In Buke, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Paderborn, trug sich im Jahr 1794 ein bemerkenswerter Kriminalfall zu. Zwei Bürger, ein Vater und sein Sohn, hatten ein Schwein gestohlen und sich anschließend aus dem Staub gemacht. Kurz darauf erhielt die Frau des Vaters Besuch; sie war im baufälligen Haus der armen Familie zurückgeblieben. Die Frau sollte ein Angebot übermitteln: Die Gemeinde stellte den beiden Schweinedieben Straflosigkeit in Aussicht, bot sogar Unterstützung bei der Reparatur des Hauses, Unterhaltszahlungen für die kleineren Kinder und ein stattliches Handgeld an, wenn die Gesuchten nur zurückkehren und sich „freiwillig“ für den Militärdienst melden würden, um in den Krieg gegen das revolutionäre Frankreich zu ziehen. Das Angebot ließ die Familie unbeeindruckt. Vater und Sohn blieben verschwunden.
Das Hochstift Paderborn hatte ein Problem, das schon vor dem Koalitionskrieg gegen die Französische Republik aufgetreten war. Es war trotz aller Werbeversuche unmöglich, das vom Reich geforderte Truppenkontingent zu stellen. Auf eine gewaltsame Aushebung von Soldaten wollte man es nicht ankommen lassen. Zu groß war der Unmut in der Bevölkerung, zu schwierig die Auswahl der potenziellen Soldaten. Denn einfach alle Landarbeiter einzuziehen, war keine Option: Der Schaden für die Landwirtschaft und das Steueraufkommen wäre zu groß gewesen.
Schon 50 Jahre zuvor hatte man Erfahrungen gesammelt, als man Werbeoffiziere mit einem Kriterienkatalog auf den Weg schickte. Dazu gehörten körperliche Merkmale: Die „freiwillig“ Angeworbenen sollten mindestens vier Zoll größer als eine Regimentsflinte und zwischen 18 und 40 Jahre alt sein. Da es aber mit der Freiwilligkeit nicht weit her war, wurden die Offiziere kreativ. So wird von einem Maurer berichtet, der am Dom in Paderborn arbeitete und sich unvorsichtigerweise über sein karges Dasein beschwert hatte: Im Vergleich zu ihm würden Soldaten doch ein angenehmes Leben führen, scherzte er. Soldat müsste man sein? Ein schlechter Witz, wie der Mann erkennen musste, als man ihn ob seiner Aussagen als „Freiwilligen“ identifizierte, nachts aus dem Bett holte und in eine Uniform steckte.
Doch alle Tricks halfen nicht: Das Hochstift musste zwangsrekrutieren und griff – hier sollten wir hellhörig werden – zu einem Losverfahren. Mit Gewalt sollten „schlechte, unnütze und dem Lande schädliche Leute“ ausgehoben werden. Ihre Namen wurden in sogenannten Conscriptionstabellen gesammelt und schließlich in einen Topf geworfen. Im Beisein von offiziellen Beobachtern wurden zwei Waisenkinder damit beauftragt, so viele Namen zu ziehen, wie Soldaten gebraucht wurden. Das geschah in aller Heimlichkeit, damit sich die potenziellen Kugelfänger nicht vorzeitig vom Acker machten.
Heute wird bei der Frage, wer in den Krieg ziehen und dafür ausgebildet werden soll, gerne von „Wehrgerechtigkeit“ gesprochen. Eine moralisch verbrämte Umschreibung des gleichen materiellen Problems: Einerseits müssen die Herrschenden Soldaten für die militärische Durchsetzung von Machtansprüchen, ökonomischen Interessen oder eben zur Niederschlagung revolutionärer Erhebungen rekrutieren. Andererseits müssen die dafür notwendigen Kapazitäten geschaffen werden, genügend Arbeitskräfte an der Heimatfront verbleiben und muss der Unmut der Bevölkerung gehändelt werden.
„Nur die Dummen“
Mit diesen Schwierigkeiten hatte auch die Bundeswehr seit Einführung der Wehrpflicht im Jahr 1956 zu kämpfen. Gelöst wurden sie nie. Die Grundidee, ganze Jahrgänge von 18-Jährigen in den Kriegsdienst zu ziehen, erwies sich schon früh als nicht praktikabel. Selbst zu den Zeiten, in denen die westdeutsche Armee aus 500.000 Soldaten bestand, gab es mehr 18-jährige Männer als gebraucht wurden und entbehrlich waren. Konrad Adenauer (CDU) wollte deshalb eine „Allgemeine Dienstpflicht“ für Männer und Frauen innerhalb und außerhalb des Militärs einführen. Dadurch hätte die Bundeswehr sich ihre Rekruten aussuchen können, während der Rest in der zivilen Arbeitspflicht gelandet wäre. Einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgen derzeit die Grünen, die ein verpflichtendes „Gesellschaftsjahr“ fordern. Dadurch solle die „Gesamtverteidigung“ gestärkt werden. Die Adenauer-Regierung hatte ihre Dienstpflicht mit dem erwarteten „Großnotstand“ begründet, der nach dem Austausch von Atomschlägen eintreten würde. Beauftragte Verfassungsrechtler winkten jedoch ab: Die Idee sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.
