aufgenommen, während Peking als erstes Land der Welt offiziell die damalige Demokratische Republik Vietnam anerkannt hatte.

In einer gemeinsamen Erklärung aus Anlass des Besuchs bekräftigten die Regierungen beider Länder, eine umfassende strategische Kooperationspartnerschaft aufbauen zu wollen: „Beide Seiten sind überzeugt, dass Vietnam und China geografisch benachbart und kulturell eng verbunden sind, enge zwischenmenschliche Bindungen, ähnliche Regime und ein miteinander verbundenes Schicksal haben. Sie sind gute Nachbarn, gute Freunde, gute Kameraden und gute Partner. Beide sind sozialistische Länder unter Führung der Kommunistischen Partei und streben beide nach dem Glück des Volkes und dem Wohlstand des Landes sowie nach der edlen Sache des Friedens und des Fortschritts der Menschheit. (…) Ganz gleich, wie sich die Weltlage verändert, beide Seiten kämpfen stets Seite an Seite, unterstützen sich gegenseitig im Kampf um nationale Unabhängigkeit und Befreiung, lernen stets voneinander und schreiten gemeinsam voran auf der Suche nach einem der jeweiligen Situation des Landes angemessenen sozialistischen Weg und einer Modernisierung mit den einzigartigen Merkmalen jedes Landes. Die Partei, der Staat und das Volk Vietnams wissen die starke Unterstützung und große Hilfe der Partei, des Staates und des Volkes Chinas stets zu schätzen. Beide Seiten stimmten darin überein, dass die traditionelle Freundschaft, die von Präsident Ho Chi Minh, dem Vorsitzenden Mao Zedong und früheren Führern persönlich aufgebaut und sorgfältig gepflegt wurden, immer stärker wird und ein wertvolles Gut der Menschen beider Länder darstellt, das gut weitergegeben, gut geschützt und gut gefördert werden muss.“

In einem Glückwunschschreiben, das der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele und die Internationale Sekretärin Renate Koppe im Januar aus Anlass des 95. Jahrestages der Gründung der KP Vietnams an die Genossinnen und Genossen in Hanoi geschickt hatten, bekräftigten auch sie: „Die Solidarität mit dem vietnamesischen Volk und seiner Kommunistischen Partei ist für die deutschen Kommunisten immer ein wichtiger Teil der internationalen Solidarität gewesen, vor dem Sieg gegen den US-Imperialismus und danach. Für viele unserer Genossinnen und Genossen war die Unterstützung des Kampfes Vietnams prägend für ihre politische Entwicklung.

Auch heute ist die Solidarität mit Vietnam ein wichtiges Anliegen unserer Partei, und wir sind fest davon überzeugt, dass die Kommunistische Partei Vietnams ihre für die nächsten Jahrzehnte gesetzten Ziele zum Aufbau eines prosperierenden sozialistischen Landes erreichen wird.“

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"Saigon ist frei", UZ vom 25. April 2025



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