Also Plan B: Die Bundeswehr begann eine Kombination aus Lotterie und Auswahlwehrpflicht. Im Stillen ließ die Bundesregierung auslosen (allerdings ohne Waisenkinder), wer zum Bund musste. Nur 30 bis 40 Prozent aller Wehrdienstpflichtigen wurden eingezogen. Der Rest – wie es der Zufall will, vor allem Akademiker – wurde „vergessen“. Gegenüber dem „Spiegel“ erklärte ein hochrangiger Vertreter des Verteidigungsministeriums im Jahr 1968, dass „nur die Dummen“ Dienst leisten mussten. Drei Jahre zuvor hatte die Bundesregierung ihr Lotteriesystem, dessen Ungerechtigkeit sich der Öffentlichkeit nicht mehr verschweigen ließ, aufgegeben. Beibehalten wurde ein Vorrang der Ausbildung: Wer gleich nach dem Abitur ins Studium wechselte, hatte die besten Chancen, nicht eingezogen zu werden.
Auch Willy Brandt (SPD) widmete sich der „Wehrgerechtigkeit“. Mit einer Verkürzung des Grundwehrdienstes wollte seine Regierung dafür sorgen, dass mehr Rekruten in kürzerer Zeit eine militärische Ausbildung durchlaufen konnten. Zugleich wurde der Zivildienst als bundesweite Institution ausgebaut. Ziel war der Kampf gegen „Drückeberger“ – eine propagandistische Phrase. Der Zivildienst vermochte es nicht, die Zahl der Kriegsdienstverweigerungen zu senken. Auf der anderen Seite standen den wenigen zehntausend Kriegsdienstverweigerern Anfang der 70er Jahre hunderttausende Wehrpflichtige gegenüber, die nicht eingezogen werden konnten oder sollten.
Es war dann auch die mangelnde „Wehrgerechtigkeit“, die sehr viel später im Jahr 2011 angeführt wurde, als die Wehrpflicht ausgesetzt wurde. Die Dauer des Kriegsdienstes war zu diesem Zeitpunkt bereits auf sechs Monate reduziert worden.
Alle im Krieg
Während die Bundesrepublik heute für den großen Krieg rüstet, wird erneut darüber diskutiert, wie die Zwangsrekrutierung von zehntausenden jungen Männern bewerkstelligt werden kann. Erneut versteckt sich hinter der geforderten „Gerechtigkeit“ nicht die Forderung nach einem wie auch immer gearteten Ausgleich für diejenigen, die entgegen ihren ureigenen Interessen und unter Einsatz ihres Lebens in einen imperialistischen Krieg gezogen werden sollen. Der Ausgleich findet statt zwischen den Bedürfnissen des Militärs und den Interessen der Konzerne. Er soll dabei helfen, die Heimatfront geschlossen zu halten und Unmut zu unterdrücken. All das soll bestenfalls in einer Form passieren, die nicht so offensichtlich verfassungswidrig ist, dass jeder dahergelaufene Schütze Arsch am Ende noch einen juristischen Erfolg erringen kann.
Kriegsminister Boris Pistorius (SPD) will Fragebögen einführen, um diesen Ausgleich zu erzielen. Unverhohlen sprach er im vergangenen Jahr noch von einem Auswahl-Wehrdienst. Von den 400.000 potenziellen Rekruten pro Jahrgang sollten 40.000 bis 50.000 übrigbleiben. „Es sollen diejenigen für den Wehrdienst ausgewählt werden, die am fittesten, am geeignetsten und am motiviertesten sind“, so Pistorius.
Mit „Gerechtigkeit“ für die Wehrdienstleistenden und die, an denen der Kelch vorübergeht, haben die seitdem diskutierten Auswahlverfahren nichts zu tun. Auch deshalb wirken Ideen wie die Wehrdienstlotterie befremdlich, geradezu grotesk auf diejenigen, mit deren Leben gespielt wird. Zugleich umgibt gerade das Losverfahren eine mystisch-popkulturelle Aura: irgendwo zwischen Gottesurteil und „Hungerspielen“ entscheidet sich das Schicksal einer Generation.
Doch die Debatte darüber ist nicht mehr als ein zynisches Geplänkel, reserviert für die Vorkriegszeit. Der Kern des aktuellen Streits betrifft die Musterung: Pistorius will alle jungen Männer mustern lassen und so ihre Daten für eine mögliche Massenmobilisierung sammeln. Einige Vorschläge in der Losdebatte sehen eine begrenzte Musterung und dafür eine schnellere Verpflichtung der Ausgelosten vor. Mittelfristig dürfte den jungen Menschen egal sein, welches Modell zum Tragen kommt. Das erklärte Ziel ist es, Zeit für den Ausbau von Kasernen und Verwaltungsinfrastruktur zu gewinnen, um von Jahr zu Jahr mehr Menschen in den Kriegsdienst zwingen zu können.
Was aus der „Wehrgerechtigkeit“ wird, wenn der Feldzug erstmal begonnen ist, kann derzeit in der Ukraine beobachtet werden. Wo Schlägertrupps die Straßen unsicher machen und unfreiwillige Rekruten in Busse zerren, nützt auch das Wedeln mit der höheren Losnummer nichts mehr. Dass dieses Szenario längst eingeplant ist, machte André Wüstner, der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, in der vergangenen Woche in der Sendung „Maybrit Illner“ deutlich: „Wenn wir in den Verteidigungsfall geraten, dann reden wir nicht über eine Lotterie. Dann wird hier jeder eingezogen, der verfügbar ist.“ Auch schon vorher, im „Spannungsfall“, würde man über „ganz andere Zahlen“ reden.